
Der
Krieg in Afghanistan ist vorbei, für uns im Westen jedenfalls. Nach 20 Jahren Aufbauarbeit, mit Geld in der Höhe (auf heutige Verhältnisse umgerechnet) des Marshallplans für Deutschland - wie konnte der Einsatz in einem
derartigen Desaster enden? Westliche Halbherzigkeit und eine Korruption, die Teile der afghanischen Elite zu Großgrundbesitzern in den Golfstaaten werden ließ? So jedenfalls
denkt der britische Historiker
Adam Tooze: "Das charakteristische Merkmal des modernen Afghanistans ist die
ungleiche Entwicklung und die große Ungleichheit. Die sechs
Großstädte Kabul, Mazar, Dschalalabad, Herat, Kundus und Kandahar sind eine Welt für sich im Vergleich zu den anderen
28 Provinzen des Landes. Kritiker des Hilfssystems bezeichnen Afghanistan als 'Rentierstaat'. Die westliche Hilfe, die in ein hierarchisches und balkanisiertes soziales und politisches System fließt, hat zur Entstehung von Parallelwirtschaften geführt. Die Eliten haben das Wachstum für sich monopolisiert, während die Menschen am unteren Ende der Gesellschaft das Nachsehen haben. Die Taliban stützen sich auf eine solide Organisation, auf ihr Engagement und auf eine umfangreiche Schattenwirtschaft. Aber was ihre Bewegung letztlich am Leben erhält, ist das
Elend auf dem afghanischen Lande und die Wut vieler junger Männer gegen die allgegenwärtige Korruption und Ungerechtigkeit. ... Die grandiosesten Pläne der USA für Afghanistan sahen das Land als eine wichtige Station auf einer '
Neuen Seidenstraße' vor. General Petraeus und ein 'Tigerteam' im US Central Command (CentCom) sahen in Afghanistan ein wichtiges Glied einer transkontinentalen Handelsroute. Handel und Wirtschaftswachstum sollten die Lücke füllen, die nach dem Ende der amerikanischen Truppenverstärkung entstand. Am 20. Juli 2011 begrüßte die US-Außenministerin Hillary Clinton in einer Rede in Indien die CentCom-Initiative Neue Seidenstraße. Doch die Idee wurde
nie umgesetzt. ... Es war
China, das die Vision der Neuen Seidenstraße mit seiner 2013 beschlossenen Belt and Road Initiative (BRI) aufgriff. Aber Chinas BRI umgeht Afghanistan und überlässt es den Amerikanern."
Ido Vock
knabbert noch an der Tatsache, dass amerikanische Regierung und die Medien die
Realität derart unterschätzt haben, dass sie noch am 12. August glaubten, Kabul könnte sich noch drei Monate gegen die Taliban halten: "Die Regierung Biden wird sich auch fragen lassen müssen, ob der Abzug einer
historisch niedrigen Truppenstärke - nur rund 3.500, was einem Höchststand von rund 110.000 im Jahr 2011 entspricht - den Zusammenbruch des afghanischen Staates wert war. Die Verbündeten der USA, die in Afghanistan waren, werden sich fragen, ob es richtig war, dem amerikanischen Beispiel zu folgen und ihre Truppen ebenfalls abzuziehen."
Lynne O'Donnell
erzählt von ihrer Flucht aus der Provinz Balkh, die von
einer Gouverneurin regiert wurde (sie, ihr Ehemann und der Fotograf Massoud Hossaini flohen mit O'Donnell). Dabei kamen sie auch durch Bamiyan, dessen frisch ernannten Gouverneur O'Donnell interviewte: "Er ließ in unser Gespräch fallen, dass die Taliban, die einen Bezirk in einem abgelegenen Tal kontrollieren,
Listen aller Mädchen und Frauen verlangt hatten und sie mit jungen bewaffneten Aufständischen verheiraten wollten. Die Geschichte, die Massoud und ich berichteten, bestätigte die erschreckenden Gerüchte, die seit Beginn des Vormarsches der Taliban im Mai im Umlauf waren. Es gab enorme Gegenwehr. Taliban-Sympathisanten und Trolle beschuldigten uns der Lüge, der Erfindung, der Fake News - und das, obwohl wir über ein halbes Dutzend Quellen sowie Video- und Fotomaterial von unseren Gesprächspartnern verfügten."