Magazinrundschau
Kreuzung aus Igel und Schnecke
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
12.05.2009. Der Nouvel Obs bringt ein Interview mit Imre Kertesz über das Überleben nach dem Überleben. Die New York Review of Books feiert die reiche und kluge Madame de Stael. Tygodnik Powszechny freut sich über die erste Stasiuk-Verfilmung. Im Guardian fragt sich Elaine Showalter, warum amerikanische Autorinnen notorisch unterschätzt werden. Le Point porträtiert Dieudonne, der seinen Antisemitismus zur Kunst erklärt. Rue 89 fragt: Sind Internetsperren links? Im New Republic liest sich John Banville durch die Briefe Samuel Becketts.
New York Review of Books (USA), 28.05.2009

Besprochen werden unter anderem drei Bücher - über Warren Buffett, von Malcom Gladwell und von Geoff Colvin -, die jedes auf seine Weise nach den Zusammenhängen von Talent, Glück und Erfolg fragen sowie neue Bücher zur Gründungsgeschichte des Staats Israel, vom Neuen Historiker Benny Morris und von Gudrun Krämer.
Nouvel Observateur (Frankreich), 08.05.2009

Tygodnik Powszechny (Polen), 11.05.2009

Außerdem: Elzbieta Sawicka ist begeistert von der Baseler Ausstellung "Vincent van Gogh zwischen Erde und Himmel. Die Landschaften". Und Jakub Puchalski erinnert an das Händel-Jahr, das in Polen erst spät gefeiert wird, und weiß noch, dass seine ersten Händel-Platten aus der DDR stammten.
Guardian (UK), 09.05.2009

Angelique Chrisafis hat Isabelle Huppert getroffen, die Jury-Präsidentin des diesjährigen Cannes-Wettbewerbs. Sie gibt sich entschieden der Filmkunst und nicht dem Glamour zugewandt: "'Vielleicht sollten wir einmal der Jury die Information vorenthalten, wer die Filme, die sie sieht, gemacht hat. Zehn Tage lang die Augen und Ohren verschließen.' Für Huppert geht es in Cannes um die große Überraschung, das unbekannte Meisterwerk. 'Etwas, das man nicht erwartet hat... Diese Neugier und Offenheit, um nichts anderes geht es für mich in Cannes. Es ist ein Festival, das das Kino als Kino feiert.'"
Observator Cultural (Rumänien), 10.05.2009
Das Übersetzungsprojekt des Cultural Observator ist diesmal Filip Florian gewidmet. Auf Deutsch ist im letzten Jahr sein Roman "Kleine Finger" veröffentlicht und sehr gut besprochen worden. Der Haupttext ist ein Auszug aus Florians Roman "Die Tage des Königs". Erzählt wird die Geschichte eines Berliner Zahnarztes, der im Jahr 1866 nach Bukarest reist, dort ein in zahnärztliches Kabinett gründet und sich mit dem Fürsten Carol I. befreundet.
Hier der Anfang: "Im Juni, wenn die Sommersonnenwende naht, zieht die Morgendämmerung früher herauf als sonst. An diesem Mittwoch jedoch zeigte sich keine aufgehende Sonne. Die mit Koffern, Taschen und Kisten beladene Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, eines der Pferde (eine hochbeinige graue Stute) schnaubte und warf den Kopf herum, als wollte es in die Zügel beißen, das andere (ein Fuchs mit einer Narbe am Hals) reckte die Brust, und aus einem abgedeckten Weidenkorb maunzte Kater Siegfried kläglich. Der Zahnarzt verlor die grünen Fensterläden und die schwere Tür der Herberge, den Wasserbottich im Hof und die Margeritenstauden am Tor aus den Augen, dafür sah er eine getirgerte Katze flink über die Spitzen der Zäune laufen, wobei sie die fehlenden Latten mit traumwandlerischer Sicherheit übersprang, hartnäckig darauf bedacht, mit den Pferden Schritt zu halten. Sie dünkte ihm durchaus ansehnlich, mitsamt dem dicken Bauch."
Hier der Anfang: "Im Juni, wenn die Sommersonnenwende naht, zieht die Morgendämmerung früher herauf als sonst. An diesem Mittwoch jedoch zeigte sich keine aufgehende Sonne. Die mit Koffern, Taschen und Kisten beladene Kutsche setzte sich mit einem Ruck in Bewegung, eines der Pferde (eine hochbeinige graue Stute) schnaubte und warf den Kopf herum, als wollte es in die Zügel beißen, das andere (ein Fuchs mit einer Narbe am Hals) reckte die Brust, und aus einem abgedeckten Weidenkorb maunzte Kater Siegfried kläglich. Der Zahnarzt verlor die grünen Fensterläden und die schwere Tür der Herberge, den Wasserbottich im Hof und die Margeritenstauden am Tor aus den Augen, dafür sah er eine getirgerte Katze flink über die Spitzen der Zäune laufen, wobei sie die fehlenden Latten mit traumwandlerischer Sicherheit übersprang, hartnäckig darauf bedacht, mit den Pferden Schritt zu halten. Sie dünkte ihm durchaus ansehnlich, mitsamt dem dicken Bauch."
London Review of Books (UK), 14.05.2009

Andrew O'Hagan denkt über Susan Boyle (hier) und verwandte YouTube-Phänomene nach: "Ihr Erfolg ist nicht schwer zu verstehen: Wir lieben die Idee, dass Talent im Verborgenen blüht, und es gehört zu unseren am tiefsten verwurzelten Phantasien, dass die Bescheidensten unter uns, die Unschuldigsten, die, die am wenigsten hermachen, die Fähigkeit haben, die Welt in Erstaunen zu versetzen. Diese Vorstellung ist das sentimentale Geheimnis des ganzen Showbusiness."
Weitere Artikel: Gareth Peirce, die als Rechtsanwältin des islamistischen und des IRA-Terrors Angeklagte verteidigt hat, schreibt über Folter und die gefährliche Staatsgeheimnisskrämerei Großbritanniens. Jenny Turner bespricht Ratgeber-Bücher, die erklären, wie man aus finanziell schlechten Zeiten das beste macht. Michael Wood hat im Kino den schwedischen Adoleszenz-Vampir-Film "So finster die Nacht" (Webseite) gesehen.
Point (Frankreich), 07.05.2009

Times Literary Supplement (UK), 08.05.2009
Ein weiteres Buch aus dem Nachlass von J.R.R. Tolkien ist in Großbritannien erschienen, nämlich sein Versuch, eine empfindliche Lücke der Nibelungen-Sage mit eigenen Gedichten zu stopfen. Wie wird das bei der Tolkien-Leserschaft ankommen, fragt Tom Shippey, der zuvor im Detail erläutert hat, was Tolkiens Konjekturen für das Epos bedeuten. "Viele werden Schwierigkeiten haben mit den Archaismen, schließlich sind die Gedichte siebzig Jahre alt, geschrieben noch dazu von einem Mann, der früheren Zeiten näher stand als seiner Gegenwart. Wer durchhält, wird viel über die Dichtung der Edda und die großen Legenden des Nordens lernen, und einiges von der 'dämonischen Energie', die sie ausstrahlen spüren. Dies ist die unerwartetste von Tolkiens vielen postumen Veröffentlichungen...; die Gedichte halten den Vergleich mit ihren Edda-Vorbildern aus - und immerhin gibt es wenig Poesie ihresgleichen."
Polityka (Polen), 08.05.2009
Adam Krzeminski nimmt politische Mythen aufs Korn - deutsche, englische, französische und natürlich polnische. "Während die kommunistischen Staaten ihre Legitimation in historischen Mythen suchten, taten dies die westlichen Staaten (u.a. Frankreich und die Bundesrepublik) durch einen fast vollständigen Bruch mit der Vergangenheit. De Gaulles Frankreich strich die Niederlage von 1940 und die Kollaboration der Vichy-Regierung aus dem Gedächtnis, Deutschland dagegen seine klassischen nationalen Mythen. Der Mythos der bis zur Selbstvernichtung treuen Nibelungen war durch Stalingrad diskreditiert worden. Die siegreiche Schlacht der Germanen gegen die Römer im Teutoburger Wald wurde nun durch Adenauers Händedruck mit de Gaulle überdeckt. Und den Mythos von Kaiser Barbarossa, der aus seinem Schlaf erwachen und Deutschlands Feinde besiegen wird, setzte die Gründung der EWG und der NATO außer Kraft."
Das Magazin (Schweiz), 12.05.2009

Außerdem: ein Interview mit dem Hirnforscher Gerhard Roth über die Veranlagung zum Glück und zum Unglück.
Economist (UK), 09.05.2009

Besprochen werden unter anderem Horatio Clares Sachbuch "Eine einzige Schwalbe" (Verlagsseite), das der Reise des titelgebenden Vogels von Südafrika nach Südwales folgt und Jay Taylors Biografie "Der Generalissimo" (Verlagsseite), die für eine freundlichere historische Einschätzung des chinesischen Diktators Chiang Kai-Shek plädiert.
Rue89 (Frankreich), 06.05.2009
Ist es "links", Downloadern den Computer wegzunehmen und sie den Internetanschluss weiterbezahlen zu lassen? Die sozialistische Partei in Frankreich meint "nein" und stimmt darum gegen die entsprechende loi Hadopi von Sarkozy. Letzte Woche haben sich aber "linke" Künstler zu Wort gemeldet, um Sarkozy zu unterstützen, darunter Michel Piccoli und Juliette Greco. Sie schreiben in einem offenen Brief an die Sozialisten in Le Monde: "Sie verkörperten einst den Widerstand gegen die Deregulierung, gegen das Gesetz des Dschungels, das die kulturelle Vielfalt zerstört. Nun sind Sie, durch eine seltsame Ironie der Geschichte, zu Advokaten eines entfesselten Kapitalismus geworden, der sich im Moment der Digitalisierung gegen die Rechte der Künstler stellt. Vergesssen Sie nicht: Das Urheberrecht ist ein Menschenrecht. Die Chefs der neuen Multis mögen Jeans und T-Shirts tragen, das ändert nichts an ihrer Gier." Darauf entgegnet der Komponist Pierre Sauveageot in Rue89: "Links sein bedeutet, die Debatte über den Hunger nach Kultur und ihre Finanzierung auf ein europäisches Level zu heben. Links sein bedeutet, eine kulturelle Vielfalt zu entwickeln, die auf öffentlicher Finanzierung und ... der Teilhabe am Internet beruht. Links sein bedeutet zu wollen, dass die Rechte renommierter Autoren aufstrebende Künstler finanzieren."
The Nation (USA), 25.05.2009

Der New Yorker Journalismusprofessor Eric Alterman greift in seiner Kolumne recht heftig den Washingtoner Alphajournalisten David Broder an, der angesichts der Folter in Guantanamo und anderswo einerseits zugab, dass Amerika einige seiner dunkelsten Jahre erlebt habe und andererseits alle Recherchen zum Thema ablehnt, weil sich in ihnen nur eine 'unwürdige Rachsucht' manifestieren würde.
Elet es Irodalom (Ungarn), 30.04.2009
Immer wieder wird in Ungarn über die Integration der Roma debattiert – bislang ohne nennenswerte Ergebnisse. Den Grund dafür sieht der Ethnologe Peter Niedermüller – neben der weit verbreiteten Romafeindlichkeit – darin, dass diese Integration meistens als "Einbahnstraße" aufgefasst wird - als müssten sich ausschließlich die Roma um eine Aufnahme in die Gesellschaft bemühen. Für Niedermüller aber ist in dieser Frage auch die Mehrheitsgesellschaft gefragt: "Solange wir nicht erkennen, dass die Integration der Roma nicht ausschließlich an die Bildung und die Beschäftigung der Roma geknüpft werden kann, solange wir nicht verstehen, dass Integration auch mit stetiger, sozialer Fürsorge, mit der Aktivierung der Gesellschaft, mit einer sich auf alle Bereiche des Lebens erstreckenden Desegregation, mit interkultureller Bildung und mit der Schaffung eines gesellschaftlichen Konsenses gegen Hass und Vorurteile verbunden ist, werden wir keinen Schritt vorankommen."
New Republic (USA), 20.05.2009

Außerdem: Istvan Deak würdigt in seiner Besprechung von Philipp Freiherr von Boeselagers Erinnerungen die Männer des 20. Juli, hätte aber auch einige Fragen an den Autor. Adam Kirsch macht in einer Besprechung einer englischen Anthologie klassischer chinesischer Gedichte auf faszinierende Art deutlich, warum Nichtkenntnis manchmal genauso gut sein kann wie Kenntnis des Hintergrunds.
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