Magazinrundschau - Archiv

Prospect

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Magazinrundschau vom 12.09.2023 - Prospect

Der Syrienkrieg ist irgendwie vorbei. Lizzie Porter zieht eine nüchterne und um so deprimierendere Bilanz. Der Westen hat kein Interesse mehr an Syrien, konstatiert sie. Russland unterstützt die Annäherung der arabischen Liga an den blutigen Diktator Baschar al-Assad. Den Ländern der Liga geht es unter anderem darum, den Strom der Drogen (vor allem Captagon) aufzuhalten, mit dem sie in ihrer sonnigen Trübsal von Syrien aus überschwemmt werden. "Beamte aus dem Nahen Osten, die mit dem Prozess der Wiedereingliederung Syriens vertraut sind, sagen, dass es zwecklos gewesen wäre, Forderungen an Präsident Assad und seine Regierung zu stellen. Vielmehr habe man sich auf die Vorteile konzentriert, 'die es hat, wenn sie wieder dabei und nicht mehr draußen sind', so ein hoher Beamter der irakischen Regierung, die sich für eine Normalisierung der Beziehungen zu ihrem Nachbarn eingesetzt hat." Für die sechs Millionen Flüchtlinge, die das Land verlassen haben und die sieben Millionen internen Flüchtlinge ist das keine gute Nachricht, so Porter: "Für viele Flüchtlinge, einschließlich derer, die die Erdbeben in der Türkei überlebt haben, ist eine Rückkehr in ihre Heimat in Syrien einfach nicht sicher. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die arabische Diplomatie, die russische Präsenz im Mittelmeer oder die zerrüttete Regierungsführung daran etwas ändern werden. Viele würden lieber wegbleiben, als in einem Syrien zu leben, das ihnen weder Sicherheit noch Brot auf dem Tisch garantiert." Und es haben längst noch nicht alle Syrer das Land verlassen!
Stichwörter: Syrienkrieg, Syrien

Magazinrundschau vom 29.08.2023 - Prospect

Die Windsors haben mit der Ausbeutung des Meeresbodens Millionen verdient, obwohl er eigentlich - wie das Meer und die Küste - Teil der Allmende ist, kritisiert Guy Standing. "Ein Gemeingut hängt davon ab, dass der 'Souverän' - im Falle des Vereinigten Königreichs die Monarchie - als Verwalter oder Treuhänder fungiert und die Verantwortung für die Erhaltung des Gemeinguts für kommende Generationen trägt. Mehr als 650 Jahre lang hat die Monarchie nach einer Entscheidung von König Edward I. im Jahr 1299 diese positive Verpflichtung akzeptiert, die als Public Trust Doctrine bekannt ist. In den vergangenen 60 Jahren hat die Monarchie jedoch nach und nach das blaue Allgemeingut - den Meeresboden um die britischen Inseln - geplündert und in ein kapitalistisches Imperium verwandelt. Dieses Imperium hat der königlichen Familie in den zehn Jahren seit 2013 schätzungsweise rund 193 Millionen Pfund eingebracht. Der neue König Charles III., der sich als Thronfolger einen Ruf als Umweltschützer erworben hat, hat dieses System geerbt und profitiert weiterhin davon."

Die Bürgermeisterin von Paris Anne Hidalgo sitzt derzeit zwischen allen Stühlen: Sie versucht die Stadt grüner zu machen, lebenswerter, was allerdings nicht nur die Konservativen verärgert, sondern auch den Armen kein Stück aus ihrer Misere hilft, im Gegenteil. Die Royalisierung von Paris läuft auf Hochtouren und der neue König heißt Bernard Arnault, Besitzer des Luxuskonzerns LVMH, erzählt Deyan Sudjic, der den irren Aufwand bei der Inthronisierung von Pharrell Williams als Chefdesigner von Chanel (gehört zu LVMH) auf dem vergoldeten Pont Neuf beobachtet hat: "Während die Vororte jenseits des Stadtrings - wo neun Millionen der 11 Millionen Einwohner leben - noch immer brannten, waren Marion Cotillard, Tilda Swinton und die Muse des Hauses, Vanessa Paradis, beim Open-Air-Laufsteg von Chanel zugegen. ... Anstelle von Jill Biden und dem japanischen Kronprinzen, die der Krönung von König Charles III. beiwohnten, hatte Williams' 1.750-köpfige Gemeinde Beyoncé, Rihanna und A$AP Rocky als Gäste. Anstelle der Chorsänger in der Abtei ließ Williams Golfcarts von Models fahren, die LVMH-Gepäck schleppten. Er eröffnete die Veranstaltung mit einem Konzert eines 50-köpfigen Orchesters, das Lang Lang am Klavier begleitete. Er ließ einen Gospelchor mit 80 Sängern auftreten und beendete die Veranstaltung mit einem Konzert von Jay-Z. Nach dem Auftritt bewirtete Williams die Massen mit Champagner und Burgern, die in Papierservietten mit LVMH-Monogramm eingewickelt waren.  Mit der Gestaltung einer überzeugenden Zeremonie, die zumindest oberflächlich betrachtet integrativ wirkte, hatte Arnault für Paris alles erreicht, was Charles in der Westminster Abbey nicht gelungen war. Es wurde eine neue imperiale Tradition geschaffen."

Magazinrundschau vom 04.04.2023 - Prospect

Neal Ascherson beschreibt das nicht ganz unkomplizierte Verhältnis der Polen zur Ukraine und liefert dabei auch historischen Hintergrund zu Gogols Roman "Taras Bulba". Bevor die Ukraine, Weißrussland und Litauen Sowjetrepubliken wurden, waren sie zu großen Teilen von Polen beherrscht. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion respektierte Polen jedoch unter Bronisław Geremek und Tadeusz Mazowiecki die neuen Staaten. Auch die jetzige, von der PiS dominierte Regierung in Warschau unterstützt "entschlossen und lautstark den Kampf der Ukraine. Aber wie solide ist ihr Engagement für die Integrität ihrer drei östlichen Nachbarn wirklich? Zu Beginn des Krieges, als es so aussah, als würde die Ukraine schnell überrannt werden, gab es merkwürdige Äußerungen von Politikern und Regimejournalisten. Was wäre, wenn die Ukraine auseinander brechen würde? Welche Rolle könnte Polen in der ehemaligen Westukraine (und einem Teil des Polens vor 1939) spielen? ... Aber die Wahrheit ist, dass die ukrainisch-polnischen Beziehungen noch nie so herzlich waren wie jetzt, mitten im Krieg. Angesichts der Vergangenheit ist das ein Wunder. Ein großer Teil der Ukraine westlich des Dnjepr - und ein Großteil Weißrusslands und Litauens - wurde in den vergangenen Jahrhunderten von polnischen Großgrundbesitzern 'kolonisiert', deren Sprache, Religion und Kultur den auf ihren Ländereien arbeitenden Bauernmassen in der Regel ziemlich fremd waren. (Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich der ukrainische Nationalismus herauszukristallisieren begann, wurden die westlichen Regionen der Ukraine von der neuen polnischen Republik unter erbitterten Kämpfen annektiert. Im Zweiten Weltkrieg verübten ukrainische nationalistische Partisanen, die von den Nazi-Invasoren unterstützt wurden, in der Provinz Wolhynien völkermörderische Massaker an der polnischen und jüdischen Bevölkerung - Verbrechen, die erst vor kurzem, nach jahrelangem Schweigen, zugegeben und zur Versöhnung gebracht wurden. Und doch strömten während der Orangenen Revolution zwischen 2004 und 2005, als junge Ukrainer die Straßen von Kiew aus Protest gegen die ungeheuerliche politische Misswirtschaft besetzten, junge Polen zu Tausenden über die Grenze, um zu helfen, indem sie ihre rot-weißen 'Solidaritäts'-Fahnen schwenkten - und wurden ohne ein Wort über den 'polnischen Imperialismus' ihrer Vorväter willkommen geheißen."

Magazinrundschau vom 21.03.2023 - Prospect

Über ihre Position in Europa sind sich die Polen alles andere als einig, aber an der Seite der Ukraine stehen sie wie eine eins, staunt der britische Historiker Neal Ascherson: "Tatsächlich waren die ukrainisch-polnischen Beziehungen noch nie so herzlich wie jetzt, inmitten des Krieges. Angesichts der Vergangenheit ist das ein Wunder. Ein großer Teil der Ukraine westlich des Dnjepr - und ein Großteil Weißrusslands und Litauens - wurde in den vergangenen Jahrhunderten von polnischen Großgrundbesitzern 'kolonisiert', deren Sprache, Religion und Kultur den auf ihren Ländereien arbeitenden Bauern in der Regel ziemlich fremd waren. (Ähnlich erging es den irischen Bauern unter englischer Herrschaft). Nach dem Ersten Weltkrieg, als sich der ukrainische Nationalismus herauszukristallisieren begann, wurden die westlichen Regionen der Ukraine unter heftigen Kämpfen von der neuen polnischen Republik annektiert. Im Zweiten Weltkrieg verübten ukrainische nationalistische Partisanen, die von den Nazi-Invasoren unterstützt wurden, in der Provinz Wolhynien völkermörderische Massaker an der polnischen und jüdischen Bevölkerung - Verbrechen, die erst vor kurzem, nach jahrelangem Schweigen, zugegeben und zur Versöhnung gebracht wurden. Und doch strömten während der Orangenen Revolution zwischen 2004 und 2005, als junge Ukrainer die Straßen von Kiew aus Protest gegen die ungeheuerliche politische Misswirtschaft besetzten, junge Polen zu Tausenden über die Grenze, um zu helfen, indem sie ihre rot-weißen Solidarnosc-Fahnen schwenkten - und wurden ohne ein Wort über den 'polnischen Imperialismus' ihrer Vorväter willkommen geheißen."

Magazinrundschau vom 07.02.2023 - Prospect

Isabel Hilton liest neue Bücher, die sich eingehend mit chinesischer Geschichtsumdeutung befassen: Wer mit Ewigkeitsanspruch regiert, hätte natürlich auch gern, dass die Geschichte folgerichtig auf einen zugeführt haben wird. Entsprechend lässt Xi Jinping gerade die Achtziger umdeuten, stellt Hilton bei der Lektüre fest: Damals gab es durchaus demokratische Bestrebungen, die Julian Gewirtz in seinem Buch "Never Turn Back: China and the Forbidden History of the 1980s" beschreibt: "Wie er in seinem sorgfältig recherchierten Buch erzählt, war die Forderung nach Demokratie in den Achtzigern nicht nur ein Ruf von der Straße oder aus den Reihen marginalisierter, dissidenter Intellektueller, die in der Öffentlichkeit stehen. Der Streit darüber, was in der Kulturrevolution geschehen war und warum und wie man eine Wiederholung verhindern könne, wurde ein Jahrzehnt lang auch in den höchsten Rängen der Partei geführt. Angeführt und am Leben gehalten wurden diese Debatten von einem Mann, der heute im Grunde genommen aus dem offiziellen Narrativ gestrichen ist, ein Mann, der China auf den Weg in den Wohlstand führte: Zhao Ziyang. ... Er machte sich stark dafür, von der Planwirtschaft abzuweichen: Er veranlasste eine Reihe von Reformen wie die Einrichtung offener wirtschaftlicher Zonen und bäuerlichen Unternehmertums - typische Programme für die Achtziger, die heute Deng Xiaoping zugeschrieben werden. Hätte er es damit bewenden lassen, stünde Zhaos Name wohl auch heute noch in Ehren. Aber er befürwortete auch Meinungs- und Pressefreiheit, eine unabhängige Rechtsprechung und die Trennung von Partei und Regierung - zum Teil auf der Grundlage, dass die wirtschaftlichen Reformen ohne eine politische Reform wohl nicht durchgeschlagen hätte. Diese Ansichten werden heute 'bürgerlicher Liberalismus' genannt und gelten explizit als tödliche Bedrohungen für die Herrschaft der kommunistischen Partei."

Magazinrundschau vom 22.11.2022 - Prospect

Die Fifa und Katar verstehen bis heute nicht, welche Monstrosität diese Fußball-WM ist, notiert Mark Damazer, den auch die inzwischen eingeleiteten arbeitsrechtlichen Verbesserungen für die "Wanderarbeiter" nicht beeindrucken. "Eine große Zahl von Arbeitern hat von keinerlei Verbesserungen profitiert, viele Menschen sind unnötigerweise gestorben, und Katar scheint kein Interesse daran zu haben, etwas Sinnvolles für sie oder ihre Familien zu tun. Ein katarischer Minister bezeichnete kürzlich einen Entschädigungsfonds für Wanderarbeiter, die bei der Arbeit an WM-Projekten ausgebeutet, getötet oder verletzt wurden, als 'Publicity-Gag'. Die Kataris sind auch nicht bereit, auf eine andere Forderung einzugehen, nämlich die Einrichtung eines Zentrums für Wanderarbeiter in Katar selbst. Die Fifa steht nun also unter Druck, ihre eigenen enormen finanziellen Möglichkeiten zu nutzen, um Wiedergutmachung zu leisten. Und vielleicht raschelt es ja auch ein wenig - zumindest nach dieser wenig beachteten Bemerkung des stellvertretenden Fifa-Generalsekretärs Alasdair Bell, der im vergangenen Monat vor dem Europarat sagte, es sei 'wichtig zu versuchen, dass jeder, der durch seine Arbeit bei der WM einen Schaden erlitten hat, irgendwie entschädigt wird'. Er fügte hinzu, dass dies 'etwas ist, das wir gerne vorantreiben möchten'. Aber Bell spricht vielleicht nicht für seinen Chef. Amnesty ist der Ansicht, dass Infantino das Problem Nummer eins ist: 'Der Entscheidungsträger bei all dem ist Herr Infantino, der auffällig schweigsam zu unserem Vorschlag geblieben ist... ohne selbst irgendwelche Lösungen anzubieten oder sich zu verpflichten, die Arbeitsmissbräuche anzugehen, die viele Wanderarbeiter im Vorfeld dieser Weltmeisterschaft erlitten haben.'"

Magazinrundschau vom 21.06.2022 - Prospect

Tomiwa Owolade hat sich in britischen Verlagen umgehört, welche Ansichten zu Rasse und Geschlecht bei ihnen noch toleriert werden. Viele Verlage setzen recht enge Grenzen, wollten sich dazu aber nicht äußern. Zu links? "Mark Richards, der vor zwei Jahren den kleinen unabhängigen Verlag Swift Press gegründet hat, sagt mir, das Problem sei nicht, dass das Verlagswesen zu links sei, sondern dass viele, die in diesem Bereich arbeiten, nicht mehr liberal seien. ... Es ist jedoch erwähnenswert, dass viele Mainstream-Verlage Autoren veröffentlicht haben, die bei der progressiven Linken unbeliebt sind. Allen Lane hat Jordan Peterson, Niall Ferguson und Eric Kaufmann veröffentlicht. Douglas Murray ist bei Bloomsbury erschienen, und sein jüngstes Buch, 'The War on the West', wurde von HarperCollins veröffentlicht. Diese Autoren erhalten im Internet negative Reaktionen, aber diese verblassen im Vergleich zu den Anfeindungen gegen Kathleen Stock, J.K. Rowling und Kate Clanchy. Von rechten Männern erwartet man, dass sie umstrittene Ansichten vertreten, aber bei Frauen mit einem Mitte-Links- oder liberalen Hintergrund, die bestimmte umstrittene Ansichten vertreten, fühlt es sich fast wie ein Verrat an. Diese Frauen werden eher als Ketzerinnen denn als Ungläubige betrachtet. Und in vielen religiösen oder ideologischen Bewegungen werden Ketzer in der Regel härter bestraft als Ungläubige. Das Ausmaß an Feindseligkeit führt wiederum dazu, dass viele Verleger zögern, sie zu verlegen oder sie öffentlich zu verteidigen."

Magazinrundschau vom 17.05.2022 - Prospect

Eine große Mehrheit der Russen glaubt Putins Propaganda. Für sie ist der Westen eine "abstrakte Hochburg des Bösen", schreibt Anastasia Kirilenko, Journalistin bei der im Exil veröffentlichten russischen Webseite The Insider, was auch damit zu tun habe, dass kaum jemand den Westen kenne: 76 Prozent der Russen waren noch nie im Ausland. "Diese schockierenden Zahlen lassen sich mit der Armut erklären. Moskau und St. Petersburg, wo 12 Prozent der Russen leben, können sich eines europäischen Lebensstandards rühmen. Aber andere Regionen sind so arm wie die ärmsten Länder der Welt. Aus diesen Gebieten, in denen verzweifelte Menschen ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, melden sich junge Männer in Scharen freiwillig zum Kampf in der Ukraine. Das so genannte Untersuchungskomitee Russlands hat Dutzende von Fällen über 'biologische Labors in der Ukraine', 'Kriegsverbrechen in der Ukraine', die von Ukrainern begangen wurden, über die Vorbereitung von Atomwaffen in der Ukraine und so weiter eröffnet. Das Komitee hat sogar sein eigenes Fernsehprojekt Za Pravda (Für die Wahrheit) ins Leben gerufen, in dem behauptet wird, die Ukraine sei ein künstlicher Staat. ... Parallelen zur Sowjetzeit drängen sich auf. Damals gab es eine Burdenko-Kommission zur 'Wahrheit über Katyn', die 'Untersuchungen' veröffentlichte, die zu dem Schluss kamen, dass die Deutschen 20.000 gefangene polnische Offiziere in Katyn in Smolensk, nahe der russischen Grenze zu Weißrussland, erschossen haben. Tatsächlich wurden die Erschießungen von der UdSSR im April 1940 nach dem Hitler-Stalin-Pakt durchgeführt. In diesem Sinne hat Russland vor kurzem 'Tribunal' gegen die 'Ukrainer, die das Massaker in Bucha verübt haben', angekündigt. Damit soll die örtliche russische Bevölkerung davon überzeugt werden, dass die Gräueltaten an den Menschenrechten nicht von ihrer heldenhaften Armee verübt worden sein können. Auf diese Weise werden 144 Millionen Menschen darauf vorbereitet, einen größeren Krieg mit dem Westen zu unterstützen, dem vorgeworfen wird, Russland zu Unrecht für ukrainische Verbrechen verantwortlich zu machen."

Magazinrundschau vom 02.11.2021 - Prospect

Tom Clark lässt sich von der momentan sehr gefragten venezolanischen Sozioökonomin Carlota Pérez die grüne Zukunft erläutern: "Pérez scheint von der Idee beseelt, dass sich die Welt seit dem Anbruch des modernen wirtschaftlichen Zeitalters in Zyklen vorwärtsbewegt, die sich stets auf dieselbe chaotische, aber letztlich positive Weise entfalten. Jedes Mal fühlt es sich schmerzhaft an, dann gibt es eine Gegenreaktion. Nach einem 'Wendepunkt' (an dem wir uns gerade befinden) folgt ein 'goldenes Zeitalter', da die Welt mit der neuen Technologie Frieden schließt und der Fortschritt sichtbar wird. Die erste Phase beginnt, wenn Unternehmer sich für neue Technologien begeistern und investieren. Mit Blick auf 250 Jahre Industriegeschichte glaubt Perez, dass wir mittlerweile fünf solcher Ausbrüche hinter uns haben: 1771, als Richard Arkwright die erste industrielle Revolution einläutete, 1829, als Stephensons 'Rocket' die Ära von Dampf, Eisenbahn und Kohle einläutete, 1875, als Andrew Carnegie den Bessemer-Prozess entwickelte, der Stahlpreis halbiert und ein 'Ingenieurzeitalter' von Brücken, Schiffen und Elektrifizierung ermöglicht wurde, 1908, als Henry Fords Model T das Fließband zum Laufen brachte, und schließlich das Internetzeitalter, in dem wir uns gerade befinden und das begann, als Ray Tomlinson die erste E-Mail verschickte. Als Kapitelfolge erscheint die Wirtschaftsgeschichte sehr aufgeräumt. Aber Perez lässt keinen Zweifel daran, dass die Dinge ungemütlich werden können … Es kann zu großer Ungleichheit kommen, wenn alte Industrien und ihre Arbeitskraft abberufen werden und sich innovative Emporkömmlinge als Raubritter entpuppen. Der nächste Wendepunkt ist noch holpriger, geprägt von Rezession, Populismus und Unruhen. Denken wir an das Großbritannien der 1840er Jahre, die populistische Welle in den USA der Jahrhundertwende, die extreme Politik der 1930er Jahre. Umwälzungen wie der Brexit und der Aufstieg Trumps gehen mit der disruptiven Wirkung des Internets zusammen."

Magazinrundschau vom 13.10.2020 - Prospect

Jacques Derrida, der von den heutigen Social Studies so schrecklich vereinfacht wurde, ist in Wirklichkeit einer, der Dinge verkomplizieren statt vereinfachen will, schreibt Julian Baggini in einer freundlichen Hommage, die auf die ebenso freundliche Biografie Peter Salmons verweist. Ein Begriff, erläutert Baggini mit Derrida, ist schon Gewalt, denn er trifft eine Unterscheidung, die mögliche alternative Sichtweisen ausschließt: Und das Laborieren der Sprach an diesem Problem ist die "différance"! Man kann Derrida schon aus den Umständen erklären, die ihn prägten: "Jackie Derrida, wie er genannt wurde, war 1930 in Algerien geboren worden, damals eine französische Kolonie, als Sohn weitgehend säkularer sephardischer Juden. Seine Kindheit macht spätere Reflexionen über Sprache, die unfähig sei, die Ambiguitäten und Widersprüche dieser Welt abzubilden, und vor allem jene der Identität, verständlich. Er war Algerier, aber nicht Bürger Algeriens, Franzose, ohne Frankreich je gesehen zu haben, jüdisch, ohne ein jüdisches Leben zu leben, in einem arabischen Land, aber ohne Araber zu sein, zu dunkelhäutig, um von Europäern als Europäer angesehen zu werden, zu europäisch, um von den Afrikanern als Afrikaner gesehen zu werden. Kein Wunder, dass er später schreiben würde, dass Identität 'niemals gegeben, verliehen oder erreicht ist, nur der unendliche und unbestimmt phantasmatische Prozess der Identifikation bleibt." Übrigens war er in seiner Kindheit auch nicht Bürger Frankreichs, erklärt Baggini, denn das Vichy-Regime hatte den Juden das Privileg französischer Staatsbürgerschaft, das sie anders als die Araber genossen hatten, entzogen.