Magazinrundschau

Superschnelle Gewaltprosa

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.10.2009. In Open Democracy erinnert Alexander Podrabinek die Sowjets an die wahren Helden Russlands: die Antisowjets. Im Espresso erinnert Umberto Eco Berlusconi daran, dass es auch rechte Intellektuelle gibt. Die New York Review of Books feiert James Ellroy. Der Guardian liest einen Comic über Bertrand Russells "Principia Mathematica". In ADN cultura beschreibt Juan Villoro ein ganz neues altes Lesegefühl. Vanity Fair berichtet von der Front in Rupert Murdochs Krieg gegen das Netz. Newsweek sieht die Zukunft des Journalismus: sie ist hyperlokal. Thomas Jefferson hätte das Google Book Settlement nicht unterschrieben, ahnt Lewis Hyde in der New York Times.

Open Democracy (UK), 02.10.2009

Ein Moskauer Restaurant musste seinen Namen ändern. Es lag gegenüber dem Sowjetskaja Hotel und bezeichnete sich darum als "antisowjetisches Schaschlik-Cafe". Dagegen protestierten Veteranen des Großen Vaterländischen Kriegs, so dass die Restaurantbesitzer den Laden am Ende umbenannten. Der Ex-Dissident Alexander Podrabinek, der seitdem im Versteck lebt, erinnert die Veteranen in seinem Blog daran, dass die Sowjetunion ein Land der Gulags war und nicht mehr existiert. Open Democracy übersetzt den Beitrag: "Ihr wart von dem 'antisowjetischen' Namen so verletzt, weil ihr in Wahrheit die Verwalter dieser Lager und Gefängnisse wart, ihr wart die Kommissare der Aufstandsbekämpfung und Scharfrichter auf den Appellplätzen. Ihr, sowjetische Veteranen, wart die Verteidiger des sowjetischen Regimes, und darum behandelte es euch freundlich. Aber ich komme aus der antisowjetischen Vergangenheit unseres Landes, und hier ist, was ich euch sagen will: In der Sowjetunion gab es noch andere Veteranen außer euch, über die ihr nichts hören wollt, die Veteranen des Kampfes gegen die Sowjetunion. Euer Regime. Sie kämpften, wie einige von euch, auch gegen die Nazis, und dann kämpften sie gegen die Sowjets, in den Wäldern Litauens und der westlichen Ukraine, in den Bergen Tschetscheniens und den Wüsten Zentralasiens. Sie organisierten den Aufstand im Lager von Kengir 1954 und den 'blutigen Samstag' in Nowotscherkask 1962, der zusammengeschossen wurde. Sie sind fast alle tot, und fast niemand ehrt ihr Andenken. Keine Plätze und Straßen werden nach ihnen benannt. Die wenigen Überlebenden werden nicht geehrt und erhalten keine Staatsgelder oder Pensionen. Sie leben in Armut und Dunkelheit, nicht ihr, die Bewahrer und Verehrer des Sowjetregimes, sondern sie - die wahren Helden unseres Landes."
Archiv: Open Democracy

Literaturen (Deutschland), 01.10.2009

Die Schriftsteller Christoph Hein und Ingo Schulze unterhalten sich über das Jahr 1989. Schulze erklärt, warum er lieber nicht von der "Wende" sprechen möchte und auch das Etikett "Wenderoman" problematisch findet: "Zu einem Roman über 1989 gehören die Welt davor und die Welt danach und der Wechsel der Abhängigkeiten. Deshalb habe ich mich immer dagegen gewehrt, 'Simple Storys' als Wenderoman zu bezeichnen. 'Neue Leben' würde das schon eher erfüllen. Aber eigentlich möchte ich mich nicht darauf einlassen. Das ist eine Vereinfachung, die man wieder zurückbekommt, wenn es heißt, ach Gott, jetzt hat der schon wieder was über die Wende geschrieben. Der Begriff sitzt dann wie eine fette Kröte oben drauf - nichts gegen Kröten! -, aber man schaut dann gar nicht mehr genau hin, was da druntersteckt."

Weitere Artikel: Frauke Meyer-Gosau hat die französische Autorin Emmanuelle Pagano in ihrem Heimatort Aubenas besucht. Ronald Düker porträtiert den Amazon-Top-Kritiker Thorsten Wiedau. Jochen Schmidt macht sich Gedanken über sein glücklicherweise sehr "unkomplexes" Gehirn. In seiner Netzkolumne empfiehlt Aram Lintzel Monika Rincks Sprachfund-Website begriffsstudio. Besprochen werden - online - Richard Powers' neuer Roman "Das größere Glück" und Julia Voss' Sachbuch "Darwins Jim Knopf".
Archiv: Literaturen

New York Review of Books (USA), 22.10.2009

"Dies ist Literatur, wie es keine andere gibt", schreibt Norman Rush über James Ellroys "Underworld USA"-Trilogie, deren dritter Band, "Blood's a Rover" (Autorenlesung), gerade erschienen ist. Das trifft wohl weniger auf die Zutaten des Plots zu - J. Edgar Hoover, Howard Hughes, die Mafia und die Gewerkschaften sind allesamt an den Kennedy-Morden beteiligt, schöne Frauen gibt es nur unter den linken Gegenspielern, die wiederum keine Maoisten aufweisen. Aber Ellroy macht daraus eine überwältigende Parodie, deren superschnelle Gewaltprosa a la "Fulo smashed their teeth to powder. Pete burned their fingerprints off on a hotplate" Rush geradewegs ins Delirium führt: "James Ellroys Extremstil ist einfach ein enormer Lesespaß. Er kann süchtig machen. Die Geschichten werden in einem eintönigen, verrückten, modernen Umgangsamerikanisch erzählt und mit solch halsbrecherischem Tempo, aberwitzigen Nadelkurven, Verdichtungen und Zeitraffern, dass der Leser ab und zu einhalten und eine Pause machen muss. Die Standard-Noir-Motive Mord, Schläge, Rache sind alle vorhanden, aber so dicht gepackt und mit so liebevoller Aufmerksamkeit für die Beschreibung der Verletzungen, dass die Grenze dessen, was ein Leser aushält, zuweilen überschritten wird".

Außerdem: Lawrence Weschler besucht David Hockney und stellt fest, das der seiner "iPhone Passion" nur mit dem Daumen frönt. Joshua Hammer porträtiert den unkaputtbaren Diktator Mugabe. Und Richard Dorment berichtet von juristischen Auseinandersetzungen über die Echtheit von Werken Andy Warhols, der sich über diesen Begriff ja gerade mokiert hatte - aber es steckt halt eine Menge Geld drin.

Gazeta Wyborcza (Polen), 04.10.2009

"Dies ist keine Diskussion über Roman Polanski, darüber, ob er ein nationales Gut ist oder nicht. Es ist eine Diskussion darüber, wer wir sind. Wie unsere Moral ist", schreibt der Anthropologe Wojciech Burszta über den Fall des Regisseurs. "Warum glaubt jeder, dazu Stellung beziehen zu müssen? - Der Grund seid ihr, die Medien, die das von allen verlangen. Aber ich denke, das ist gut so. Der wichtigste Teil dieser Diskussion wird jedoch zu Hause geführt, in privaten Gesprächen, in den Familien. Als Gesellschaft müssen wir auf einige fundamentale Fragen antworten: Was ist das Kind? Was ist der Künstler? Wie weit gehen wir in der Verteidigung eines Landsmanns? Welche Argumente sollten wir dabei benützen? Es ist eine Vivisektion unserer selbst. Es mag komisch klingen, aber es ist gut, dass wir jetzt einen Anlass dazu haben. Ich hoffe, einiges davon wird bleiben."

Eine aktuelle Meldung: Der hoch dotierte Nike-Literaturpreis geht dieses Jahr an den Dichter Eugeniusz Tkaczyszyn-Dycki (hier findet man ein kurzes Porträt auf Deutsch).
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Polanski, Roman, Seide, Nike

Espresso (Italien), 02.10.2009

In diesen Tagen hört man in Italien wieder vermehrt das Wort "culturame", was man vielleicht mit Kulturheini übersetzen könnte. Manche Personen verwenden den Begriff seit einigen Wochen wieder vornehmlich für Linke aller Art, meint Umberto Eco und kann nur den Kopf schütteln. "Es gibt diese Handlanger aus dem Unterbau der Regierung, die Männer, die nur an Macht (oder Geld) interessiert sind. Sie haben in Wirklichkeit nie genug gelesen, und wissen einfach nicht, dass es auch rechte Intellektuelle gibt. Sie sehen nur jene der Linke, und nur in Momenten, in denen diese gegen irgendetwas protestieren, Und so ist es nur natürlich, dass die Intellektuellen in diesen Einraum-Gehirnen schnell zum Synonym für Opposition werden."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Eco, Umberto, Geld

London Review of Books (UK), 08.10.2009

Der große Kritiker James Woods macht sich mit gewohnt vernichtender Subtilität über A.S. Byatts neuen Roman "The Children's Book" her - und danach ist von dem Buch nicht mehr viel übrig. Byatt erzählt eine groß angelegte britische Familiengeschichte als Panorama der Jahre zwischen 1895 und 1919. Das Übererklären, so Woods, ist Byatts auf die Dauer sehr anstrengende Methode: "Außerordentlich - und ermüdend - viel Aufmerksamkeit wird Töpfen und Glasierungen, auf Töpfe gemalten oder gedruckten Mustern, wird der Beschreibung von Theaterbühnen, Kleidern, Gebäuden, Büchern und so weiter gewidmet. Der zentrale Modus der Beschreibung ist die Ekphrasis; auf beinahe jeder Seite findet sich die statische Verdopplung einer bereits vorhandenen Darstellung. Immer statisch, aber immer voller Eifer: der Roman zittert in Aspik." Oder: "Die Figuren ... werden zu Tode glasiert." Oder: "Wann immer ein Detail anstelle eines anderen zu wählen wäre, nimmt Byatt noch lieber beide - und die Quittung liefert sie auch noch mit."

Weitere Artikel: Die Malerin Bridget Riley denkt über die Praxis ihrer Kunst nach. John Lanchester schreibt über Geschlechts-Tests im Sport - und die damit verbundenen Schwierigkeiten. Michael Wood hat Neill Blomkamps Südafrika-SciFi-Film "District 9" gesehen.

Und Frank Kermodes Text über J.M. Coetzee würde man auch gerne online lesen. Darf man aber nicht.

Tygodnik Powszechny (Polen), 04.10.2009

Stanislaw Lem wollte nie, dass sein Sohn Schriftsteller wird. Um so enttäuschter war er, als Tomasz nach absolviertem Physikstudium anfing, englische Literatur zu übersetzen. Nun hat dieser eine Art Biografie seines Vaters geschrieben, erzählt Jan Strzalka in der Bücherbeilage von Tygodnik. Es ist keine Abrechnung geworden, denn, wie Tomasz Lem zugibt, "im Vergleich mit der Familie eines Thomas Mann beispielsweise hatten wir mit meiner Mutter geradezu ein wunderbares Leben". Lems Schwächen werden zwar dargelegt, aber auch sein Charme und Außergewöhnlichkeit. "Ein witziges, diskretes, aber zugleich ehrliches Buch", lobt Strzalka.

Besprochen werden außerdem Jan Jozef Szczepanskis Tagebücher aus den Jahren 1945-56, die gerade als erster Band der geplanten Gesamtedition erschienen sind. Für Tomasz Fialkowski sind sie "ein wichtiges Element der Autorenwerkstatt, ein Justieren der Blickschärfe, ein Üben am Ausdruck, eine Schule der Bündigkeit, der Personencharakteristik, des lebendigen Dialogs". Zwei Kritiken widmen sich deutschen Büchern, die gerade ins Polnische übersetzt wurden, nämlich Juli Zehs Roman "Schilf" und dem "Lexikon des Unwissens" von Kathrin Passig und Aleks Scholz.

ADN cultura (Argentinien), 04.10.2009

Der Schriftsteller Juan Villoro gibt sich Zukunftsträumen hin: "Was, wenn soeben das gedruckte und gebundene Buch erfunden worden wäre, in einer hochtechnisierten Welt, in der man bislang nur an Bildschirmen lesen konnte? Die unverzichtbaren Vorteile des Computers wären durch das neue Produkt nicht gefährdet, aber die Menschen, die immer so gerne Äpfel mit Birnen vergleichen, wären von dieser supermodernen Erfindung begeistert: Nach Jahren vor dem Bildschirm hätte man auf einmal etwas vor sich, das man wie ein Fenster oder eine Tür aufmachen kann - eine Maschine, in die man hineingehen kann! Zum erstenmal verbände sich das Wissen mit dem Tastsinn und der Schwerkraft - die neue Erfindung ließe einen die unglaublichsten Empfindungen durchleben, Lesen würde zu einer körperlichen Erfahrung. Und nachdem man Wissen immer nur als Bündel von Verknüpfungen begriffen hatte, als System interagierender Netze, entdeckte man unversehens die Individualität: Jedes Buch ist eine eigenständige Persönlichkeit, der man nicht nach Belieben Teile entnehmen oder hinzufügen kann. Und wie entspannend diese neuen Lesegeräte mit ihrer abgeschlossenen Technologie sind: Ihr Betriebssystem braucht niemals ein Update - das Einzige, was sich im Lauf der Zeit verändert, ist die Botschaft, die sie enthalten, die offen ist für immer neue Interpretationen."
Archiv: ADN cultura
Stichwörter: Villoro, Juan

Guardian (UK), 03.10.2009

Athanasius Kircher, ein Barockphilosoph (1602-80), ist derzeit schwer angesagt. Kein Wunder, meint der Fantasy-Autor Philip Pullman in seiner Besprechung von Joscelyn Godwins Buch "Athanasius Kircher's Theatre of the World": "Kircher war ein Impresario des Außergewöhnlichen. Er war vielleicht der letzte Mensch, der alles wusste und er lebte in einer Zeit, als alles, was es zu wissen gab, folgendes einschloss: wie menschliche Stimmorgane arbeiten, die Tatsache, dass Riesen möglicherweise nicht existieren, Drachen aber möglicherweise schon, wie man eine magische Laterne baut, wie der Potala Palast in Lhasa aussieht und die Gewohnheiten und das Erscheinungsbild des gefeierten jugendlichen tartarischen Dämons und Mörders Phut. Kircher lebte auf dem Scheitelpunkt zwischen der magischen Welt des Mittelalters und der wissenschaftlichen Welt der Moderne - wie wir es heute vielleicht wieder tun, nur dass wir in die andere Richtung gehen."

Amüsant? Ein Comic über Bertrand Russells und Alfred North Whiteheads "Principia Mathematica"? Jawoll, meint Alex Bellos. Unbedingt lesen! "Die 'Principia Mathematica' ist wahrscheinlich das undurchdringlichste Buch, das je von einem Gewinner des Literaturnobelpreises geschrieben wurde. Die Autoren versuchen darin, auf 362 Seiten zu beweisen, dass 1 + 1 = 2 ist, mittels einer Methode, die so obskur war, dass die Cambridge University Press niemanden fand, der das Manuskript evaluieren konnte. Russell und Whitehead mussten den Druck daher selbst bezahlen. Die Principia ist also nicht gerade ein naheliegendes Objekt für ein populäres Wissenschaftsbuch. Doch die intellektuelle und emotionale Reise, die Russell beim Schreiben durchlief, haben Apostolos Doxiadis und Christos Papadimitriou in einen grafischen Roman verwandelt, der beides ist - spannendes Abenteuer und eine seriöse Geschichte der Philosophie der Mathematik."

Außerdem: Wer etwas wissen will über "the country formerly known as Great Britain" sollte die Reportagen von Ian Jack lesen, die sich vor allem, schreibt der Autor Giles Foden, durch ihre Konkretheit und eine tiefe Analyse der wahren Gründe und Konsequenzen des sozialen Wandels auszeichnen. Sarah Crown besucht den Schriftsteller Simon Mawer, dessen Roman "The Glass Room" ihrer Ansicht nach gute Aussichten hat, dieses Jahr den Booker-Preis zu gewinnen.
Archiv: Guardian

Polityka (Polen), 02.10.2009

Pawel Potoroczyn, Direktor des Adam-Mickiewicz-Instituts (IAM), erklärt Piotr Sarzynski (hier auf Deutsch), warum Kultur nicht nur erbaulich, sondern auch nützlich ist: "Ein gewisser amerikanischer Unternehmer hat mir das einmal so erklärt: Wenn ich in Polen etwas kaufe, baue, privatisiere, möchte ich vielleicht hinfliegen, um bei der Eröffnung das Band durchzuschneiden. Meine Manager werden dort drei, vier, fünf Jahre wohnen. Sie brauchen ein Theater, eine Oper, eine Philharmonie, ein Ballett, Jazz, ein Golfspielfeld, gute Restaurants und eine gute Schule mit Englischunterricht für ihre Kinder. Technologien sind immer leichter zugänglich, die Kosten für Arbeit und die Lebenshaltungskosten gleichen sich in Europa langsam aus. Die Konkurrenz im Wettkampf um das Kapital wechselt vom Hard- in den Softbereich, das Image eines Landes wird zum Konkurrenzgegenstand. Wir haben in der Welt kein bestimmtes Gesicht. Warum sollten wir die Kultur nicht dazu machen?"
Archiv: Polityka
Stichwörter: Mickiewicz, Adam

Vanity Fair (USA), 01.11.2009

Der Murdoch-Biograf Michael Wolff schreibt über Murdochs "Krieg gegen das Internet": "Einer meiner Lieblingsanekdoten hat mir Wendi, Murdochs Frau, erzählt. Sie ist mit den Gründern von Google Larry Page und Sergey Brin befreundet und hat mir erzählt, wie die Murdochs die beiden einmal auf ihre Farm in Carmel, Kaliforniern eingeladen hat. Als ich mich über die soziale Diskrepanz wunderte und fragte, worüber sich die drei unterhalten haben, versicherte Wendi, dass sie sehr gut miteinander ausgekommen seien.
'Sie wissen ja', sagte Wendi, 'Rupert stellt immerzu Fragen.'
'Und was hat er gefragt?'
'Er fragte', sagte sie mit nur ganz leisem Zögern, 'Warum lesen Sie nicht Zeitung?'"

Im Auge des Finanzorkans steckte die Abteilung Financial Products des gewesenen amerikanischen Versicherungsriesen AIG, der jetzt am Tropf der amerikanischen Regierung hängt. Der Spiegel widmete dem Konzern, der durch seine Kreditversicherungen die Weltwirtschaft an den Rand des Abgrunds drückte, neulich eine Titelgeschichte. Für Vanity Fair hat Michael Lewis recherchiert, der beobachtete, wie wichtig der Einfluss einer einzelnen Person in solchen Prozessen sein kann. Er porträtiert den Chef von AIG FP, Joe Cassano, als "cartoon despot", der seine Untergebenen derart einschüchterte, dass der Laden die Kontrolle über seine Finanzgeschäfte verlor: "Bei AIG FP arbeiteten zuweilen extrem brillante Leute, deren Erfolg von Mathematik und Urteilsvermögen abhing. Aber nun wurde die Firma von einem Mann geführt, der nichts von Mathematik verstand und dessen Urteilsvermögen durch seine Unsicherheit vernebelt wurde. Die wenigen Leute, die das in Frage stellen konnten, verließen bald die Firma. Zurück blieben Leute, die sich mehr oder wengier an Cassano anpassten. 'Wenn einer ein wirkliches Arschloch ist', sage einer zu mir, 'dann suchst du seine Zustimmung wie du es bei einem sympathischen Menschen nie tun würdest.'" Und dann waren ja noch die Bonuszahlungen...
Die Geschichte ist aus der auf August datierten Julinummer, aber jetzt erst online.
Archiv: Vanity Fair

Nouvel Observateur (Frankreich), 01.10.2009

Unter der Überschrift "Liebestaumel" überlegt der Philosoph Pascal Bruckner, der gerade den Essay "Le Paradoxe amoureux" veröffentlicht hat, wie sich symbiotischer Liebeswunsch und individuelle Autonomie eigentlich vertragen. Im Zuge der sexuellen Befreiung sind "Gefängnistüren aufgegangen", so Bruckner. Das werde allerdings nicht immer als Vorteil empfunden: "Im Gegenzug haben wir die Sicherheit der alten Geschlechtertrennung verloren. Wenn ich höre, dass Frauen sich beschweren, die echten Männer seien verschwunden, oder Männer behaupten, sie seien reingelegt worden, sage ich mir, dass beide der alten Rollenteilung nachweinen, die vielleicht ungerecht war, aber immerhin Klarheit bot: Sag' mir, wer du bist, damit ich weiß, wer ich bin. (...) Die allmähliche Auflösung des patriarchalischen Systems hat zu einer Männlichkeitskrise geführt ebenso wie zu einem schmerzlichen Lernprozess all ihrer neuen Freiheit für die Frauen. Ein Mann oder eine Frau zu sein funktioniert nicht mehr aus sich heraus, wenn die Geschlechtertrennung nicht mehr so geheimnisvoll ist wie früher."

Lettre International (Deutschland), 01.10.2009

Die neue Lettre ist eine prächtige fette Doppelnummer zum zwanzigjährigen Jubiläum des Mauerfalls! Der Philosoph Harry Lehmann vertritt die gewagte These, die DDR sei vor allem an ihrem Design gescheitert (Auszug). Schon die simpelste Marktforschung war konterrevolutionär: "Selbst wenn es Untersuchungen gegeben hat, die aus sozialer Herkunft, Bildung und Einkommen Rückschlüsse auf den auseinanderdriftenden Bevölkerungsgeschmack zogen, so dürfte dieses politisch brisante Material meist im Giftschrank verschwunden sein. Designabteilungen, die sich an derartigen Konsumentenanalysen orientiert hätten, wären augenblicklich zu Zellen der Konterrevolution geworden. Mit solchem Geheimwissen entwickelte Produkte hätten nicht nur soziale Unterschiede sichtbar gemacht, sondern diesen zudem eine Kristallisationsfläche in der Warenwelt gegeben - und sie damit in der Gesellschaft verstärkt." In Hanns Malte Meyers "Goldener Banane" hätte Lehmann übrigens eine "ultimative Notlösung" für das gescheiterte Einheitsdenkmal gesehen.

Abseits der Berlin-Artikel unternimmt Schriftsteller Carsten Probst eine Reise ins Georgien nach dem Krieg und findet keinerlei Hinweise auf Entspannung in der Region: "Ich verließ das Hotel mit dem mulmigen Gefühl, einer Propagandaveranstaltung beigewohnt zu haben, deren Groteske nur von dem Schrecken übertroffen wurde, dass sich die georgische Regierung auch nach anderthalb Jahrzehnten noch weigerte, ihren aus Abchasien geflohenen Landsleuten feste Wohnungen zu bauen. Dass sie sie in diesen Provisorien versauern ließ, um damit symbolisch ihre Gebietsansprüche auf Abchasien zu demonstrieren, anstatt ihnen unter Zuhilfenahme internationaler Unterstützung ein neues Leben anzubieten."

Weiteres: Das Interview Frank Berberichs mit Ex-Finanzsenator Thilo Sarrazin (Auszug) hat bereits für einiges Aufsehen gesorgt - in der Welt, im Tagesspiegel, in der Berliner Zeitung - weil sich Sarrazin abfällig über die Berliner Araber und Türken geäußert hat. Journalist Iain Sinclair wandert vom Alexanderplatz bis zum Telegraphenberg (Auszug) und stellt fest, dass Berlin das neue Hackney ist. Ex-Merve-Verleger Peter Gente liefert Erinnerungssplitter seiner Berlinzeit. Die großartige Swetlana Alexijewitsch (mehr hier) schreibt staccato über das Ende des Kommunismus. German Sadulajew erzählt vom Leben als Tschetschenischer Rebell und und und ...

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.09.2009

Die Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus ist zerstört, schrieb kürzlich der slowenische Philosoph Slavoj Zizek in der London Review of Books. Eine "postdemokratische" Ära komme auf uns zu – dabei schienen Demokratie und Kapitalismus Jahrzehntelang untrennbar zu sein. Zizek zufolge besteht diese "Krise der Demokratie" nicht darin, dass die Normalbürger an ihrer eigenen Macht zweifeln würden, sondern vielmehr darin, dass sie der politischen Elite nicht mehr trauten. Der Ethnologe Peter Niedermüller ist der Meinung, dass dies auch für Ungarn zutrifft. Dabei hat vor 20 Jahren alles so schön und vielversprechend angefangen, und nun wünscht sich die Mehrheit der Ungarn eine neue, eine andere Wende: "In dieser Hinsicht befindet sich die Demokratie auch in Ungarn in der Krise. Deshalb sollten wir im weiteren darüber nachdenken, wie wir dieser Krise, dieser Sackgasse, in die wir uns in den vergangenen zwei Jahrzehnten gemeinsam hineinmanövriert haben, wieder entkommen können."

Newsweek (USA), 05.10.2009

Die Zukunft des Journalismus ist "hyperlokal", meint Johnnie L. Roberts in Newsweek - und dafür sprechen drei Gründe. AOL hat Patch.com gekauft, eine hyperlokale Website in elf amerikanischen Städten. Und der neue AOL-Chef ist Tim Armstrong, ehemals der Anzeigenchef bei Google. Und drittens: Der lokale Anzeigenmarkt in den USA ist hundert Milliarden Dollar schwer. Eine Stadt wie Millburn unweit New York ist inzwischen belagert von lokalen Bloggern, die jeden Autounfall covern: "Lokalen Verantwortlichen macht diese intensive Begleitung durch Blogger immer noch Angst. An einem Freitag interviewt Jennifer Connic von Millburn.patch den Stadtverwalter Gordon. Er antwortet gewissenhaft auf alle Fragen zur Agenda der nächsten Stadtratssitzung. Nach dem Interview denkt er über sein neues Leben im Fokus der hyperlokalen Medien nach. 'Sie machen mich verrückt', sagt er. 'Viele Blogger kennen die Fakten nicht richtig - aus Gerüchten werden Fakten, aber ich verwalte eine Stadt, nicht ein Gerücht.' Manchmal sehnt sich Gordon nach den Tagen zurück, als die Wochenzeitung The Item sein einziger Wachhund war. 'Es war langsamer, und die Reporter verließen meist ihr Büro nicht', sagt er."
Archiv: Newsweek

Point (Frankreich), 01.10.2009

Seine Bloc-notes widmet Bernard-Henri Levy in dieser Woche der Frage, warum und wie die Taliban in Afghanistan zu besiegen seien. Levy bereiste das Land kürzlich und wendet sich entschieden gegen das Klischee, wonach es sich beim dortigen Einsatz lediglich um einen französisch-amerikanischen Krieg handle, in dem die Afghanen nur Statisten seien. "Wirklich Besatzungsmacht? Neokolonialismus, wie die nützlichen Idioten der Islamischen Fortschrittsbewegung behaupten? Armeen haben genau wie Völker ein Unterbewusstsein. Ich bestreite nicht, dass die Versuchung bestehen könnte. Aber was ich dort beobachte, ist, im Moment zumindest, das: eine Militärmacht, die es den Menschen im Wortsinne erlaubt zu wählen und den demokratischen Prozess zu verstärken. (...) Ich habe natürlich nicht alles gesehen. Aber immerhin das: einen hässlichen Krieg, wie alle Kriege; einen gerechten Krieg; besser geführt, als man ihm nachsagt; den die afghanischen Demokraten gemeinsam mit ihren Verbündeten gewinnen können."
Archiv: Point

Outlook India (Indien), 12.10.2009

Der Osten überholt den Westen? Glauben wir auf der Stelle. Wann hat man zuletzt so eine Geschichte aus dem Westen gelesen? Armes, ungebildetes Mädchen aus einer Familie von Webern, von ihrem Ehemann verlassen, von ihrer Familie nicht wieder aufgenommen, mit dem zweiten Kind schwanger, aus der Provinz - Kannada -, tritt in einer Amateur-Theateraufführung auf und wird über Jahre harter Arbeit auf Tournee zu einer gefeierten Schauspielerin ganz Indiens. Wie Umashree, die 2007 für ihre Rolle als filmverrückte Muslimin in Girish Kasaravallis Film "Gulabi talkies" den nationalen Filmpreis als beste Schauspielerin gewann. Sugata Srinivasaraju zeichnet ein - viel zu kurzes - Porträt: "In einem seltenen Tribut engagierte sie Kasaravalli , der niemals einen Hauptdarsteller ein zweites Mal besetzt, für seinen nächsten Film. 'Ihre Stärke liegt darin, das sie nie etwas übersentimentalisiert. Ihre Ausdrucksweite ist erstaunlich', sagt er. 'Als Gulabi war sie weder melodramatisch noch legte sie sich zu strenge Zügel an. In ihrem Jubel spürt man ihre Einsamkeit.'"

Außerdem: Anuradha Raman zeichnet den Krach um Joe Wrights Film über die, hm, Beziehung zwischen Edwina Mountbatten (Cate Blanchett) und Nehru (Irrfan Khan) nach. Der Skandal hat erstaunlicherweise nichts damit zu tun, dass Edwinas Ehemann Lord Mountbatten von Hugh Grant gespielt wird.
Archiv: Outlook India

New Statesman (UK), 05.10.2009

"Enorm erfrischend" findet Edward Skidelsky die Vorlesungen von Michael Sandel über Moralphilosophie. Sandel vertritt eine Theorie, die das Gute über das Richtige stellt, und damit beiden Spielarten des Linksliberalismus widerspricht, die das Richtige über das Gute stellen. Es bleibt allerdings ein Problem für Skidelsky: "Der Grund, warum moderne Linke Fragen über das Gute so gern zur Seite schieben, liegt darin, dass sie sie für unbeanwortbar halten. Sie sind, insgesamt gesehen, moralische Skeptiker - sie behaupten, so etwas wie moralische Wahrheit gebe es nicht oder sie sei jedenfalls nicht leicht zugänglich. Die Frage nach dem Richtigen an die Frage nach dem Guten zu koppeln, erscheint ihnen als Einladung zum Bürgerkrieg. Wenn Sandels Alternative uns überzeugen soll, dann muss er uns zeigen, dass es so etwas wie moralische Wahrheit gibt, und dass sie uns zugänglich ist."

Außerdem: Tim Adams schreibt über Anselm Kiefer, der am 16. Oktober eine Ausstellung in London eröffnet. Antonia Quirke hörte eine BBC-Sendung über den Dirigenten Carlos Kleiber.
Archiv: New Statesman

New York Times (USA), 04.10.2009

Lewis Hyde, Autor des Buchs "Die Gabe", denkt in der Book Review über das Google Book Settlement nach und findet keine befriedigende Lösung, die den Ideen der Gründerväter der USA gerecht wird: "Vor allem Jefferson glaubte, dass keine Generation das Recht habe, die nachfolgende zu verpflichten. 'Die Erde gehört ... den Lebenden', schrieb er 1789 an Madison. 'Die Toten haben weder Macht über sie noch Rechte daran.' Darum sollten 'unbefristete Monopole' in den Künsten 'ausdrücklich verboten werden'. Jeffersons schlug vor, dass das Copyright nicht länger als 19 Jahre dauern sollte." Google aber würde mit der Digitalisierung von Büchern allein kraft seiner Marktmacht ein unbefristetes Monopol erwerben... (Hyde hat seine Überlegungen zum Copyright ausführlicher hier beschrieben: pdf zum runterladen)

Besprochen werden unter anderem Kazuo Ishiguros neuer Erzählband (dem Christopher Hitchens nicht viel abgewinnen kann) und Karen Armstrongs Buch "In Case for God".
Archiv: New York Times