Magazinrundschau
So viel mehr Sterne
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.09.2009. Mother Jones erzählt, warum kein Grüner sich mit Fiji-Mineralwasser erwischen lassen sollte. Zeitungen mögen im Netz ihren Markenwert verlieren, Journalisten könnten ihn dort erst gewinnen, überlegt Le Monde. Nicht die Zukunft, die Gegenwart ist heute die eigentliche Inspiration, meint der französische Soziologen Michel Maffesoli in Clarin. Im Espresso erzählt der Mafioso Francesco Fonti, warum die Entführung Aldo Moros die Mafia nervös machte. In Poets and Writers erklärt der Literaturagent Georges Borchardt, was die größte Veränderung im Verlagsgeschäft war: befristete Verträge.
Mother Jones (USA), 01.09.2009

Noch ein Hinweis auf das Juliheft: Der Schriftsteller William T. Vollmann erklärt im Interview über sein neues Buch "Imperial", warum es so viel schwieriger sein kann, Literatur zu schreiben als ein Sachbuch: man muss genauer sein. "Ich glaube wir alle sind, als menschliche Wesen, so begrenzt. Wenn wir über uns selbst schreiben wollen, ist das ziemlich einfach. Und wenn wir über unsere Freunde schreiben oder unsere Familien, können wir das tun. Aber wenn wir uns in etwas hineinversetzen wollen, das jenseits unserer persönlichen Erfahrung liegt, dann scheitern wir, bis wir mehr Erfahrung oder sie uns von anderen geborgt haben. Wenn ich als blinder Passagier auf einem Zug fahre ['train hopping' ist ein Hobby von Vollmann, Anm. Red.] und in den Himmel sehe, dann gibt es immer so viel mehr Sterne als ich in Erinnerung habe."
Le Monde (Frankreich), 28.09.2009
Was wäre, wenn die fünfzig besten Journalisten der New York Times die Tageszeitung verließen und eine eigene Internetzeitung gründeten? Ausgehend von dieser Fragestellung des amerikanischen Bloggers Michael Arrington untersucht Xavier Ternison das amerikanische Phänomen des personal branding im Journalismus. Dahinter verbirgt sich der Umstand, dass Journalisten dort zu "Marken" werden, die eine treue Gefolg- beziehungsweise Leserschaft an sich binden können. "Der Aufschwung des Multimediajournalismus hat die Herausgeber dazu verführt, auf das Konzept der Presse als Marke zu setzen: Im Informationsdschungel des Internets wird der Titel einer Zeitschrift oder Tageszeitung, die ihr Erscheinen auf mehrere Fassungen stützt, für den Nutzer zu einem Garanten für Seriosität und Glaubwürdigkeit. Doch das Internet als großartiges Werkzeug der Informationsverbreitung – und auch der Eigenwerbung – könnte sehr wohl dazu beitragen, die Namen einiger Journalisten in Marken zu verwandeln, die sich auch völlig alleine und ohne Hilfe einer bekannten Stütze verkaufen." Ternison zitiert Arrington, der auf die Webseite Politico verweist, die von zwei ehemaligen Politikjournalisten der Washington Post gegründet wurde: "Die haben ihre eigene Marke und ihre Glaubwürdigkeit mitgenommen, und die Leser sind ihnen gefolgt. (...) Journalisten haben heutzutage eine hohe Relevanz, vor allem gute."
Clarin (Argentinien), 26.09.2009
"Die Zukunft setzt keine Energien mehr frei." Hector Pavon interviewt den französischen Soziologen Michel Maffesoli, der gerade in Buenos Aires ein Seminar abhält: "Arbeit, Vernunft, Zukunft, das waren die drei großen Werte der Moderne. In unserer Zeit - wir nennen sie provisorisch Postmoderne, einfach weil es noch keinen passenden Ausdruck dafür gibt, 2050 sind wir vielleicht soweit, dass wir einen haben - dreht sich dagegen fast alles um Kreation, Imagination, Gegenwart. Und während Europa das Laboratorium der Moderne war, sind Lateinamerika und Ostasien die Laboratorien dieser 'Postmoderne'. Hier arbeitet man intensiv an diesen Dingen, hier spielt die Imagination eine große Rolle, hier geht es nicht nur um Arbeit, sondern immer auch um Kreation, hier gibt es Zukunft, aber immer auch Gegenwart. Auch in Europa gab es Zeiten, die ganz auf die Gegenwart ausgerichtet waren, die Renaissance etwa oder das 3. und 4. Jahrhundert, die Zeit des Untergangs Roms - und eine solche Zeit steuern wir meiner Einschätzung nach gerade wieder an."
Economist (UK), 25.09.2009

Espresso (Italien), 25.09.2009

Boston Review (USA), 01.09.2009

The Nation (USA), 12.10.2009

Weitere Artikel: William F. Baker, Journalismus-Professor und langjährigre Präsident der größten öffentlichen Rundfunkstation der USA WNet plädiert für die Rettung des US-Journalismus durch Stiftungen, aber auch durch staatliche Unterstützung. Als strahlendes Vorbild empfiehlt er die britische BBC und auch das öffentlich-rechtliche Fernsehen in Deutschland. Als Zukunft des Ballets feiert Marina Harss den 1968 in Sankt Petersburg geborenen Tänzer und Choreografen Alexei Ratmansky, den ersten "artist in residence" des American Ballet Theater überhaupt. (Hier ein kurzer Video-Eindruck einer Ratmansky-Choreografie.)
Nouvel Observateur (Frankreich), 24.09.2009

Times Literary Supplement (UK), 25.09.2009
Es mag Autoren geben, die schon ab der ersten Zeile wissen, wie das Ende ihres Romans sein wird. Oder deren Figuren die Geschichte gewissermaßen selbst schreiben, wie es manchmal heißt. Bei William Golding war das ganz anders, und am deutlichsten zeigte sich das bei seinem Buch "Darkness Visible - Feuer der Finsternis", an dem er über zehn Jahre gearbeitet hat, lernt Allan Massie aus John Careys Golding-Biografie. "John Carey erzählt den Plot im Detail nach und hält fest, wie oft sich die Geschichte während des Schreibens änderte. 'Windover', notierte Golding im Januar 1974, 'ist möglicherweise ein farbiger Gentleman', der in ein anderes Land ausgeliefert wird, das ihn 'einbuchtet', vielleicht Portugal. Zwei Jahre später, bemerkt Carey, kommt ihm der Gedanke 'dass die richtige Person, die von der britischen Regierung gegen Öl ausgetauscht wird, ein Jude sein würde', deshalb könnte Windover ein 'farbiger Jude' sein, der vom MI5 und vielleicht ebenso von der CIA 'hereingelegt' wird. ... Zu seinem Verleger Monteith sagte er einmal: 'Die größte Schwierigkeit ist, dass ich auch nicht weiß, worum es in dem verdammten Ding geht.' Er hatte so viele Versionen geschrieben, 'dass ich mich nicht mehr erinnern kann, welche welche ist'."
Elet es Irodalom (Ungarn), 18.09.2009
Die institutionelle Kontinuität zwischen der späten Kadar-Ära und der Gegenwart erstreckt sich auf viel größere Bereiche als in der Öffentlichkeit zugegeben wird, meint der Soziologe Attila Melegh. Ihm zufolge leben die "freie Marktwirtschaft" und der Staat in Ungarn in einer parasitärer Symbiose, die auch für den Großteil der Strukturprobleme des Landes sorgt – worüber man aber nicht rational und neutral sprechen könne, weil in irgendeiner Form fast jeder davon betroffen sei und weil jede Äußerung von den politischen Gruppierungen missbraucht werde. Tibor Berczes fragte den Soziologen, worin sich diese Kontinuität am meisten bemerkbar macht: "Anstatt die wirtschaftliche Anpassungsfähigkeit des Landes und deren Bedeutung für die Gesellschaft zu analysieren, begnügte man sich [nach der Wende] damit, den Sozialismus als das Problem selbst zu identifizieren, das durch ein 'westliches' System abgelöst werden müsse – als würde eine bloße Kopie des westlichen Musters ausreichen. Alle bekundeten laut, dass das Staatseigentum abgeschafft werden müsse. Ob und wie sich aber die ungarische Wirtschaft und deren Akteure den neuen Herausforderungen anpassen werden, wurde außer Acht gelassen. Darüber hat man zu keinem Zeitpunkt gemeinsam nachgedacht, weder damals, noch heute."
Artforum (USA), 01.09.2009

Außerdem: Online lesen kann man die Artikel von Thomas Crow, Claire Bishop und Linda Norden über die Biennale in Venedig.
Tygodnik Powszechny (Polen), 27.09.2009
Schon Wochen vor dem "Kongress der polnischen Kultur" gab es kritische Diskussionen über ihren institutionellen Zustand. Nun widmet das Magazin dem Ereignis ein Dossier. "Nicht die Kultur ist in der Krise", meint der Theaterregisseur Krystian Lupa im Interview, "sondern das Milieu, das durch keine Verwaltungsreform geheilt werden kann". Das Verhältnis von Politik und Kultur müsse überdacht werden, so Lupa, nur fehle es in Polen an entsprechenden Eliten. "Vielleicht ist eine Stimme von außerhalb notwendig... Was für ein Echo hätten wir hierzulande, wenn eine Diskussion über die polnische Kultur in der französischen oder deutschen Presse begänne! Glauben Sie nicht?"
Poets & Writers (USA), 01.09.2009

In China erfreut sich seit einigen Jahren ein neues Genre in der Literatur großer Popularität, verkündet Stephen Morison Jr.: der Bürokratenroman. "Fans behaupten, dass diese Romane sehr unterhaltsam sind und gleichzeitig wertvolle Einblicke in das byzantinische System von Verhaltensweisen und Etikette liefern, das in China der Schlüssel zum Erfolg in Bürojobs ist. Aber der Trend könnte auch einen viel wichtigeren Wandel in der Kultur signalisieren - einen, der über literarische Geschmacksfragen hinausgeht. Wang Yuewen wird weithin das Verdienst zugeschrieben, 1998 mit 'Painting' den ersten erfolgreichen Bürokratenroman geschrieben zu haben. 'Ich habe mit der Zeit gelernt, dass es sehr schwer ist, wegen seines Talents oder harter Arbeit gefördert zu werden', sagte der frühere Bürokrat in einem Interview mit der China Daily. Also wandte er sich der Literatur zu und schrieb Romane, die von seiner persönlichen Erfahrung im Umgang mit der komplizierten Maschinerie der kommunistischen Regierung und der staatskontrollierten Fimen profitieren. Seit dem blüht das Genre."
Außerdem: Alex Dimitrov stellt das Blog "The Invisible Library" vor. Es ist Büchern gewidmet, die in Romanen erwähnt werden, die es aber gar nicht gibt. Zum Beispiel "Die endlose Rose" von Hans Reiter in Bolanos "2666" oder "When the Train Passes" von Elisabeth Ducharme in Vladimir Nabokovs "Bend Sinister". Gerade gab es in London eine Ausstellung zu diesen unsichtbaren Büchern.
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