Magazinrundschau
Abhängige brauchen Frustration
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.11.2008. Die amerikanischen Magazine - Nation, NYT, New Yorker - widmen sich diese Woche ausgiebig V.S. Naipaul. The Nation bespricht außerdem Roberto Bolanos nachgelassenen Roman "2666", der laut Economist geradezu ein Publikumserfolg ist. Die ungarischen Magazine fühlen den Puls des Kalten Krieges zwischen Ungarn und der Slowakei. Prospect sieht die Blase aller Blasen platzen. Jose Saramago outet sich in El Pais Semanal als begeisterter Blogger. Der Espresso staunt über einen total aufmüpfigen L'Osservatore Romano. In der Gazeta Wyborcza erklärt Dubravka Ugresic: Serbokroatisch - das ist modern. In der New York Times ruft Kevin Kelly das Zeitalter der Bildschirme aus.
The Nation (USA), 08.12.2008

"Für die New Yorker Kritiker waren Schriftsteller Menschen; für Wood sind Menschen, und auch Schriftsteller, Ideen." William Deresiewicz setzt sich auf neun Seiten mit dem Star der amerikanischen Literaturkritik James Wood und dessen neuem Buch "How Fiction Works" auseinander. Bei allen Vorzügen Woods, die ausführlich gewürdigt werden - an die New Yorker Kritiker Edmund Wilson, Lionel Trilling (mehr hier und hier), Alfred Kazin, Irving Howe und Elizabeth Hardwick reicht er für Deresiewicz nicht heran. "Diese Kritiker interessierten sich für Literatur, weil sie sich für Politik, Kultur, das moralische und das gesellschaftliche Leben interessiert haben und dafür, wie diese sich gegenseitig entblößen. Ins Zentrum ihrer Untersuchungen stellten sie die Literatur, weil sie ihre Fähigkeit erkannten, das Leben nicht nur zu repräsentieren, sondern, wie Matthew Arnold sagte, zu kritisieren - Fragen zu stellen, wo wir stehen und in welcher Beziehung unser Standpunkt zu dem Punkt steht, an dem wir stehen sollten. Sie waren keine Ästheten, sie waren, in weitestem Sinne, Intellektuelle."
Scott Sherman interessiert sich nicht die Bohne für Naipauls Sexualität und seine Beziehung zu Frauen (das Thema wird auf Seite zehn seiner zwölfseitigen Besprechung von Patrick Frenchs Naipaul-Biografie angesprochen). Auch hätte er gern mehr über Naipauls Bücher gelesen, aber alles in allem ist diese Biografie für ihn doch eine "eindrucksvolle Leistung". Am Schluss zitiert er Naipaul, der lange vor der Kundera-Affäre, 1994, erklärt hatte: "Das Leben eines Autors ist legitimer Gegenstand von Untersuchungen; und an der Wahrheit sollte nicht gespart werden."
New Yorker (USA), 01.12.2008

Entzugskliniken in Hollywood funktionieren etwas anders als Einrichtungen für gewöhnliche Sterbliche, beschreibt Amanda Fortini in ihrer herrlich new-yorkerischen Reportage über die Zunahme so genannter Luxus Rehabs wie etwa Wonderland. Dort dürften die Alkohol-, Drogen- und Medikamentenabhängigen Handys und Computer benutzen, Schauspieler Drehtermine wahrnehmen und Musiker auf Tour gehen. Viele Spezialisten halten eine solche Behandlung für falsch: ",Abhängige brauchen Frustration, Grenzen und Struktur. Sie müssen lernen, diese Dinge auszuhalten?, erklärt Dr. Drew Pinsky, Leiter des angesehenen Entzugsprogramms im Las Encinas Hospital in Pasadena. (...) Und John MacDougall, Leiter der psychologischen Beratungsstelle im Hazelden, sagte mir: "Hier geht keiner raus - außer zur Beerdigung eines nahen Verwandten. Wir verlangen, dass man 28 Tage bleibt. Also, ich kann mich nur an einen einzigen Ausnahmefall in meinen vierzehn Jahren hier erinnern, und der musste ein Übereinkommen bei den Vereinten Nationen vorstellen."
Weiteres: John Cassidy porträtiert den Chef der amerikanischen Notenbank Ben Bernanke, der sich für seinen Kampf, das amerikanische Finanzsystem vor dem endgültigen Kollaps zu bewahren, Radikalität verschrieben hat. Sasha Frere-Jones stellt den Musikproduzenten und DJ Steven Ellison alias Flying Lotus vor. Und David Denby sah im Kino Gus Van Sants Verfilmung der Lebensgeschichte des amerikanischen Politikers und Bürgerrechtlers der Schwulen- und Lesbenbewegung Harvey Milk "Milk" mit Sean Penn in der Hauptrolle und die Vampir-Romanze "Twilight" von Catherine Hardwicke. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "In Other Rooms, Other Wonders" von Daniyal Mueenuddin und Lyrik von Clive James und Stanley Moss.
HVG (Ungarn), 22.11.2008

Nepszabadsag (Ungarn), 22.11.2008

Magyar Narancs (Ungarn), 20.11.2008

Elet es Irodalom (Ungarn), 14.11.2008

Der Historiker und Politologe Daniel Hegedüs versucht, dem slowakisch-ungarischen Konflikt auch etwas Positives abzugewinnen: "Einen Gewinn wird dieser kleine slowakisch-ungarische Kalte Krieg bestimmt noch bringen: Die Erkenntnis, dass es an der Zeit ist, zunächst vor unserer eigenen Haustür zu kehren. Ein Ungarn, in dem der Einfluss der extremen Rechten auch für den internationalen Medienkonsumenten sichtbar zunimmt, in dem rassistische Gewalttaten gegen Roma an der Tagesordnung sind, in dem nationale Symbole anderer Staaten verbrennt und Ortstafeln in Sprachen der Minderheiten umgestürzt werden - solch einem Ungarn fehlt die moralische Grundlage, um gegenüber anderen Länder als Beschützer der Minderheitenrechte aufzutreten. Und ohne moralische Grundlage ist auch der politische Spielraum sehr klein.?
Prospect (UK), 01.12.2008

Weitere Artikel: Mutig krönt Julian Gough die Dichterin Sarah Palin zur poeta laureata. David Goodhart stellt einerseits fest, dass die soziale Mobilität in Großbritannien gerne unterschätzt wird - dass die Gesellschaft allerdings am oberen wie am unteren Ende nach wie vor sehr unbeweglich ist. Toby Young schildert den Aufstieg des Celebritariats. Michael Lind fragt nach dem Abebben der ersten Euphorie nach der "Bedeutung von Obama".
Polityka (Polen), 21.11.2008

El Pais Semanal (Spanien), 23.11.2008
Der Schriftsteller Manuel Rivas unterhält sich mit dem Literaturnobelpreisträger und begeisterten Blogger Jose Saramago: "Sie könnten regelmäßig in jeder großen Tageszeitung schreiben - weshalb stattdessen ein Blog? Ist es der Wunsch nach Dissidenz?", fragt Rivas. Darauf Saramago: "Vielleicht ist es, als könnte man noch einmal ganz von vorne anfangen: Schreiben ohne jede Einschränkung. Die Zeitungen würden dafür bezahlen, natürlich. Aber sehen Sie, Obama hat gewonnen, ich freue mich darüber und setze mich hin und schreibe einen Artikel in meinem Blog, in dem ich unverblümt fordere, Guantanamo zu schließen und die Wirtschaftsblockade gegen Kuba aufzuheben. Und so zu allem, was mir gerade einfällt. Natürlich integriert einen am Ende das System. Im Grunde ist man bloß die Zierkirsche auf der Torte. Sie tolerieren dich, lachen über dich - immer dieser Saramago... Aber trotzdem gebe ich nicht auf: Ich fühle mich täglich mehr wie ein libertärer Kommunist. Drei Fragen müssen wir uns das ganze Leben lang stellen: Warum? Wofür? Für wen?"
Times Literary Supplement (UK), 24.11.2008

Außerdem: Der Labor-Politiker Denis MacShane hat ein Buch über den neuen Antisemitismus geschrieben, "Globalising Hatred", das Christopher Hitchens ziemlich überzeugend findet: "Es gibt ein Gefühl, dass jede Infragestellung dessen was man als jüdische Macht bezeichnet, aufregender und möglicherweise tabubrechender ist" als zum Beispiel eine Kritik an Pakistan.
Rue89 (Frankreich), 22.11.2008
Wer hat die Romane des kongolesischen Schriftstellers und Dramatikers Sony Labou Tansi geschrieben? Hatte er Ghostwriter? Dieser Frage geht Barry Saidou Alceny von der westafrikanischen Tageszeitung L'Observateur Paalga nach. Argwohn habe es schon lange gegeben, nun stelle das Buch "Sony Labou Tansi, ecrivain de la honte et des rives magiques du Kongo" des Dozenten und Forschers Jean-Michel Devesa klar, was es damit auf sich hat: Offenbar haben Lektoren seines Verlags Seuil stark in die Texte eingegriffen. "Verbesserungen unter dem Vorwand, dass Sony Labou Tansis Texte etwas Lifting benötigten, um vom Lektorat akzeptiert zu werden. (...) Selbst wenn sich herausstellen sollte, dass andere Sony Labou Tansi beim Umschreiben seiner Bücher geholfen haben sollten, wäre das eher bedauerlich als tadelnswert. Welcher junge Autor hätte die Entschlossenheit, kleine Variationen abzulehnen, wenn dies der Preis für die Veröffentlichung seines ersten Romans ist?" Endgültige Klärung werde es geben, sobald der Forschung Tansis Manuskripte und Notizbücher zur Verfügung stünden und damit eine "wahrhaft 'genetische' Kritik" möglich werde.
Tygodnik Powszechny (Polen), 23.11.2008

Nur online nachzulesen: Letzte Woche starb einer der bekanntesten polnischen Comiczeichner Janusz Christa (hier ein englisches Porträt). Mit der Serie der Abenteuer von "Kajko und Kokosz" schuf er den polnischen Asterix, schreibt Marcin Turkot. Obwohl der Autor die Realität eines slawischen Dorfes darstellt, das sich der Eroberung durch Raubritter (die "eine Mischung zwischen Kreuzrittern und der kommunistischen Miliz" darstellen) widersetzt, sind Anknüpfungen an die sozialistische Realität kaum übersehbar. "Es verwundert, dass die Zensoren eine so offene Parodie des Systems zugelassen haben. Vielleicht haben sie den Comic, als etwas für Kinder und nur für Kinder geschaffenes, ignoriert. Vielleicht haben sie ihn nicht einmal gelesen", schreibt Turkot. Ein Beispiel: die Raubritter haben sich verpflichtet, die Bauzeit einer Kriegsmaschine um 100 Prozent zu kürzen, und haben die Verpflichtung um 200 Prozent überschritten.
ADN cultura (Argentinien), 22.11.2008
"Das Internet ist eine tickende Zeitbombe." Juan Cruz, Schriftsteller, Journalist, Blogger und Mitherausgeber der spanischen Tageszeitung El Pais, sieht "den Journalismus in Flammen stehen, weil fast alle glauben, das Internet sei ein Medium und nicht bloß ein Material - aber das Internet ist das Gleiche wie ein Kugelschreiber: Man muss damit umgehen können. Im Internet herrscht ein grauenvolles Durcheinander, in dem wir Journalisten für Ordnung sorgen müssen. Nach der Verleihung des Nobelpreises an Jean-Marie Gustave Le Clezio, hieß es im Internet, Le Clezio sei gestorben. Eines Tages werden wir feststellen, dass es den Journalismus, der seine Informationen stets mit drei Quellen abglich, nicht mehr gibt, und dass das Internet ihn zerstört hat. Bis heute weiß niemand, wie man Nachrichten, die im Internet kursieren, verifizieren soll. Manche Leute machen sich deshalb ernsthafte Sorgen."
Espresso (Italien), 21.11.2008

Gazeta Wyborcza (Polen), 22.11.2008
Eine quasi gesamtjugoslawische Autorenschar hat die Gazeta Wyborcza zu einem Gespräch versammelt: Mileta Prodanovic, Bora Cosic, David Albahari, Dubravka Ugresic und Nenad Velickovic unterhalten sich über die Rolle der Schriftsteller und der Sprache in den Balkanländern. Dubravka Ugresic erklärt zum Beispiel, warum sie immer noch Serbokroatisch spricht - und nicht Kroatisch, Serbisch oder Bosnisch: "Schreiben wir in einer Sprache der Vergangenheit? Ich würde eher sagen, in einer Sprache der Zukunft. Die Idee einer reinen Sprache ist alt und verstaubt. Sie stammt wie das Konzept der Nation aus dem 19. Jahrhundert. Heute dagegen mischen sich die Sprachen. Zum Beispiel werden die Polen, denen ich im Flugzug nach Dublin begegnet bin, in Irland einige Wörter aufschnappen, die sie wiederum in ihre Sprache einbringen. Überall auf der Welt sprechen die jungen Leute in gemischten Sprachen. In Amerika ist es Spanglisch. Deswegen ist unser Serbokroatisch oder Kroatischserbisch nur scheinbar rückwärts gewandt, es ist eine durch und durch moderne Sprache."
Economist (UK), 21.11.2008

In weiteren Artikeln geht es um die aussterbende Profession der Schreiber in Mexiko City, das neue Museum für Islamische Kunst (Website) in Qatar und die Zukunft von MTV im Internet-Zeitalter. Besprochen werden unter anderem Daniel Johnsons Studie über das enge Verhältnis von Schach und Kaltem Krieg und Frederic Spotts' Untersuchung (Verlags-Website) über französische Künstler und Intellektuelle unter der Nazi-Besetzung.
Nouvel Observateur (Frankreich), 20.11.2008

New York Times (USA), 23.11.2008

Wie bringt man in Zeiten des Internets und einer zersplitterten Öffentlichkeit noch Werbung an den Mann? Jack Hitt stellt drei Werbern, Benjamin Palmer, Lars Bastholm und Robert Rasmussen, zwei Aufgaben. Erstens: eine Firma, die funktionale Kleidung für Farmer herstellt, sucht ein neues Publikum. Wie erreicht sie das? Zweitens: Die Nachrichtensendung von CBS, "Evening News With Katie Couric" soll vermarktet werden. Die Antworten - es geht immer um Digitalisierung - sind irre!
Charles Isherwood empfiehlt in der Book Review Ethan Morddens flott geschriebene Ziegfeld-Biografie. Und George Packer schreibt sichtlich beeindruckt über Patrick Frenchs Naipaul-Biografie: "French stellt Naipauls gequälte Sexualität ins Zentrum von dessen kreativen Schaffen, im Detail ans Licht gebracht durch verschiedene Quellen, darunter vor allem Naipaul selbst, ohne jemals in Voyeurismus abzugleiten oder in das, was Joyce Carol Oates einmal 'Pathografie' genannt hat."
Kommentieren