Magazinrundschau - Archiv

Le Nouvel Observateur

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Magazinrundschau vom 15.01.2019 - Nouvel Observateur

Seltsam zwiespältig, aber sehr informativ liest sich ein langer Text des Journalisten Roman Bornstein für die Fondation Jean-Jaurès (eine Stiftung der geschwächten Sozialistischen Partei in Frankreich), den der NouvelObs präsentiert. Bornstein hat sich in die wichtigsten Facebook-Threads der Gilets jaunes eingelesen. Seine Folgerungen sind widersprüchlich. Einerseits zeigt er sehr schön, das die Gilets jaunes niemals zu einem Phänomen geworden wären, wenn nicht die Medien erste Interviews mit den Protagonisten geführt und so deren Aufrufe auf Facebook überhaupt erst bekannt gemacht hätten. Andererseits schildert Bronstein das Phänomen in der Folge rein aus der Logik von Facebook. Ähnlich verhält es sich politisch. Obwohl Bronstein mit Le Monde feststellt, dass zwei Drittel der Gilets-jaunes-Forderungen mit denen des Linkspopulisten Jean-Luc Mélenchon übereinstimmen (und die Hälfte mit Marine Le Pen), sieht er die Gilets jaunes auf dem Weg zum Rechtsextremismus: "Es ist frappierend festzustellen, wie beunruhigend sich die Atmosphäre der Unterhaltungen entwickelt, die die Gilets jaunes unter sich führen. Sie mögen als Individuen nicht zur extremen Rechten gehören, aber kollektiv bewegen sie sich in diese Richtung. Woher diese Befürchtung? Sie haben bereits das Vokabular: viele Exzesse, Beleidigungen, Tiervergleiche, Verteufelung des Gegners und eine absolute Kompromisslosigkeit. Ferner, und das ist wesentlich, wird alles abgelehnt, was ein republikanisches und demokratisches System ausmacht."

Magazinrundschau vom 25.11.2014 - Nouvel Observateur

In einem fesselnden Hintergrundtext erzählte Vincent Jauvert schon Ende Oktober die lange Geschichte der Beziehungen zwischen dem Front national und der extremen Rechten in Russland - aus der inzwischen eine privilegierte Beziehung zwischen dem Clan Le Pen und Wladimir Putin geworden ist. Begonnen hat es schon 1968, als der Maler Ilja Glasunow, der später einen antisemitischen Club gründete und zum offiziellen Devotionalienkitschmaler Putins wurde, Jean-Marie Le Pen in seiner Uniform als Fallschirmjäger des Algerienkriegs porträtierte. Jauvert spricht auch schon die mögliche Finanzierung des Front national durch Kredite einer Putin nahestehenden Bank an, die inzwischen bestätigt wurde. Kein Wunder, dass Marine Le Pen, die Präsidentin des FN, "eine rückhaltlose Unterstützerin Putins ist. In der russischen Presse bekennt sie ihre "Loyalität" zum ehemaligen KGB-Oberst, ihrem großen Bruder aus dem Osten, den sie "bewundert". So sehr, dass sie sich wünscht, Frankreich "möge die Nato verlassen und sich militärisch in eine Allianz mit Moskau" begeben. Sie war in den letzten Monaten zweimal in Moskau. Ihr Vater besucht Moskau Ende Oktober. Aber Achtung, ruft ihre Nichte Marion, "wir sind keine Agenten Moskaus"."

Magazinrundschau vom 23.03.2010 - Nouvel Observateur

Zwei Bücher von Hans Magnus Enzensberger und Jorge Semprun erscheinen jetzt in Frankreich: Enzensbergers literarische Biografie über den Nazi-General Kurt von Hammerstein sowie Sempruns "Une tombe au creux des nuages", ein Essay über Europa und Deutschland. Im Nouvel Obs unterhalten sich die beiden Autoren über ihr Deutschlandbild. So erklärt Semprun: "Erstmals seit dem 17. Jahrhundert spielt Deutschland wieder eine positive Rolle in Europa, größtenteils aufgrund des europäischen Projekts und die französisch-deutsche Aussöhnung, die den jungen Leuten von heute banal erscheinen mag, aber für Leute meines Alters etwas Außerordentliches ist. Zum ersten Mal ist Deutschland eine große demokratische Kraft, nicht nur aus wirtschaftlichen oder sozialen Gründen, sondern auch aus kulturellen. Aber es ist normal, dass Sie weniger germanophil sind als ich!" Enzensberger meint: "Deutschland ist historisch keine liberale Gesellschaft. Es ist sehr hierarchisch und hat eine Neigung zum intellektuellen Extremismus. In Deutschland wird jede beliebige Theorie radikal. Die Philosophen zum Beispiel, von Kant bis Hegel, treiben das Denken auf die Spitze. Das hat etwas Geniales, aber auch Fatales. Der gesunde Menschenverstand war nie eine Stärke des deutschen Geistes."

Magazinrundschau vom 09.03.2010 - Nouvel Observateur

Der Obs widmet sich in seinem Titeldossier der Kontroverse zwischen Yannick Haenel und Claude Lanzmann, in der es vor allem um die Frage geht, ob die westlichen Alliierten die Juden im Stich gelassen haben. Ersterer bejaht dies in seinem Buch über den polnischen Widerstandskämpfer Jan Karski (mehr hier), wohingegen Lanzmann dieser These strikt widerspricht. Claude Weill und Laurent Lemire tragen in einem Überblicksartikel die derzeit bekannten Fakten zusammen und gehen darin auch auf die Rolle des Vichy-Regimes und des Vatikans ein. Erstaunliche Folgerung: die Alliierten sind über jeden Zweifel erhaben, aber der Vatikan ist so schuldig, wie es seit Hochhuth behauptet wird. Daneben sind Auszüge aus den Erinnerungen Karskis zu lesen, der Roosevelt 1943 - erfolglos - über die Vernichtungslager informiert hatte und 1944 seine Erinnerungen veröffentlichte, die in Frankreich nun neu aufgelegt wurden (siehe hierzu auch einen Artikel im aktuellen Figaro): "Als ich den Präsidenten verließ, war er immer noch genauso frisch, erholt und lächelte wie zu Beginn des Gesprächs. Ich dagegen fühlte mich sehr müde."

Claude Lanzmann spricht in seinem Beitrag dagegen vom "Mythos der Rettung" und erklärt, dass die Juden in der Vorkriegszeit und im Krieg selbst keineswegs "das Zentrum der Welt" gewesen seien, sondern im Gegenteil eine Rand- wenn nicht gar eine marginale Stellung eingenommen hätten. "Das galt nicht nur für die Vereinigten Staaten, sondern für ganz Europa, von Deutschland ganz zu schweigen. Die Juden waren eben nicht - und sind es selbst heute nicht, auch wenn einige von ihnen das gerne behaupten - das Zentrum der Welt. Von der Warte dieser faktischen Wahrheit aus muss das Verhalten der Alliierten während des Kriegs und das angebliche Im-Stich-lassen der Juden betrachtet werden. Hätte man 'die Juden' oder 'Juden' retten können? Welche hätte man retten können? Wann? Wie?"

Zu lesen ist außerdem ein Interview mit Wirtschaftsnobelpreisträger Joseph Stiglitz über die Gier der Banker und ihre "erdrückende Verantwortlichkeit" für die Krise.

Magazinrundschau vom 23.02.2010 - Nouvel Observateur

Haiti braucht eine regelrechte Neugründung, schreibt der haitianische Autor Rene Depestre im NouvelObs und geht die verschiedenen Optionen durch: "1. Eine Verbindung mit der dominikanischen Republik bleibt unmöglich, der alte Streit zwischen den beiden Inselnachbaren ist bis heute nicht fortzuwischen. 2. Ebenso utopisch ist eine Verbindung mit den ehemaligen anglophonen Kolonien der Karibik. 3. Gleichfalls unmöglich ist die Integration in die Überseeterritorien Frankreichs. 4. Und ein weiterer Staat der USA nach dem Vorbild Porto Ricos? Beide amerikanische Parteien würden es ablehnen - Haiti muss bei seinem seinem Status der 'nationalen Unabhängigkeit' von 1804 bleiben." Immerhin aber setzt Depestre Hoffnungen auf Obama und die internationalen Organisationen, um Haiti bei dieser Neugründung zu helfen.

Zu lesen ist außerdem ein Gespräch mit dem Biogeologen und Bestseller-Autor Jared Diamond ("Kollaps"), der die Möglichkeiten für einen intelligenten und nachhaltigen Wiederaufbau Haitis analysiert.

Magazinrundschau vom 16.02.2010 - Nouvel Observateur

In einem Interview spricht der britische Schriftsteller V.S. Naipaul, dessen Buch "Le regard de l'Inde" jetzt in Frankreich erscheint, über seine indischen Wurzeln, Gandhi, Afrika, die Rolle des Schriftstellers und Rebellion. Naipaul, der für seinen überaus kritischen Blick auf Indien bekannt ist, erklärt auf die Frage nach der Zukunft des Landes, dass die wirtschaftliche Macht dieses gigantischen Landes lediglich eine Illusion sei und die neue Dynamik keinerlei intellektuelle Entsprechung habe. "Vor fünf oder sechs Jahren habe ich auf einer Konferenz in Indien über die Wichtigkeit des intellektuellen Lebens gesprochen, und ich glaube, kein Mensch hat verstanden, wovon ich sprach! Indien interessiert sich ausschließlich für die politischen Aspekte der Dinge. Im 19. Jahrhundert hat sich die Bedeutung Großbritanniens nicht nur auf seine ökonomische oder militärische Macht beschränkt. Vielmehr verfügte man über eine wahrhaft sprudelnde Intellektualität, ob literarisch (Dickens), naturwissenschaftlich (Darwin), ästhetisch (Ruskin) oder philosophisch (Willam Morris). Das Gleiche gilt für Frankreich. In Indien dagegen habe ich lediglich meine Zeit verschwendet, das zu erklären!"

Zu lesen ist außerdem ein Gespräch mit der Philosophin Elisabeth Badinter, die in ihrem Buch "Le Conflit, la femme et la mere" (Flammarion) mit der Ideologie der perfekten Mutter abrechnet. Gegen ihre These, dass Babys zu einer Waffe des Patriarchats geworden seien, formiert sich derweil bereits lautstarker Protest. Im Obs widerspricht die amerikanische Anthropologin Sarah Blaffer Hrdy auch Badinters These, wonach Mutterschaft eine rein soziale Konstruktion sei und keinerlei biologische Grundlage habe.

Magazinrundschau vom 09.02.2010 - Nouvel Observateur

In einem sehr ausführlichen Gespräch mit Jean Daniel spricht der israelische Schriftsteller Amos Oz, Mitbegründer der politischen Bewegung Peace Now und Befürworter einer Zwei-Staaten-Lösung, über das, was vom Gründungsmythos Israels übrig ist und die Bedingungen und Möglichkeiten für einen Frieden im Nahen Osten. Oz meint: "Im Augenblick befinden wir uns im Krieg gegen die Fanatiker. Das ist kein Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern. Wenn ich mit laizistischen Palästinensern diskutiere, finden wir stets ein Terrain für Verständigung und Lösungen, auch wenn wir uns nicht immer über alles einig sind. Mit ausländischen Pro-Palästina-Vertretern ist es viel komplizierter und mit den Pro-Israel-Vertretern von außen ist es auch nicht einfacher. Doch zwischen laizistischen Palästinensern und Israelis wie mir ist der Dialog möglich, wenn auch nicht immer einfach. Das Problem ist ein zweifaches: Auf der einen Seite gibt es in beiden Lagern Fanatiker, auf der anderen Seite feige Politiker. Sie wissen sehr gut, was zu tun wäre, haben aber keinen Mut zum Handeln."
Stichwörter: Daniel, Jean, Oz, Amos

Magazinrundschau vom 02.02.2010 - Nouvel Observateur

In einem Streitgespräch unterhalten sich Bernard-Henri Levy und der slowenische Philosoph Slavoj Zizek über die Zukunft der Linken und die Rückkehr der kommunistischen Idee. Der "nouveau philosophe" Levy zeigt sich "entsetzt" über diese "Wiedererweckung einer Leiche" und erzählt: "In einem Gespräch im Nouvel Observateur hat Michel Foucault Folgendes zu mir gesagt: 'Die Frage der vergangenen Jahrhunderte lautet: Ist die Revolution möglich? Die Frage des modernen Zeitalters lautet: Ist die Revolution wünschenswert?' Ich antworte darauf genau wie er mit Nein." Der Marxist Zizek hält "in aller Bescheidenheit" dagegen, dass der Kommunismus unabhängig von seinen "Einfältigkeiten" eine Antwort auf die "katastrophalen Antagonismen des gegenwärtigen Kapitalismus" wie globale Umweltzerstörung, Segregation oder Biotechnologie sein könne: "Diese Privatisierung, ja diese Zerstörung von allem, was uns gemeinsam ist, dieser Erpressungsversuch selbst der Substanz unserer physischen und sozialen Existenz, all das ruft zwangsweise den Wunsch hervor, neue Formen kollektiver Entscheidungen auftauchen zu sehen. Sie weder der Zukunft, noch dem Markt, noch dem Staat zu überlassen - das ist für mich Kommunismus."

Magazinrundschau vom 29.12.2009 - Nouvel Observateur

In einem sehr offenen Interview spricht Francis Ford Coppola über seinen neuen Film "Tetro", die besondere Dynamik von Familie, sein filmisches Werk und die Zukunft des Kinos, das er keineswegs am Ende sieht: "Eine DVD hat für mich keinerlei Wert (wie die illegalen Downloads zeigen). Sie ist lediglich ein zirkulierendes Objekt. DVDs sollten kostenlos sein, weil sie nichts weiter sind als maschinell reproduzierte Objekte, Massenprodukte ohne inneren Wert, im Gegensatz zur Aufführung in einem Theater, die immer einzigartig ist. Frühere Komponisten wie zum Beispiel Mendelssohn haben die Urheberrechte an ihren Partituren nicht angerührt. Der einzige Weg für sie, ihre Musik zu leben, bestand darin, mit einem Orchester auf Tournee zu gehen und ihre Werke selbst zu dirigieren. Wenn man all diese Elemente berücksichtigt, versteht man, wo die Zukunft des Kinos liegt."

Magazinrundschau vom 22.12.2009 - Nouvel Observateur

Der Nouvel Obs lud die Philosophen Alain Finkielkraut und Alain Badiou, die entgegengesetzten politischen Lagern angehören, zu einem Gespräch über nationale Identität ein. Es geriet laut Moderatorin Aude Lancelin zu einer "ideologischen Konfrontation von seltener Heftigkeit". Badiou, der einen neuen Kommunismus anstrebt, beklagt eine Stigmatisierung der Immigranten und greift seinen Widerpart direkt an: "Das Minarettvotum Millionen verblödeter Schweizer ist nur eine Episode in dieser Tendenz, und Sie sind dafür verantwortlich. Es ist klar, dass die Intellektuellen und die 'Feministinnen', die vor zwanzig Jahren gegen das Kopftuch gehetzt haben, heute für diese Minarett-Phänomene verantwortlich sind... Sie wollen eine Ethik der Verantwortung? Na also, dann stellen Sie sich dazu!." Finkielkraut nennt diesen Angriff skandalös, "aber ich versuche mich nicht aufzuregen". Er sieht die Immigranten gerade von Badious "erhobener Faust" verdammt. "Und ich komme auf den psychologischen Profit aus Ihren ständigen Vergleichen mit den schwarzen Jahren zu sprechen. Wenn Sarkozy Petain ist, dann sind Sie ein Resistant. Hören Sie auf, Sie und und die intellektuelle Linke, die unter unter Ihren Fittichen größenwahnsinnig wird, sich Märchen zu erzählen."