Magazinrundschau
Eine Armee von Bloggern
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
17.03.2009. In Osteuropa steigt Jachym Topol in die U-Bahn und sieht gleich den Unterschied zwischen Ost- und Westeuropa. In Frontline beklagt der Physiker Pervez Amirali Hoodbhoy die Saudisierung der pakistanischen Kultur. Reset Doc sieht lauter Dissidenten in den arabischen Ländern. Im Guardian spielt Roger Norrington Beethoven im richtigen Tempo. Nicht die Natur-, nur die Geisteswissenschaften können Religion dekonstruieren, ruft der New Humanist. Elet es Irodalom nimmt die ungarische Art des Antichambrierens aufs Korn. Der Economist staunt über ein Archiv des Warschauer Ghettos. Die New York Times porträtiert den Musiktycoon Valeri Gergiev.
Osteuropa (Deutschland), 18.03.2009

Online lesen dürfen wir ein Interview mit dem tschechischen Schriftsteller Jachym Topol, der sich darüber wundert, dass Osteuropa auch zwanzig Jahre nach der Wende noch so anders ist als der Westen: "Zum Beispiel eine Fahrkartenkontrolle in der U-Bahn. Hier in Berlin zeigen sämtliche Fahrgäste einfach ihre Fahrkarte vor. In Prag wäre das undenkbar, dort nesteln viele Leute absichtlich möglichst umständlich und langwierig in ihren Taschen herum, denn der Kontrolleur wird als Vertreter einer öffentlichen Institution nach wie vor als Feind betrachtet - und darum gilt es, ihn möglichst lange hinzuhalten, damit sich der Schwarzfahrer, der sich sicherlich auch in diesem Waggon befindet, rechtzeitig aus dem Staub machen kann... Ein zweites Phänomen, mit dem ich 1989 nicht gerechnet habe, ist die Tatsache, dass viele kommunistische Verbrechen auch zwanzig Jahre später noch immer nicht gesühnt, die Täter nicht bestraft worden sind."
Katharina Raabe zeichnet nach, wie die mitteleuropäische Autoren von Peter Nadas, Aleksandar Tisma und Imre Kertesz bis Andrzej Stasiuk , Slavenka Drakulic und Dubravka Ugresic die Welt erschütterten und erklärt einen wichtigen Unterschied: "Wer Osten sagt, meint Moskau; wer von 'Mitteleuropa' spricht, denkt an Wien. Es ist die historische Bestimmung Mitteleuropas, schreibt Juri Andruchowytsch, 'zwischen Russen und Deutschen eingezwängt zu sein'. Es gibt die mitteleuropäische Angst: vor den Deutschen, vor den Russen. Den mitteleuropäischen Tod: im Lager, im Gefängnis; ein kollektiver, ein gewaltsamer Tod. Und schließlich die mitteleuropäische Reise: die Flucht. Dass es unvermeidlich ist, von Todesarten zu erzählen, gibt der Literatur die bis heute in dieser Gegend geschrieben wird, ihre Schwere."
Weiteres: Der slowenische Dichter Ales Steger geht hart mit der europäischen Kulturpolitik ins Gericht, die ihn in ihrem Harmonisierungswahn geradezu titoistisch anmutet und die eine bloße PR an die Stelle eines europäischen Diskurses gerückt habe. Zu lesen ist auch Adam Michniks Rede zur Eröffnung der großen Osteuropa-Konferenz "Freiheit im Blick". Zudem schreiben György Konrad, Petr Pithart, Ivaylo Ditchev und Karl Schlögel über die Ameisenhändler vom Bahnhof Zoo (der Text ist in der Welt zu lesen).
Frontline (Indien), 14.03.2009

Nouvel Observateur (Frankreich), 12.03.2009

Al Ahram Weekly (Ägypten), 12.03.2009

Youssef Rakha findet die Rivalität zwischen arabischen Dichtern und Romanautoren "lächerlich", aber er hat doch seine Zweifel an Romanen, die es erst seit etwa gut einem Jahrhundert in der arabischen Kultur gibt. "Das Prosagedicht bleibt die einzig originale und bestimmbare Form, die seit den 1990er Jahren herausragt, als angeblich das Jahrhundert [des Romans] heraufdämmerte. Der Roman auf der anderen Seite schwankte sichtbar, definierte sich immer wieder neu und taumelte über viele Kreuzungen, ohne sich sehr weit in eine bestimmte Richtung zu bewegen."
ResetDoc (Italien), 16.03.2009
Die Behauptung, die Zivilgesellschaften in muslimischen Staaten seien rückständig und unfähig zur Kritik, folgt nur der postkolonialen Logik westlicher Staaten, glaubt Marco Cesario. Er zählt einige Beispiele für Dissidenz in Ägypten, der Türkei, dem Libanon, Tunesien, Algerien und Jordanien auf, um dann festzuhalten: Unbemerkt vom Westen ändern sich die arabischen Gesellschaften und dazu, so Cesario, trägt vor allem das Internet bei. "Wie Jihad Al Khazan in der panarabischen Tageszeitung Al Hayat feststellte, schreibt der Nahe Osten heute dank des Internets und der Blogs ein vollkommen neues Kapitel, weil diese den Weg zu größerer Meinungsfreiheit öffnen. Heute zerstört eine Armee von Bloggern, Intellektuellen, Künstlern und politischen Flüchtlingen mit verschiedenen Formen der Dissidenz die politische Unbeweglichkeit der Regierungen und verursacht profunde Veränderungen in ihren Gesellschaften. Alles, was in einem Land passiert, kann gefilmt und für jeden sichtbar online gestellt werden. Ein Blog kann leicht die Zensur eines Regimes umgehen und über die Fakten berichten. Die Machtbeziehung zwischen politischen Regimen und den Zivilgesellschaften, früher zugunsten der Regime neigend, erreicht langsam eine neues Gleichgewicht."
Außerdem: Khalid Chaouki kritisiert die Tendenz westlicher Regierungen, sich mit autokratischen Regimen in der arabischen Welt gutzustellen. Nadia Urbinati, Professorin für Politische Theorie an der New Yorker Columbia University erklärt, wie wichtig Dissidenz für die Demokratie ist. Michael Kazin, Geschichtsprofessor an der Georgetown University beschreibt im Interview die Rolle oppositioneller Bewegungen in den USA.
Außerdem: Khalid Chaouki kritisiert die Tendenz westlicher Regierungen, sich mit autokratischen Regimen in der arabischen Welt gutzustellen. Nadia Urbinati, Professorin für Politische Theorie an der New Yorker Columbia University erklärt, wie wichtig Dissidenz für die Demokratie ist. Michael Kazin, Geschichtsprofessor an der Georgetown University beschreibt im Interview die Rolle oppositioneller Bewegungen in den USA.
Guardian (UK), 14.03.2009

Außerdem: Man braucht keine "große Idee", um Beethoven zu spielen, man muss ihn nur im richtigen Tempo spielen, meint der Dirigent Roger Norrington. Das klingt dann so:
Nepszabadsag (Ungarn), 14.03.2009

Julianna P. Szűcs würdigt die Kunst des französischen Malers Gustave Moreau, dessen Werke derzeit im Budapester Museum der Schönen Künste gezeigt werden, als Wundermittel gegen die Krise: "Der Schlüssel seiner Kunst ist in jener künstliche Welt aus Kultur, Phantasie und Mythos verborgen, die er der wirklichen Welt gegenüberstellt, in der hartnäckigen Verteidigung der von allem unabhängigen, willkürlichen Schönheit. Während seiner Laufbahn war er – zu seinem Glück oder zu seinem Unglück – nie mit dem naturalistischen Gebot des Alltags konfrontiert. Moralisch ist dies gewiss falsch. Doch heutzutage, in der Zeit der totalen Wertkrise, der allgemeinen Existenzkrise und des alles überschwemmenden Medienmülls, ist es ein Geschenk fürs Auge, sich auf diesen altertümlich glänzenden Edelsteinen ausruhen zu können."
New Humanist (UK), 01.04.2009

Außerdem: Caspar Melville lässt sich vom russischen Philosophen Michail Ryklin erklären, warum der Kommunismus eine Religion ist. Besprochen wird Kenan Maliks Buch "From Fatwa to Jihad".
Salon.eu.sk (Slowakei), 09.03.2009

Times Literary Supplement (UK), 11.03.2009
Mit großem Vergnügen hat Gabriel Josipovici die Briefe gelesen, die Samuel Beckett zwischen 1929 und 1940 schrieb, noch unsicher, was er mit seiner Kunst und seinem Leben anfangen sollte: "Am Ende dieses Jahrzehnts zeigten ihm Freunde Gemälde, die sie gekauft hatten und stellten ihm Fragen zu Provenienz und Authentifizierung. Aber Beckett konnte genauso wenig ein Kunsthändler sein wie Französischlehrer, kommerzieller Pilot, Student bei Einstein oder irgendetwas anderes, dass ihm kurz in den Sinn gekommen war, bevor er es fallenließ oder einfach in die Gefilde einer anderen Möglichkeit driftete. Es gab nur eine einzige Sache, die Beckett wirklich wollte und dass war Schreiben. Sogar die Briefe über Kunst befassen sich im wesentlichen mit der selben Sache, von der auch seine Briefe über Musik, Philosophie und Literatur handelten: dem Versuch zu verstehen, was er zu erreichen hoffte und wie die fragliche Kunst ihm dabei helfen konnte. Darum seine Leidenschaft für das unwahrscheinliche Trio Watteau, Cezanne und Jack B. Yeats."
Elet es Irodalom (Ungarn), 06.03.2009

Nach dem erfolglosen Versuch von Ministerpräsident Ferenc Gyurcsany während des EU-Wirtschaftsgipfels in Brüssel, einen Hilfsfonds in Höhe von 190 Milliarden Euro für die ostmitteleuropäischen Länder einzurichten, nimmt der Chefredakteur von Elet es irodalom diese althergebrachte ungarische Strategie aufs Korn: Immer wenn sich Ungarn in einer schwierigen Lage befindet, kreiert man daraus zunächst ein regionales Problem, indem man den ungarischen Kummer in ganz Ost- und Mitteleuropa ausbreitet, und präsentiert dann das gesamte Problembündel den EU-Institutionen. Früher hat das ja funktioniert, sogar unter Kadar. "Nun, jetzt funktioniert es nicht mehr. Einerseits, weil wir längst keine progressive Rolle mehr in Osteuropa spielen, wie vor der Wende – die Situation ist sogar viel schlimmer: wir sind das faule und bequeme Land Osteuropas geworden. Während die anderen Staaten der Region Strukturreformen durchgeführt haben, [...] haben wir Ungarn uns die damit verbundenen Unannehmlichkeiten erspart und handeln nun überstürzt. Das Antichambrieren ist umso schwieriger als die anderen Länder, die sich bereits weiter vorn befinden und ernsthafte Opfer gebracht haben, offensichtlich nichts davon wissen wollen. Weder die Slowakei, noch Polen oder Tschechien. Auch zeigen sie keine regionale Solidarität mit Ungarn, und diese Haltung ist nur zu verständlich: Wenn jemand für etwas gelitten hat, sieht er es nicht gern, wenn der andere sich dieses etwas in den Vorzimmern der Diplomatie verschaffen will."
Economist (UK), 12.03.2009

Außerdem gibt es in diesem Heft einen Schwerpunkt zum Unternehmertum, das laut Adrian Woolridge eine globale Renaissance erfahren. Die Wirtschaftskrise sei geradezu von Vorteil für Entrepreneure, denn "talentierte Mitarbeiter können leichter gefunden und billige Büros leichter gemietet werden. (...) Microsoft, Genentech, Gap und The Limited wurden alle in Rezessionen gegründet. Hewlett-Packard, Geophysical Service (jetzt Texas Instruments), United Technologies, Polaroid und Revlon starteten während der Depression."
Spectator (UK), 12.03.2009

New York Times (USA), 15.03.2009

Hier Strawinskys "Sacre du Printemps" mit Gergiev und dem Londoner Symphonieorchester:
In der Book Review schreibt Lee Siegel vielleicht ein wenig unentschieden über den großen George Steiner: "Sein erfrischender Vorzug ist, dass er in nur einem Absatz von Pythagoras, über Aristoteles und Dante zu Nietzsche und Tolstoi kommt. Sein irritierender Nachteil ist, dass er in nur einem Absatz von Pythagoras, über Aristoteles und Dante zu Nietzsche und Tolstoi kommt."
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