Magazinrundschau - Archiv

The New Yorker

783 Presseschau-Absätze - Seite 1 von 79

Magazinrundschau vom 12.03.2024 - New Yorker

Das Internierungslager Al-Hol in Syrien ist ein Ort, den der Westen gerne vergisst, hält Anand Gopal für den New Yorker fest: Die gleichnamige Stadt war einst eine Hochburg des IS, in dem Lager müssen nun Anhänger wie Opfer mit- und nebeneinander leben, mit wenig Aussichten, jemals wieder dort herauszukommen. Von den rund 50 000 Internierten sind über die Hälfte Kinder, die meisten davon jünger als zwölf Jahre: "Für viele Kinder ist das Gebiet hinter dem Zaun mysteriös und möglicherweise gefährlich. Ich habe mit dutzenden Kindern gesprochen und sie wussten so gut wie nichts über das Leben außerhalb von Al-Hol. Viele hatten noch nie von Syrien, dem Irak, Amerika oder sogar dem Fernsehen gehört. (Als Abu Hassan, früherer IS-Kommandeur, einen Flachbildfernseher in das Camp schmuggelte, rief seine Tochter, 'Schau mal, was für ein großes Handy das ist!') Ich habe Aisha kennengelernt, eine Siebenjährige, die erklärte, sie komme aus Aleppo, aber als ich sie gefragt habe, was Aleppo ist, hatte sie keine Ahnung. Sie wusste nicht, warum sie im Lager ist und ihr Tagesablauf bestand darin, sich früh in die Schlange für die Toiletten zu stellen und die Security-Leute zu vermeiden, von denen sie glaubte, sie würden sie erschießen, wenn sie ihnen zu nahekommt. Naser, sechs Jahre alt, wusste nicht, was das Camp von anderen Lebensumgebungen unterscheidet. Ein anderes Kind hat damit angegeben, dass es einmal 'bewegte Zeichnungen' gesehen habe, von denen ich vermute, dass es eine Cartoon-Sendung war, und gefragt, wo sie noch mehr davon sehen könne. (…) Ich habe die Kinder gefragt, was sie denken, was wohl auf der anderen Seite des Zauns ist. Unter den Antworten, die ich bekommen habe: 'nichts', 'hungrige Menschen', 'Hunde', 'Soldaten', 'Treppen', 'Häuser', 'Gärten', 'Ungläubige', 'mein Vater.'" Obwohl er den religiösen Fanatismus vieler Bewohner mit Steinwürfen selbst zu spüren bekommt, macht Gopal für die niederschmetternde Lage der Bewohner Assad, die Türkei und die USA verantwortlich. Die Islamisten hat er schon wieder vergessen.

Außerdem: Andrew Marantz überlegt, ob KI die Menschheit besser machen wird. Benjamin Kunkel liest ein Buch über die komplizierte Beziehung Platonows zu Stalin. Alex Ross erzählt, wie Arnold Schönberg Hollywoods Filmmusik beeinflusste. Richard Brody sah im Kino Rose Glasses "Love Lies Bleeding".

Magazinrundschau vom 05.03.2024 - New Yorker

Zehn Jahre ist es her, dass 43 Studenten eines ländlichen Colleges in Mexiko verschwanden. Acht Jahre dauerte es, bis einzelne mexikanische Ermittler, ein Ermittlungstrupp aus Argentinien und eine Gruppe internationaler Experten (GIEI), ungefähr zusammengepuzzelt hatten, was damals geschehen war (offenbar hatten Polizisten und eine Drogenbande mit Wissen des Militärs die Studenten ermordet und verbrannt). Die Verantwortlichen wurden niemals bestraft, berichtet Alma Guillermoprieto in ihrer Reportage. Was bleibt, ist das Leid der Familien: "Sechs Jahre nach dem Massaker erhielten Clemente Rodríguez und seine Frau Luz María Telumbre in ihrem Haus in Tixtla Besuch von [den mexikanischen Ermittlern] Gómez Trejo, Encinas und zwei Mitgliedern des Centro Prodh. Die Gruppe informierte sie über ein zwei Zentimeter großes Knochenfragment, das Gómez Trejos Team in einer trockenen Rinne gefunden hatte. Das argentinische Team hatte bestätigt, dass die aus dem Fragment gewonnene DNA zu Christian Rodríguez Telumbre gehörte, eine von nur drei positiven Identifizierungen, die in all der Zeit gemacht wurden. 'Wir haben versucht, dem Ereignis eine gewisse Würde und einen Sinn für Zeremonien zu verleihen', sagte mir Gómez Trejo über den Besuch. Aber es war hoffnungslos, einen Zwanzigjährigen, der fröhlich durch das Haus seiner Eltern hüpfte und Schritte aus den Folkloretänzen übte, nach denen er verrückt war, durch ein gebrochenes Stück Knochen zu ersetzen. Als ich Doña Luz María im letzten Frühjahr in Mexiko-Stadt zu Beginn eines Elternmarsches traf, fragte ich sie nach diesem Moment. Sie ist eine hübsche Frau mit einer leichten, liebevollen Art, aber ihre Stimme konnte den scharfen Ton nicht verbergen, als sie antwortete. 'Ich bedankte mich', erzählte sie mir, 'und fragte, von welchem Körperteil dieser Huesito' - ein kleiner Knochen - 'stamme'. Man teilte ihr mit, dass es ein Teil von Christians rechtem Fuß sei. 'Aber ich habe schon Leute gesehen, die einen Fuß verloren haben und noch leben', sagte sie, ohne ihre Stimme zu erheben. 'Ich bin nicht zufrieden. Ich will meinen Sohn.'"
Stichwörter: Mexiko

Magazinrundschau vom 27.02.2024 - New Yorker

Ian Urbina beschreibt in einer eindrucksvollen Reportage die katastrophale Situation nordkoreanischer Zwangsarbeiter in China. Eigentlich sollen Sanktionen dies verhindern, aber trotzdem arbeiten allein in der Hafenstadt Dandong wohl etwa 80 000 Nordkoreaner. Sie werden von ihrer Regierung entsendet: "Regierungsvertreter wählen sorgfältig, welche Arbeiter sie nach China schicken, sie überprüfen ihre politische Loyalität, um das Risiko einer Flucht zu senken. Um sich zu qualifizieren, muss eine Person generell einen Job in einer nordkoreanischen Firma haben und von einem lokalen Parteimitglied positiv bewertet werden. 'Diese Überprüfungen beginnen schon in der Nachbarschaft', erklärt der Nordkorea-Experte Remco Breuker. Kandidaten, die Familie in China oder einen geflüchteten Familienangehörigen haben, können sich damit disqualifizieren. Für manche Stellen müssen unverheiratete Bewerber unter 27 Jahren noch lebende Eltern haben, die im Falle einer Flucht bestraft werden können, heißt es in einem Bericht der südkoreanischen Regierung; Bewerber über 27 müssen verheiratet sein. Die nordkoreanischen Behörden entscheiden sogar nach Körpergröße: Die Bevölkerung des Landes ist chronisch unterernährt und der Staat zieht Kandidaten vor, die größer als 1,55m sind, um die offizielle Blamage zu umgehen, im Ausland von kleinen Menschen repräsentiert zu werden." Es wird nicht besser für die Arbeiter, wenn sie erst einmal in China angekommen sind: Die Interviewten, "alles Frauen, haben das Eingesperrtsein und die Gewalt in den Fabriken beschrieben. Die Arbeiter werden in Lagern festgehalten, manchmal hinter Stacheldraht, beobachtet von Sicherheitsmännern. Viele arbeiten zermürbende Schichten und haben höchstens einen Tag im Monat frei. Mehrere haben geschildert, wie sie von den Managern geschlagen wurden, die von Nordkorea entsendet wurden, um sie zu überwachen. 'Es war wie im Gefängnis für mich,' hat eine Frau geschildert. 'Am Anfang musste ich mich fast übergeben, weil es so schlimm war, und, als ich mich gerade daran gewöhnt hatte, haben die Überwacher uns befohlen, still zu sein und geflucht, wenn wir miteinander gesprochen haben.' Viele haben den sexuellen Missbrauch durch ihre Manager geschildert. 'Sie haben mir gesagt, ich sei fickbar und haben mich angefasst, meine Brüste begrabscht und mit ihren dreckigen Mündern meinen berührt.' (…) Eine Frau, die mehr als vier Jahre in der Dalian Haiqing Food-Fabrik gearbeitet hat, sagte mir: 'Es wird oft betont, wenn du beim Wegrennen erwischt wirst, wirst du getötet, ohne eine Spur zu hinterlassen.'"

Außerdem: Kathryn Schulz beschreibt die Gefahren von Sonnenstürmen. Shane Bauer erzählt in einem Brief aus Israel von den Aggressionen israelischer Siedler gegen die Palästinenser. Anthony Lane erwärmt sich für den romantischen Dichter Lord Byron. Maggie Doherty liest eine neue Biografie über Carson McCullers. Justin Chang sah im Kino Nuri Bilge Ceylans "Auf trockenen Gräsern".

Magazinrundschau vom 20.02.2024 - New Yorker

Rebecca Giggs begibt sich für den New Yorker in die amerikanischen Zuchtlabore für Königpythons, die eher der Science-Fiction-Literatur zu entspringen scheinen als der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dieser Spezies. Züchter wie Justin Kobylka sind in der Lage, Schlangen mit ganz spezifischen optischen Merkmalen zu züchten, sodass sie beispielsweise aussehen wie eine überreife Banane. Was bedeutet es aber für die Tiere, dass sie zu optisch ansprechenden Konsumobjekten werden? "Dass die Designer-Pythons zu einer reinen Augenweide für Menschen geworden sind, heißt, dass sie nun über einige evolutionäre Vorteile verfügen, die Haustieren so eigen sind, unter Anderem weiträumige Verbreitung. 'Es gibt keine einzige Spezies von Haustieren, die gefährdet wäre', hat mir Marcelo Sánchez-Villagra berichtet. 'Viele lassen sich weltweit finden.' Mit dem zunehmenden Rückgang natürlicher Habitate könnte es eine gute Strategie sein, sich inmitten der menschlichen Kultur auszubreiten. 'Gibt es eine bessere Überlebensstrategie als hübsch und selten zu sein?', fragt Bob Clark. 'Diese Merkmale werden sich in den kommenden Generationen noch vermehren, weil Menschen sie mögen, nicht weil sie davor schützen, gefressen zu werden.'" Wie bei allen Züchtungen gibt es jedoch auch hier manchmal für die Tiere sehr unangenehme Folgen, lernt Giggs: "Der 'Duckbill', bei dem die Nase nach oben zeigt und flach ist, ist eine gutartige Verformung, aber es heißt, dass einige Kreuzungen, wie zum Beispiel der 'caramel albino' eine höhere Wahrscheinlichkeit hat, Nachkommen mit Wirbelsäulenverkrümmungen zu produzieren, ein Zustand, der sie daran hintern kann, sich schlängelnd zu bewegen oder die Verdauung fatal behindern kann. (…) Im Internet haben sich Züchter dagegen eingesetzt, dass Kreuzungen vorgenommen werden, von denen bekannt ist, dass sie zu Beeinträchtigungen führen. ('Wir wollen Mutationen, die nur die Haut betreffen', so Kobylka, 'Wir wollen nicht, dass das Tier in irgendeiner Weise verändert wird, die seine Überlebensfähigkeit beeinträchtigt.') Aber einige unübliche Missformungen, die nicht mit den Kreuzungen in Verbindung stehen, können sich als einträglicher Glücksfall erweisen: Zu Beginn des Jahres hat Clark eine zweiköpfige Python für 100 000 Dollar verkauft. 'Beide Köpfe fressen', versichert er mir, als ich mich nach der Gesundheit der Schlange erkundige."

Magazinrundschau vom 06.02.2024 - New Yorker

In Ian Burumas aktuellem Buch "Spinoza: Freedom's Messiah" ist Baruch Spinoza mit seiner in der frühen Neuzeit radikalen Idee der libertas philosophandi, einem ganz und gar freien Denken, der Philosoph der Stunde, schreibt Adam Kirsch. Spinoza wurde einst wegen seiner als häretisch angesehenen Überzeugungen und Vorstellungen von Gott aus der Amsterdamer jüdischen Gemeinde ausgeschlossen: "Spinoza insistiert auf der Gedankenfreiheit, weil für ihn ein tiefes Verstehen der Schlüssel zum Glücklichsein ist. Wenn religiöse Autoritäten den Menschen vorschreiben, was sie glauben sollen, erschweren sie es, zu einer korrekten Auffassung von Gott zu kommen und blockieren so den Weg zur Seligkeit. Spinoza hat sich für eine demokratische Regierung eingesetzt, weil er es für wahrscheinlicher als in einer Monarchie oder Aristokratie hielt, dass sie die libertas philosophandi erhält und so Menschen ermöglicht, glücklich zu werden. Wie er in seinem 'Tractatus' schreibt: 'Die Basis und das Ziel einer Demokratie ist es, das irrationale Verlangen zu vermeiden, und die Menschheit so weit wie möglich unter die Kontrolle der Vernunft zu bringen, sodass sie in Frieden und Harmonie leben kann.' Das ist offensichtlich keine Beschreibung unserer heutigen Gesellschaft. Die liberale Demokratie, wie wir sie kennen, beruht auf einer gewissen Annahme über Gleichberechtigung: Wenn alle Menschen gleich sind, hat niemand ein Monopol auf die Wahrheit oder Weisheit, also hat auch niemand das Recht, anderen ohne ihre Zustimmung etwas vorzuschreiben. So ist die Demokratie ein Seiltanz der dauernden Meinungsverschiedenheiten, in dem Individuen und Gruppen um eine Art akzeptablen Konsens ringen. So hat Spinoza nicht über Freiheit gedacht. Er hat angenommen, dass es eine Wahrheit gibt, die er versteht und die meisten anderen nicht, und seine Erfahrungen mit Religion und Politik haben ihm keine Illusionen bezüglich der Weisheit der Mehrheit gelassen (…) Wenn wir uns, wie Buruma warnt, in eine Ära begeben, in der die 'Gedankenfreiheit von säkularen Theologien bedroht wird', könnte Spinoza das Vorbild sein, das wir brauchen: Ein Denker, der die ungeheuerlichsten Wahrheiten ausspricht, die er kennt, und trotzdem im eigenen Bett gestorben ist."

Calvin Tomkins porträtiert Thelma Golden, Direktorin des Studio Museums in Harlem, die gegen alle Widerstände schon als junge Kuratorin am Whitney Museum of American Art Kunst schwarzer Künstler in den 1990er Jahren sichtbar machte: "Golden erkannte, dass die Kunstgeschichte, die sie bis dahin gelernt hatte, unvollständig war, weil die Kunst von Schwarzen in der ihr zugewiesenen Lektüre meist fehlte. Als sie einem ihrer Kunstgeschichtsprofessoren am Smith College sagte, sie wolle über schwarze Kunst schreiben, zog er einen Katalog mit schwarzen Gemälden von Frank Stella hervor. (Sie stellte klar, dass sie schwarze Künstler meinte, und er riet ihr davon ab.) In der akademischen Welt lehrte kaum jemand Golden etwas über schwarze Kunst, aber sie war damit aufgewachsen. Mehrere Freunde ihrer Eltern waren ernsthafte Sammler, und sie hatte in der schwarzen Presse über Faith Ringgold, Charles White und andere Künstler gelesen. In der Smith-Bibliothek fand sie den Katalog 'Two Centuries of Black American Art', David Driskells bahnbrechende Ausstellung von 1976 im Los Angeles County Museum of Art. Die Bibliothek verfügte auch über ein Buch von 1973 mit dem Titel "The Afro-American Artist: A Search for Identity' von Elsa Honig Fine. 'Ich habe jeden Künstler in diesen Büchern studiert', erzählte mir Golden. 'Ich habe sie mir sozusagen eingeprägt.' Einige der frühesten Künstler im Driskell-Katalog - Patrick Reason, Robert S. Duncanson und andere Porträtisten und Landschaftsmaler des 19. Jahrhunderts - waren eindeutig von Thomas Cole und anderen weißen Künstlern der Romantik beeinflusst. Henry Ossawa Tanner (1859-1937), der erste weithin bekannte afroamerikanische Maler, studierte bei Thomas Eakins und malte Szenen, die Schwarze darstellten. 1891 ging er jedoch nach Paris, wo er für den Rest seines Lebens blieb und praktisch ein europäischer Künstler wurde. Spätere Generationen wie Aaron Douglas, Augusta Savage, Charles Alston, Selma Burke und Norman Lewis machten in Amerika trotz aller Widrigkeiten eine Karriere als Künstler. (Burkes Porträt von Franklin Delano Roosevelt gilt als Vorlage für sein Profil auf dem Dime). Alle diese Künstler waren Teil der Harlem Renaissance in den Zwanziger- und Dreißigerjahren, einer Explosion von Innovationen in der Kunst, die Harlem als kreatives Zentrum der schwarzen Kultur etablierte. Schwarze Musiker dieser Zeit - Louis Armstrong, Eubie Blake, Duke Ellington - erreichten zwar ein weißes Publikum, aber es sollte noch siebzig Jahre dauern, bis das weiße Kunstestablishment ernsthaft zur Kenntnis nahm, was schwarze Künstler taten."

Weitere Artikel: Maggie Shannon porträtiert amerikanische Frauen, die in eine Klinik nach Maryland reisen, um einen Schwangerschaftsabbruch vorzunehmen. Alexandra Schwartz blickt auf die Geschichte der rächenden Frau in der Literatur.

Magazinrundschau vom 30.01.2024 - New Yorker

Masha Gessen, deren Essay über die ihrer Meinung nach verfehlte Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, aber auch Polen und der Ukraine in unguter Erinnerung ist, liefert nun eine ausführliche Reportage über den Kriegsalltag in der Ukraine, die immerhin den Vorteil hat, nüchtern bei den Fakten zu bleiben. Viel Hoffnung scheint Gessen der Ukraine nicht mehr zu geben. Um die Demokratie zu verteidigen, muss sie die Demokratie zumindest suspendieren, beobachtet sie. Die geplanten Präsidentschaftswahlen sind ausgesetzt, auch mit Rücksicht auf all die Ukrainer, die im Krieg sind, das Land verlassen haben oder interne Flüchtlinge sind. Und doch: Selenski hatte als ein Kandidat gegen das Establishment begonnen, aber nun ähnele er jenen Funktionären, die er verjagen wollen, verschanzt in eine Festung. Der Krieg verstetigt sich. Die Spannungen in der Bevölkerung verschärfen sich. "Diejenigen, die im Land geblieben sind, haben oft wenig Geduld mit den Ukrainern im Ausland. 'Ich bin sehr wütend auf Frauen, die gehen und ihre Männer hier lassen', sagt Kateryna Ukraintseva (eine Aktivistin aus Butscha). "Entweder man ist eine Familie oder nicht. Man sollte die Dinge gemeinsam durchstehen.' Die Scheidungsraten sind stark gestiegen, und es ist eine Binsenweisheit, dass viele Frauen, die nach Westeuropa gegangen sind, sich ein neues Leben aufgebaut haben. 'Jeder Mann, den ich kenne, der seine Frau und seine Kinder ins Ausland geschickt hat, ist inzwischen geschieden', sagt mir der Soziologe Denys Kobzin. 'Die Kluft zwischen denen, die im Krieg gekämpft haben, und den anderen wird immer größer.' Serhiy Leshchenko, Berater von Zelensky, stimmt zu. 'Es ist an der Zeit, dass jene, die sich als Ukrainer sehen, zurückkommen', sagt er. 'Die Schulen in Kiew sind geöffnet - sie haben alle Luftschutzbunker. Freunde von mir, die mit immer neuen Ausreden kommen, sind keine Freunde mehr.'"

Was hält die Zukunft des Internets bereit, fragt sich Akash Kapur. Als Projekt der ultimativen Freiheit gedacht, muss es sich jetzt angesichts der wachsenden Bedrohung durch die Techgiganten fragen, ob Regierungskontrollen mehr schaden oder nutzen. Indien versucht mit der Plattform India Stack einen Mittelweg: "Auf einem grundlegenden Level war das Programm eine Bemühung, so etwas wie Sozialversicherungsnummern zu schaffen - keine ganz einfach Leistung für ein so großes Land wie Indien, aber an sich nicht wirklich revolutionär. Unter der Leitung des Tech-Milliardärs Nilekani hat die Plattform sich gegen die öffentliche Skepsis durchgesetzt, gegen bürokratische Lähmungen und gesetzliche Hürden, und 1,4 Milliarden Bürger registriert. Diese verfügen nun über eine Identitätsnummer aus zwölf Ziffern, die als Aadhaar (Hindu für Grundlage) bekannt ist und mit biometrischen Daten wie Irisscans und Fingerabdrücken gefüttert ist. Die wahre Errungenschaft Nilekanis ist es aber, die ID-Nummern als Grundlage einer integrierten digitalen Ökologie ('the stack') zu nutzen. Sie besteht aus staatlich ermöglichten Modulen (sie werden gemeinhin als digital public infrastructure oder DPI bezeichnet), die es den Bürgern erlauben, Online-Bezahlvorgänge durchzuführen, Sozialleistungen zu beziehen, Bankgeschäfte zu tätigen und offizielle Dokumente zu hinterlegen und bescheinigen zu lassen (zum Beispiel Covid-Impfdokumente). So baut die Regierung das, was die World Bank als 'ausloten' einer kontrollierteren - und vielleicht weniger toxischen - Version des Internets versteht, mit Raum für private Programmierer, die, darauf aufbauend, neue Plattformen und Services entwickeln." Ob dadurch nicht auch eine neue Möglichkeit staatlicher Überwachung geschaffen wird, fragt sich dabei nicht nur Kapur. Sicher ist nur der stetige Wandel: "Das Internet bleibt ein Work in Progress. Aber es gibt Gründe, davon auszugehen, dass seine Zukunft von einem ganz anderen Standpunkt aus geschrieben wird als seine Vergangenheit."

Weiteres: John Seabrook fragt sich, wie KI der Musikindustrie nutzen wird. Merve Emre stellt die Naturphilosophin, Autobiografin und Romanautorin Margaret Cavendish (1623-73) vor. Alex Ross hört die Oper "Chornobyldorf" von Roman Grygoriv und Ilia Razumeiko.

Magazinrundschau vom 23.01.2024 - New Yorker

Für den New Yorker versucht Rachel Syme zu ergründen, warum sich die Filme der Regisseurin Sofia Coppola gerade bei der Generation Tiktok so großer Beliebtheit erfreuen: "Coppolas Filme sind opulent, aber auch ein bisschen steril. Eines ihrer visuellen Markenzeichen ist die aus dem Fenster in die Ferne schauende Protagonistin, abgeschnitten von der restlichen Welt. 'Jeder weiß, dass ich dem Thema der eingeschlossenen Frau nicht widerstehen kann', sagt sie. Aber auch wenn ihre weiblichen Charaktere eingeschlossen sind, sie erreichen durch ihre stilvoll gestalteten Geschichten doch eine Art von Selbstbestimmtheit. Kein anderer Filmemacher hat die abgekapselte Atmosphäre der weiblichen Teenager-Zeit und die Ausdruckskraft ihrer Äußerlichkeiten so präzise abgebildet. Sie ist eine Meisterin der Unordentliches-Zimmer-Szenerie: Haufenweise Kleidung und unpraktische Schuhe, mit Postern übersäte Wände, Kommoden voller Parfümflakons und Porzellanfiguren. (…) Manchen Kritikern jedoch scheinen Coppolas Filme mehr auf den äußeren Eindruck als auf den Inhalt zu achten und zudem zu nah dran zu sein an den Privilegien, von denen sie handeln, als dass sie als distanzierte Kritik verstanden werden könnten. Vor ein paar Monaten hat Coppola mir eine Email geschickt, unaufgefordert, in der sie sich mit einer Sache auseinandersetzt, die ihr in den 25 Jahren ihrer Karriere immer wieder vorgeworfen wird: 'Ich verstehe nicht, wieso der Blick auf Oberflächlichkeiten einen oberflächlich macht?!'"

Emily Mason, Velvet Masonry, 1978. Galerie Miles McEnery


Warum wurde Emily Mason so lange übersehen, fragt sich Jackson Arn anlässlich der Solo-Ausstellung "The Thunder Hurried Slow" der 2019 verstorbenen Malerin in der New Yorker Galerie Miles McEnery. Sie war vielleicht nicht sehr innovativ und als Person total unneurotisch. Aber Farbe konnte sie! "Sie bereitete sie in Katzenfutterdosen zu, rührte und verdünnte sie, bis sie bereit waren, über die Leinwand gegossen und mit einem Pinsel oder manchmal auch einem T-Shirt oder einem Finger aufgetragen zu werden. Im besten Fall wirken sie überraschend und unvermeidlich, im schlechtesten Fall sind sie einfach nur sehr, sehr schön anzusehen. Das früheste Werk in 'The Thunder Hurried Slow' wurde 1968 fertiggestellt, das jüngste 1979, und die ausgestellten Schimmel- und Senftöne haben mehr als nur ein bisschen was von den Siebzigern. Dem Ausstellungskatalog habe ich entnommen, dass Mason die Höhlenmalereien in Lascaux mit Anfang zwanzig besuchte; dieses Detail scheint fast zu naheliegend für eine Künstlerin, die die Farbe gleichzeitig alt und lebendig aussehen lässt. Es ist eine seltene Kunstausstellung, die sowohl Stagflation als auch das Prähistorische heraufbeschwört, aber Masons Arbeit inspiriert zu dieser Art von freier Assoziation. Man kann ihre Farben nicht anstarren, ohne ein Zucken des Wiedererkennens zu spüren - beim Betrachten ihrer Türkis- und Terrakottatöne fühlte ich mich so sehr wie schon lange nicht mehr als gebürtiger Südwestler - und man kann nicht weiter starren, ohne dass diese anfänglichen Eindrücke wieder verschwinden. Manchmal habe ich den Eindruck, dass die Farbe für Mason eine Form des Geschichtenerzählens war: Ein Pink wirkt wie eine Wendung der Handlung, ein Orange wie ein unverblümtes Ende."

Weiteres: Evan Osnos denkt über das Phänomen "Elite" nach, unter dem jeder etwas anderes versteht. Anthony Lane sah im Kino Lila Aviles' Familiendrama "Totem".

Magazinrundschau vom 16.01.2024 - New Yorker

Wie geht es mit Israel weiter, fragt sich David Remnick, der seit dem 7. Oktober mehrfach in das Land gereist ist und mit vielen Parlamentariern, Intellektuellen und Militärs über die Hamas, mögliche Lösungen des Gazakonflikts und vor allem über Regierungsoberhaupt Benjamin Netanjahu gesprochen hat, der seit 2009 fast durchgängig an der Macht ist. Auch, wenn die Zustimmung zu ihm in der Bevölkerung schwindet, sollte man ihn nicht vorzeitig abschreiben, erfährt Remnick: "Wenn der Krieg einen Gang runterschaltet und weniger dynamische Ebene erreicht, werden tausende Reservisten, die in den Protesten zur Justizreform aktiv waren und jetzt in Gaza kämpfen, an Demonstrationen gegen die Regierung teilnehmen. 'Sie werden nach Hause kommen, duschen und dann auf die Straßen gehen', vermutet der frühere Ministerpräsident Yair Lapid. 'Es sind gute, hart kämpfende Israelis, die aber höllisch wütend sind auf Netanjahu und die Bande an Verrückten, mit der er sich umgibt.' Fast alle meine Quellen fügen hinzu, dass es, auch wenn Netanjahu in handfesten politischen Schwierigkeiten steckt und ein Misstrauensvotum oder Neuwahlen schon diesen Sommer befürchten muss, unklug wäre, nicht mit ihm zu rechnen. (…) Seine Listigkeit, wenn es darum geht, Koalitionen und Bündnisse zu bilden, ist in der israelischen Politik unerreicht und hat nur noch neue Höhen erreicht, als er seine Prinzipien über Bord geworfen und sich mit Leuten wie Ben-Gvir und Smotrich verbündet hat." Auch mit amerikanischen Beratern hat Remnick gesprochen, so zum Beispiel mit Aaron David Miller: "'Der politische Narzissmus, der Netanjahus Karriere insbesondere im letzten Jahrzehnt ausmachte, ist beeindruckend. Die Schwierigkeiten, mit denen Israel konfrontiert ist, sind unvorstellbar, und trotzdem fügt der Regierungschef jeder Entscheidung eine Fußnote an: Was bedeutet das für meine politische Karriere und meine Freiheit?'"

Weitere Artikel: E. Tammy Kim schickt eine Reportage über den Versuch in Oregon, Drogen zu entkriminalisieren. Leslie Jamison erzählt, wie sie sich nach der Geburt ihres Kindes von ihrem Mann entfremdete. Louis Menand überlegt mit David Bellos und Alexandre Montagu, ob AI der Tod des Copyrights ist. Rivka Galchen liest Marion Gibsons Buch über Hexenverfolgung. James Wood bespricht Hisham Matars Roman "My Friends". Carrie Battan sah Jacqueline Novaks Netflix-Komödie "Get on Your Knees" über die erforderlichen Fertigkeiten für einen Blowjob. Und Inkoo Kang amüsiert sich mit neuen Folgen der HBO-Serie über "True Detective" Jodie Foster.

Magazinrundschau vom 09.01.2024 - New Yorker

Der palästinensische Dichter Mosab Abu Toha schreibt für den New Yorker über die Flucht seiner Familie aus dem Gazastreifen nach den Ereignissen des 07. Oktober. Auf seiner Flucht wird er aufgrund einer Verwechslung von Soldaten der IDF inhaftiert, die ihn für einen Hamas-Kämpfer halten: "Ein Mann spricht mich auf Englisch an. 'Du bist ein Kämpfer der Hamas, richtig?' 'Ich? Ich schwöre, nein. Ich habe 2010 aufgehört, in die Moschee zu gehen, als ich an die Universität gegangen bin. Ich habe die letzten vier Jahre in den USA verbracht und einen Master of Fine Arts in Kreativem Schreiben an der Syracuse University gemacht.' Er scheint überrascht. 'Einige Hamas-Mitglieder, die wir gefangengenommen haben, haben bestätigt, dass du zur Hamas gehörst.' 'Sie lügen.' Ich frage nach Beweisen. Er schlägt mir ins Gesicht. 'Du musst beweisen, dass du nicht von der Hamas bist!' Alles um mich herum ist düster und beängstigend. Ich frage mich, wie man den Beweis dafür erbringen soll, dass man etwas nicht ist?" Da sein Sohn amerikanischer Staatsbürger ist, kann die Familie nach der Freilassung Tohas nach Ägypten ausreisen. Eigentlich aber möchte er zurückkehren: "Ich hoffe, dass ich zurück nach Gaza gehen kann, wenn der Krieg vorbei ist, das Zuhause meine Familie wieder aufbauen, es mit Büchern füllen. Dass uns eines Tages alle Israelis als gleichwertig ansehen - als Menschen, die auf ihrem eigenen Land leben können, in Sicherheit und Wohlstand, und sich eine Zukunft schaffen können. Dass mein Traum, Gaza von einem Flugzeug aus sehen zu können, Realität wird, und dass mein Zuhause viele weitere Träume ermöglicht. Es stimmt, dass es viele Dinge gibt, die man an den Palästinensern kritisieren kann. Wir sind gespalten. Wir leiden unter Korruption. Viele unserer Anführer vertreten nicht unsere Interessen. Manche Menschen sind gewalttätig. Aber im Endeffekt haben wir mindestens eines mit den Israelis gemein. Wir brauchen ein eigenes Land - oder wir leben zusammen in einem, in dem Palästinenser die gleichen Rechte haben. Wir sollten unseren eigenen Flughafen und Hafen, unsere eigene Wirtschaft haben können - wie jedes andere Land auch."

Magazinrundschau vom 12.12.2023 - New Yorker

Der Onkologe Siddhartha Mukherjee hat sich mit etlichen Wissenschaftlern unterhalten, die versuchen herauszufinden, welchen Einfluss Karzinogene haben und wieso sie bei manchen Menschen zu Krebs führen und bei anderen nicht. Insbesondere Charlie Swanton und sein Team haben wichtige Erkenntnisse gewonnen: "Jeder individuelle Krebs kommt aus einer einzigen Zelle und doch enthält jeder Tumor tausende Klonzellen. Krebs behandeln oder heilen bedeutet, diese große Spannbreite an genetischer Diversität zu bewältigen. Es ist ein Krieg gegen die Klonzellen. Und die klinische Relevanz ist offensichtlich. Klonzellen, die Mutationen entwickeln, die dann wiederum Resistenzen gegenüber Krebstherapien ausbilden, sind diejenigen, die sich durchsetzen und Metastasen formen. 'Man kann den Zellen nicht immer zuvorkommen', hat Swanton beobachtet - und damit die Bedeutung dessen unterstrichen, die Tumore daran zu hindern, überhaupt zu wachsen." Entscheidend sind für das Wachstum von Krebszellen aber auch die Umgebung und die Umstände, in denen sich die Zelle befindet: Eine Studie hat gezeigt, dass der eingesetzte "chemische Trigger Immunzellen dazu bringen kann, eine Entzündungskaskade auszulösen und dass diese Entzündung wiederum dafür sorgen kann, dass Krebszellen wachsen". Für Mukherjee erinnert diese Entdeckung an den detektivischen Spürsinn, den er in manchen Kriminalromanen lesen kann: "'Das entscheidende Kriterium, ein großes literarisches Werk zu identifizieren', hat mir ein Freund und eifriger Leser mal erzählt, 'ist, dass die Person, die den Roman zu lesen anfängt und die, die ihn beendet, nie dieselbe sein dürfen. Der Roman ändert dich.' Das Gleiche gilt für große Entdeckungen der Naturwissenschaften. Es verändert die Sicht auf die Welt fundamental. Swantons Team ist dem Rätsel mithilfe von Epidemiologie, Toxikologie, Immunologie und Humangenetik auf die Spur gekommen und hat dann einen kausalen, biologisch plausiblen Mechanismus für die Krebsentstehung ausgegraben. Das ist eine der elegantesten Verflechtungen der Disziplinen, die mir in der Wissenschaft je begegnet sind."

Außerdem: Anthony Lane sah im Kino Jonathan Glazers "The Zone of Interest" über Kommandanten des Vernichtungslagers Auschwitz, Rudolf Höß.