Magazinrundschau - Archiv

The New York Times

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Magazinrundschau vom 20.02.2024 - New York Times

David Marchese hat sich für das NYT Magazine mit der Autorin Marilynne Robinson unterhalten. Es geht um Obama, Gott, ihr neues Buch "Reading Genesis" - eine Analyse des Alten Testaments - und, ganz am Rande, über die Angst des modernen Künstlers, nicht mehr frei sprechen zu dürfen. Ms. Robinson hat wenig Geduld mit solchen Klagen: "Viele Freiheiten werden dadurch beschnitten, dass die Menschen davon ausgehen, dass ihre Freiheit beschnitten wird. Ich höre die Leute sagen: 'Ich würde mich nicht trauen, das zu sagen. Jemand könnte Einspruch erheben.' So funktioniert die Tyrannei. Mein ganzes Leben lang haben sich Künstler und Schriftsteller so präsentiert, als würden sie den Erwartungen des Bürgertums zuwiderhandeln. Das ist der schwarze Rollkragen der ganzen Sache. Und jetzt stehen sie da, vielleicht gegen die Erwartungen von irgendjemandem, und tun so, als ob sie sich davon einschüchtern lassen müssten, als ob sie ihr Verhalten danach ausrichten müssten. Wenn es zum ersten Mal in meinem Leben tatsächlich wahr ist, dass es ein gewisses Risiko bedeutet, konträr zu sein, dann sollte man das Risiko eingehen! Das ist der Punkt! ... Es erschreckt mich irgendwie, zu denken, dass man das von sich selbst nicht erwarten muss."

John Eligon erzählt vom Kampf des Studenten Manqoba Motsa gegen einen König: Mswati III regiert Eswatini, ehemals Swasiland, als absoluter Herrscher, und er verkörpert ein Phänomen, das fast nie erwähnt wird, wenn hierzulande von Afrika die Rede ist und das sicherlich ebenso sehr wie westlicher Kolonialismus ein Fluchtgrund für viele junge Männer ist: die Gerontokratie: "Während die Welt ergraut und Nationen Angst haben zu erodieren, weil sie nicht genügend Arbeitskräfte haben, um ihre alternde Bevölkerung zu versorgen, befindet sich Afrika - der jüngste Kontinent mit einem Durchschnittsalter von 19 Jahren - am anderen Ende des Spektrums. Afrika verfügt über genügend junge Menschen, um wirtschaftliches Wachstum und globalen Einfluss zu erzielen. Zur Enttäuschung seiner jungen Bevölkerung hat Afrika aber auch einige der dienstältesten Staatsoberhäupter der Welt, die oft ihren persönlichen Vorteil und ihre politische Langlebigkeit über das Wohlergehen ihrer Nationen stellen... Die zehn Länder mit den weltweit größten Unterschieden zwischen dem Alter des Staatsoberhaupts und dem Durchschnittsalter der Bevölkerung liegen alle in Afrika, so die Daten des Pew Research Center. Am größten ist der Unterschied in Kamerun, wo Präsident Paul Biya, der 1982 sein Amt antrat, 91 Jahre alt ist. Das Durchschnittsalter liegt dort unter 18 Jahren - ein Unterschied von mehr als 70 Jahren."

Außerdem: Abdi Latif Dahir berichtet aus Kenia über die erschreckende Zunahme von Morden an Frauen in Afrika: "Der Anstieg der Tötungen ist Teil eines umfassenderen Musters, das sich in wirtschaftlich schwierigen Zeiten und bei Pandemien verschlimmert hat, sagen Menschenrechtsaktivisten. Im Jahr 2022 wurden in Afrika schätzungsweise 20.000 geschlechtsspezifische Morde an Frauen registriert, die höchste Rate weltweit, so die UNO. Experten glauben, dass die wahren Zahlen wahrscheinlich höher sind. 'Das Problem ist die Normalisierung von geschlechtsspezifischer Gewalt und die Rhetorik, dass Frauen entbehrlich sind', sagte Njeri wa Migwi, Mitbegründerin von Usikimye - Suaheli für 'Sei nicht still' - einer gemeinnützigen kenianischen Organisation, die mit Opfern von geschlechtsspezifischer Gewalt arbeitet. ... Kritiker sagen, dass viele afrikanische Politiker und auch die Polizei das Problem ignorieren oder herunterspielen oder sogar den Opfern die Schuld geben."

Magazinrundschau vom 10.10.2023 - New York Times

Mexiko ist für Journalisten zum Spiegelkabinett geworden: Es gibt keine Ebene des Staates mehr, die nicht wurmstichig ist. Wenn Journalisten von Lokalregierungen bedroht werden, werden sie von der Zentralregierung in Safe Houses gesteckt - aber sind sie dort sicher? Seit 2006 wurden mindestens 128 Journalisten ermordet, erzählt Nicholas Casey in einer tieftraurigen Reportage. Einen Fall greift er heraus, das Städtchen Zitácuaro, wo der Journalist Armando Linares López und einer seiner Kollegen umgebracht worden sind. Sie hatten ihre Redaktion durch eine Doppeltür abgesichert, hatten sich eine Waffe zugelegt, hatten Lösegeld bezahlt. Es nützte alles nichts. Übrig geblieben ist nur mehr Linares' Kollege Joel Vera Terrazas: "Am Tag nach Linares' Tod beschloss Vera, Monitor Michoacán zu schließen. Ab jetzt besuchte niemand mehr das Rathaus mit Fragen, und es gab keine Sendungen mehr aus dem Newsroom. Die Website wurde geschlossen, abgesehen von einer Facebook-Seite. Die jahrelangen Recherchen in Zitácuaro verschwanden aus dem Internet. Diejenigen, die sie angegriffen hatten, hatten gewonnen. Die Nachricht über den Mord an Linares verbreitete sich. Ein anderer lokaler Journalist hörte Gerüchte, dass weitere Reporter ermordet werden sollten. Als der Journalist sah, dass Motorräder in der Nachbarschaft kreisten, floh er. Kurz darauf tat ein anderer Lokaljournalist das Gleiche. Das Pressekorps in Zitácuaro verschwindet."

Die Netflixserie "Tijuana" wurde leider nach einer Staffel eingestellt, sie erzählt ziemlich genau, wie Gewalt gegen Journalisten in Mexiko funktioniert.
Stichwörter: Mexiko, Drogenkartelle

Magazinrundschau vom 29.08.2023 - New York Times

Caravaggio, Der Lautenspieler. Um 1595. Metropolitan Museum, New York.


Großartige Geschichte, klingt wie eine Familiensaga: "Die Wildensteins". Und ist auch eine, sehr lesenswert erzählt von Rachel Corbett: Keiner kannte die Familie, aber sie existiert seit fünf Generationen. Gegründet wurde die Dynastie von dem Pariser Schneidermeister Nathan Wildenstein um 1870, der durch Zufall an ein paar Gemälde von François Boucher and Maurice-Quentin de La Tour geriet und seitdem nicht mehr mit dem Kunsthandeln aufhörte. Heute sind die Wildensteins wahrscheinlich vielfache Milliardäre, ihnen gehören allein 180 Bonnards, und jeder einzelne wird auf 10 bis 20 Millionen Dollar geschätzt. Aber die Familie hatte auch beste Beziehungen zu Picasso, und im Met hängt ein Caravaggio aus ihrem Besitz, "Der Lautenspieler", der auf 100 Millionen Dollar geschätzt wird. Jetzt zeigt das Imperium Risse, dank der Pariser Anwältin Claude Dumont Beghi, die die Ex von Daniel Wildenstein vertrat, Sylvia Roth Wildenstein. Sylvia hatte durch Manipulationen von Daniels Söhnen auf ihre Erbe verzichtet, bevor sie begriff, um welchen pharaminösen Reichtum sie betrogen worden war. Nun droht den überlebenden Wildensteins riesiges juristisches Ungemach, das auch einiges über die dunkelsten Seiten des Kunstmarkts aufdecken wird: "In einem Prozess im September wird sich herausstellen, ob die Familie und ihre Partner eine gigantische Steuerrechnung schulden. Als die Staatsanwaltschaft das letzte Mal vor einigen Jahren gegen die Wildensteins vorging, forderte sie 866 Millionen Euro - 616 Millionen Euro Steuernachzahlung und eine Geldstrafe von 250 Millionen Euro sowie eine Gefängnisstrafe für Guy. Die Folgen könnten mehr als nur das Kunstimperium der Familie zum Einsturz bringen. Der Fall bietet einen ungewöhnlichen Einblick in die Art und Weise, wie die Ultrareichen den Kunstmarkt nutzen, um Steuern zu hinterziehen - und manchmal sogar Schlimmeres. Bei der Durchsuchung der Wildenstein-Tresore wurden Kunstwerke gefunden, die seit langem als vermisst galten. Dies gab Anlass zu Spekulationen, dass die Familie möglicherweise im Besitz von NS-Raubkunst oder anderweitig gestohlener Kunst war, und führte in den letzten Jahren zu einer Reihe weiterer Klagen gegen die Familie. Finanzielle Manipulationen haben der Familie Hunderte von Millionen Dollar erspart, so der Vorwurf der Staatsanwälte, aber ihre Behandlung von Sylvia könnte sie weit mehr kosten - und vielleicht zum Ende ihrer Dynastie führen."

Den Philosophen Daniel C. Dennett zählt David Marchese neben Christopher Hitchens, Richard Dawkins und Sam Harris zu den "vier Reitern des Atheismus". Nun hat er seine Memoiren geschrieben: "I've been thinking". "Wir brauchen keine Wunder", sagt er im Gespräch, "wir müssen nur verstehen, wie die Welt wirklich ist, und das ist unglaublich wundervoll." Ja, er kann schon verstehen, was Leute treibt, an Gott zu glauben, sagt er auch, aber "mehr Leute glauben an den Glauben an Gott als dass sie an Gott glauben. Das sollten wir begreifen und auch begreifen, dass Menschen, die an Gott glauben, manchmal nur sehr ungern in Betracht ziehen, dass sie sich irren könnten. Was ist, wenn ich mich irre? Das ist eine Frage, die ich mir oft stelle. Diese Menschen wollen sich diese Frage nicht stellen, und ich verstehe, warum. Sie haben Angst vor dem, was sie entdecken könnten. Ich möchte ihnen ein Beispiel sein für einen, der diese Frage stellt und nicht vom Blitz erschlagen wird. Ich werde oft mit den Worten zitiert: 'Es gibt keine höfliche Art, Menschen zu sagen, dass sie ihr Leben einer Illusion gewidmet haben.' Eigentlich habe ich gesagt: 'Es gibt keine höfliche Art und Weise, die Leute zu bitten, darüber nachzudenken, ob sie ihr Leben einer Illusion gewidmet haben, aber manchmal muss man ihnen diese Frage stellen.'"

Magazinrundschau vom 15.08.2023 - New York Times

Das New York Times Magazine bringt ein ganzes Dossier zu fünfzig Jahren HipHop, und was soll man sagen, es ist blamabel. Den Aufmacher schreibt der Pulitzer-preisgekrönte Popjournalist Wesley Morris. Titel: "How HipHop Conquered the World". Wer jetzt erwartet, erzählt zu bekommen, wie das Genre lauter andere Länder und andere Sprachen eroberte, hat sich geirrt. Kein Wort über ein anderes Land. Kein Wort auch über die Schattenseiten des Genres, das über alle anderen Genres schwarzer Musik in den USA triumphierte, den Machismo, die Gewalt - ein Artikel im Dossier ist 63 "zu jung gestorbenen" Rappern gewidmet, nicht selten haben sie sich gegenseitig ermordet - über die Anschlussfähigkeit an Islamismus und Antisemitismus, über den obszönen Konsumkult und die weit verbreitete Homophobie. Morris kaut statt dessen - die Multimillionäre Jay Z, Will Smith und Snoop Dog fest im Blick - ausschließlich auf dem unverdaulichen Knochen namens "Rassismus" herum. Der Hiphop habe zwar die Welt erobert, und doch trage "so mancher Rapper, so mancher Rap-Fan eine Last auf der Schulter. Denn es heißt schon was, nach einem halben Jahrhundert immer noch fürchten zu müssen, dass die Dinge, die man geschaffen hat, womöglich mehr geschätzt werden als die Menschen, die sie geschaffen haben. Dies ist natürlich ein kontinuierliches Problem: Jede Phase schwarzer künstlerischer Errungenschaften durchläuft diese Zone der kognitiven Dissonanz. Das Negro Spiritual ist die andere große amerikanische Musik, deren Existenz ein Verbrechen beleuchtet. Aber die Spirituals suchten die Erlösung von der Erbsünde dieses Landes. Hip-Hop erwartet keine Erlösung. Seine Macher werden von einer alternativen Realität angetrieben. Vielleicht will niemand, dass wir Erfolg haben. Also werden wir uns selbst erlösen. Lasst uns daraus ein Imperium aufbauen."

Weitere Artikel im Dossier: Tom Breihan porträtiert den 57-jährigen West-Coast-Rapper Too Short. Ein  hübsches kleines Online-Special beleuchtet, wie HipHop die englische Sprache veränderte. Niela Orr behauptet, dass die Zukunft des HipHop ab jetzt weiblich ist. Daniel Levin Becker erzählt die "kurze Geschichte des Bling".

Magazinrundschau vom 08.08.2023 - New York Times

Han Zhang porträtiert den Bestseller-Autor Hao Qun, der unter dem Namen Murong Xuecun schreibt. Seine Karriere ist beispielhaft, denn sie verlief entlang den Phasen der Öffnung - und Schließung - der chinesischen Öffentlichkeit. Er begann in der Zeit, als Twitter oder Google in China noch zugänglich waren, thematisierte den neuen Mittelstand, auch in seiner Leere, wurde immer häufiger von der Polizei "zum Tee" eingeladen, inoffiziellen Verhören, wo er auch mit Schlägen bedroht wurde. Als er nicht mal über Covid schweigen wollte, wurde es ihm zusehends unmöglich zu schreiben. "Er veröffentlichte nie wieder ein Buch in China und verdiente seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Drehbüchern für Filme und Fernsehsendungen. Als er bei einem Abendessen aus Gewohnheit nach der Rechnung griff, hielten ihn seine Freunde davon ab und rieten ihm, an seine Zukunft zu denken. Zuletzt konnte er sich gerade noch eine Einzimmerwohnung außerhalb des fünften Rings von Peking leisten. Sechsunddreißig seiner Freunde - Schriftsteller, Gelehrte, Aktivisten und Anwälte - waren inhaftiert oder zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Spät nachts, beim Einschlafen, fragte er sich, wann er selbst an der Reihe sein würde. 'Ich hatte keine langfristigen Pläne mehr', sagt er, 'ich hatte das Gefühl, dass ich bereits mit einem Fuß im Gefängnis stand.'" Heute lebt er in Melbourne und lernt Englisch.
Stichwörter: China, Chinesische Literatur

Magazinrundschau vom 18.07.2023 - New York Times

Alex W. Palmer recherchiert zum "Halbleiter-Krieg" der USA gegen China. Erfunden wurde er im Grunde von Donald Trump, als er sich entschloss, Huawei zu sanktionieren, weil der Konzern wiederum gegen Iran-Sanktionen verstoßen hatte. Die gesamte Chip-Industrie, so Palmer, hängt ab von amerikanischen Firmen, Patenten und Softwarepaketen, auch wenn wichtige Hersteller von Maschinen aus Europa (Niederlande und Deutschland) kommen und Taiwan die Halbleiterproduktion dominiert. Bei Huawei funktionierten die amerikanischen Sanktionen jedenfalls: "Laut der Marktanalysefirma Canalys war Huawei im Jahr 2020 mit einem Marktanteil von 18 Prozent der größte Smartphone-Verkäufer der Welt und übertraf damit sogar Apple und Samsung. Im Jahr 2021 brachen die Einnahmen von Huawei um fast ein Drittel ein, und das Unternehmen verkaufte eine seiner Smartphone-Marken, um sich über Wasser zu halten. Im Jahr 2022 war sein Anteil auf 2 Prozent gesunken." Das heißt aber nicht, das der Krieg gewonnen wäre, denn China arbeitet natürlich an alternativen Infraktrukturen. Und "Huawei ist nach wie vor einer der weltweit größten Geldgeber für Forschung und Entwicklung, mit einem Budget von rund 24 Milliarden Dollar im vergangenen Jahr und einem Forschungsteam von über 100.000 Mitarbeitern."

Magazinrundschau vom 20.06.2023 - New York Times

Aufwändig aufbereitet hat die New York Times die Tagebücher, die drei junge Iranerinnen fünf Wochen lang führten. Darin halten sie all die Ereignisse fest, die ihnen seit Anfang März in Teheran und Kurdistan widerfuhren, Fortschritte und Rückschläge der Protestbewegung, die erkämpften Freiheiten ebenso wie die grausamen Repressalien, Alltägliches und Bestürzendes: "18. März. KIMIA: "Ich war mit einer Freundin auf dem Markt. Es war sehr voll, mit vielen Straßenhändlern, die Artikel für Newroz verkauften. Ein Musiker spielte auf seinem Instrument, auch aus den Geschäften klang laute Musik. Als ich darauf wartete, die Straße zu überqueren, begann ich im Rhythmus der Musik leicht zu tanzen. Ein Polizist nickte mir zu und lachte. Es gab mehrere Mädchen und Frauen, darunter auch ich, ohne Kopftuch. Endlich kam ich in Newroz-Stimmung. PARNIAN: Ich las die Nachrichten auf Twitter, als ich auf das Bild eines braun gekleideten Mannes stieß. In dem Tweet stand, dass sich die Familien der zum Tode verurteilten Gefangenen vor dem Zentralgefängnis von Urmia versammelt haben. Mohajeddin Ibrahimi, ein politischer Gefangener, sollte morgen mit dem frühen Gebetsruf hingerichtet werden. 'Lasst uns die Stimme unserer Landsleute sein', hieß es in dem Tweet. Hinrichtungen sind zu dem alles überlagernden Thema geworden; die Menschen verfolgen die Fälle genau, und wenn sie hören, dass ein Demonstrant im Morgengrauen hingerichtet werden soll, eilen sie zum Gefängnis und stehen die ganze Nacht vor den Mauern."
Stichwörter: Kurdistan

Magazinrundschau vom 13.06.2023 - New York Times

Ah, die Welt kann so glamourös sein. Selbst ein Buch über Pilze kann Modeschöpferinnen dazu bringen, ganze Kollektionen ihnen zu Ehren zu entwerfen (wunderbare Bilder aus der Kollektion von Iris van Herpen 2021) und Hermès mit Leder aus ihren Stoffwechselprodukten (Bild) experimentieren zu lassen. Das Buch muss allerdings von dem elfenhaften Merlin Sheldrake, einem klugen Zauberwesen aus Britanniens Countryside geschrieben sein, selbst eine verwobenen Existenz, denn seine Brüder, mit denen er so eng verbunden ist wie ein Pilz mit sich selbst, brillieren als Musiker, und Dichter und seine Schwägerinnen als Keramerikerinnen. Und alle leben in umgebauten Kirchen, die aussehen wie ein Traum aus dem Architectural Digest. "Entangled Life" ("Verwobenes Leben") hieß sein Buch, das auch in Deutschland begeisterte Kritiken erhielt, ohne merklich zum Kultbuch aufgestiegen zu sein - aber jetzt vielleicht. Viele Bücher sind in letzter Zeit über Pilze erschienen, schreibt Jennifer Kahn in ihrem Porträt des Autors, alles respektable Monografien. Aber "Sheldrakes eigenes Bestreben ist sowohl träumerischer als auch ehrgeiziger - er möchte, dass wir die Welt und unseren Ort darin anders sehen. Eine Sehnsucht zieht sich durch 'Entangled Life', der Wunsch, mit diesen fremden Lebewesen zu verschmelzen, die die Welt mit Millionen von Ranken, den Hyphen, erkunden, von denen jede gleichzeitig als unabhängiges Gehirn, Mund und Sinnesorgan funktioniert. Wir bilden uns ein, Individuen zu sein, stellt Sheldrake fest, obwohl wir in Wirklichkeit Gemeinschaften sind, deren Körper so sehr von Mikroben bewohnt werden und von ihnen abhängig sind, dass schon der Begriff der Individualität bizarr erscheint. Warum denken wir an ein 'Ich', wo es doch richtiger wäre, uns als ein wandelndes Ökosystem zu bezeichnen?" Wie es wäre ein Pilz zu sein, werde Sheldrake zuweilen gefragt: "Stell dir vor, du hättest keinen Kopf, kein Herz, kein Operationszentrum", setze er dann an. "Du könntest mit deinem ganzen Körper schmecken. Du könntest ein Fragment deines Zehs oder deines Haares nehmen und daraus würde ein neues Du wachsen - und Hunderte dieser neuen Dus könnten zu einer unvorstellbar großen Einheit verschmelzen." Ozeanisch.

Ebenfalls im New York Times Magazine porträtiert Nicholas Casey den spanischen Spitzel José Manuel Villarejo Pérez, der einiges zum Fall des Königs Juan Carlos beitrug.

Magazinrundschau vom 16.05.2023 - New York Times

Eine Stunde Lesezeit veranschlagt die New York Times, aber es ist eine packende Lektüre, auch wenn sie in absoluter Traurigkeit endet. Katie Engelhart erzählt die Geschichte der dementen Diane Norelius aus Iowa und des Kampfes ihrer Töchter und ihres Liebhabers um sie. Am Ende sind sie natürlich alle Verlierer - eine Geschichte, die man sich mit Meryl Streep oder Glenn Close als demente Mutter verfilmt vorstellen kann. Die Frage, die Engelhart in ihrer Reportage exemplifiziert, ist eine philosophische. Was ist, wenn das zweite Ich einer Person etwas anderes will, als das erste Ich immer beteuert hat? Das Problem wurde zuerst im Journal of the American Medical Association (JAMA) anhand einer Frau namens Margo ausgelotet, die in ihrer Demenz absolut glücklich war. Aber was ist, wenn sich das "Then self" und das "Now Self" widersprechen? Was wäre gewesen, wenn Margo vor Ihrer Demenz erklärt hätte, keine lebensverlängernden Medikamente bekommen zu wollen, fragt etwa der Philosoph Ronald Dworkin in seinem Buch "Life's Dominion": "Nach Dworkins Ansicht waren es die Wünsche der 'then-Margo', die höheres moralisches Gewicht verdienten. In seinem Buch unterscheidet er zwischen zwei Arten von Interessen: 'erfahrungsbezogen' und 'kritisch'. Ein Erfahrungsinteresse ist reaktiv und körperlich: das Vergnügen, ein Eis zu essen, zum Beispiel. Ein kritisches Interesse sei viel zerebraler; es spiegele den Charakter einer Person wider und wie sie ihr Leben leben wolle. Bei fortgeschrittener Alzheimer-Krankheit, so Dworkin, bestehe die Gefahr, dass kritische Interessen von erfahrungsbezogenen Interessen verdrängt würden. Dennoch seien es die kritischen Interessen, die es verdienten, befriedigt zu werden, denn es seien diese Interessen, die dem menschlichen Leben seinen Sinn und seine Würde gäben - und es sogar in säkularer Weise sozusagen heilig machten." Eine Ansicht, der in der Literatur selbstredend heftig widersprochen wird.

Magazinrundschau vom 09.05.2023 - New York Times

Für solche packende Auslandsreportagen war die New York Times einst berühmt, bevor auch dort postmoderne Befindlichkeitserzählungen à la "Mein Hamster ist divers, mein Leben wird nie wieder sein wie zuvor" dominierten. Robert F. Worth porträtiert den serbischen Gangsterboss Veljko Belivuk, der jüngst in Serbien festgenommen wurde und erstaunlich fröhlich vor Gericht erschien, wohl auch deshalb, weil er engste Beziehungen zur serbischen Politik unterhält. Die Gangsterclans haben unter dem zunehmend populistisch bis autokratisch agierenden Präsidenten Aleksandar Vucic eine immer größere politische Macht gewonnen. Worth erzählt auch mit welch fahrlässiger Duldsamkeit die EU gegenüber Vucic agiert. Für ihn könnten die Gangs im Kosovo zum politischen Erpressungsinstrument werden. "Die Banden spielen bei diesen politischen Scharaden eine wichtige Rolle. Der Norden des Kosovo mit seiner mehrheitlich serbischen Bevölkerung steht nominell unter der Kontrolle der nationalen Regierung in Prischtina. In Wirklichkeit wird er von Gruppen des organisierten Verbrechens beherrscht, die weithin als Verbündete von Vucics Partei gelten und vom US-Finanzministerium beschuldigt werden, mit serbischen Sicherheitsbeamten bei Schmuggelgeschäften konspiriert zu haben. Damit verfügt Vucic über einen wichtigen Hebel, um die regionalen Spannungen zu erhöhen oder zu verringern." Die einzige Hoffnung ist laut Worth, dass sich die Gangs permanent in Bandenkriegen gegeneinander verstricken - nebenbei zeigt seine Reportage aber auch, dass der internationale Kokainhandel neben den Anlaufstationen Rotterdam und Antwerpen auch über den Balkan läuft.