Magazinrundschau

Eine unverwechselbare, strenge Ordnung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
05.04.2016. Afar mietet einen Freund in Japan. Die NYRB warnt vor dem neuen Mao Chinas. In Eurozine warnt Dubravka Ugresic vor dem neuen Nationalismus in Osteuropa. Im New Yorker porträtiert Guy Talese einen fürsorglichen Spanner. New Republic beschreibt das Shaming in Amerika. Wired erklärt, wie man Isis in den sozialen Medien contra gibt.

New York Review of Books (USA), 21.04.2016

Sehr düster liest sich Orville Schells Artikel über eine Remaoisierung Chinas, die sich als Antikorruptionskampagne ausgibt und in Wahrheit eine brutale Gleichschaltungskampagne ist. Hauptinstrument, so Schell, ist die "Zentrale Disziplinarkommission der Kommunistischen Partei Chinas", die auch außergerichtlich operieren kann und überall große Angst verbreitet: "Viele fürchten, dass China in eine Periode des Neo-Maoismus abgleitet. Nur verstärkt wurden diese Befürchtungen, als Parteichef und Staatspräsident Xi Jinping am Neujahrstag nach Jinggangshan pilgerte, wo Mao im Jahr 1927 seine erste revolutionäre Basis errichtete. Xi wurde hier als 'vereint mit den Massen' dargestellt, der vor einem Plakat des Großen Vorsitzenden Mao ein Mahl mit Bauern teilte. Diese Reise hat eine Flut von Fotografien, Fernsehnachrichten und Popsongs ausgelöst, die allesamt das segensreiche Wirken von 'Onkel Xi' (Xi Dada) preisen."

Nepszabadsag (Ungarn), 02.04.2016

Péter Nádas nimmt Abschied von Imre Kertész, der in der vergangenen Woche im Alter von 86 Jahren verstarb. "Es muss über ihn erneut und immer wieder geschrieben werden, ich muss über ihn schreiben. Nicht über den Tod, weil sein Tod Erlösung vom Leid bringen konnte, das seine Krankheit ihm als letzten Schlag verpasste, sondern über sein Leben, das trotz allem verschwenderisch reich und beispiellos gnädig zu ihm war. Doch am meisten muss über seine Werke erneut und immer wieder geschrieben werden, mit denen er über sein Leben hinaus weist. Er wuchs mit seinen persönlichen Eigenschaften, mit seiner Abstammung und seiner Nationalität, die ihm geraubt und immer weiter abgesprochen wurde, über uns hinaus. Er wuchs sogar über sein Geschlecht und seinen Namen hinaus. Über all jene Bestimmungen, die wir so sehr schätzen. Einzig über seine Muttersprache wuchs er vielleicht nicht hinaus. Mit ihr schuf er eine unverwechselbare, strenge Ordnung. Über diese Sprache, über diese Ordnung müssen wir erneut und immer wieder sprechen und bis dahin in Stille die Nachtwache halten."
Archiv: Nepszabadsag

Afar (USA), 30.04.2016

Japan ist für den Westler, der zum ersten Mal dort ankommt, eine sehr sehr fremde Welt. So fühlt sich auch Chris Colin in Tokio. Er greift also zum Telefon und mietet für einige Stunden einen "Freund". Auftritt Miyabi, 27 Jahre alt. Für etwa 60 Dollar die Stunde leistet sie ganz normale Freundschaftsdienste: Sie weint bei Beerdigungen, wenn es zu wenig Trauernde gibt, tritt als Schwester der Braut auf, die verbergen will, dass sie sich mit ihrer Familie überworfen hat, begleitet einen auf Spaziergänge, zum Shoppen, guckt mit Fernsehen oder leistet einem Gesellschaft, während man sieben Stunden lang vor dem Nike-Shop wartet, dass die neuen Sneaker verkauft werden. Die gemieteten Freunde "bieten keine Wunderkur, das nicht. Aber sie sind ein Druckventil. 'Mit uns', sagt Yumi, eine andere 'Freundin', können Menschen über ihre Gefühle sprechen ohne sich ängstigen zu müssen, was ihre echten Freunde darüber denken.'"
Archiv: Afar

Novinky.cz (Tschechien), 04.04.2016

Ein tschechischer Schriftsteller schreibt maximal zwei Stunden am Tag. Warum? Weil er den Rest der Zeit Geld verdienen muss. Die prekäre Situation der Literaten, die nicht auf ein Stipendien- und Auszeichnungssystem wie in Deutschland zählen können, ist immer wieder ein Thema in Tschechien. Nachdem nun der Prager Kulturstadtrat angeblich gesagt hat, Schriftstellerei sei "Privatsache" und nicht weiter unterstützenswert, nimmt sich Štefan Švec dieses Themas erneut an: "Die Literatur ist langfristig der unterfinanzierteste Kunstsektor bei uns. Als Schauspieler, Regisseur, Musiker, bildender Künstler oder Choreograf kann man sich noch irgendwie ernähren. Als Schriftsteller ernährt sich hier nur Michal Viewegh. Während der Film als professionelle Angelegenheit gilt und von privaten Sponsoren, dem kommerziellen Fernsehen und millionenschweren Staatsfonds unterstützt wird, gilt Literatur als Hobby. (…) Warum wohl liest heute die ganze Welt skandinavische Krimis? Weil nirgendwo auf der Welt die staatliche Unterstützung von Literatur und ihren Übersetzungen so stark ist wie in Skandinavien. Die kultivierten kleinen Staaten fördern einfach ihre Autoren. Sie wissen, dass es sich lohnt."
Archiv: Novinky.cz

New Yorker (USA), 11.04.2016

In der neuen Ausgabe des Magazins erzählt Gay Talese die unglaubliche Geschichte des Gerald Foos', der ein Motel erwarb, nur um anderen Paaren heimlich beim Sex zuzusehen und der darüber jahrzehntelang wie in Vorbereitung einer soziologischen Studie penibel Buch führte: "In seinen Aufzeichnungen beschwert sich Foos über das unethische Verhalten seiner Gäste: Der Typ, der heimlich in den Bourbon seiner Freundin pinkelte, der fettleibige Gast, der seine viel jüngere Begleitung in ein Fell kleidete und ihn 'meinen wunderschönen Schafs-Jungen' nannte. Meistens fand Foos deprimierend, was er sah. Die Objekte seiner Begierde stritten sich und sahen zu viel fern, was er als besonders kränkend empfand, wenn es sich um attraktive Exemplare handelte. Nachdem er so ein unerquickliches Paar beobachtet hatte, notiert er: 'Dies ist das echte Leben mit echten Menschen! Ich bin geradezu abgestoßen von der Tatsache, dass ich ganz allein die Last dieser Beobachtung zu tragen habe. Diese Leute werden niemals glücklich sein, und natürlich werden sie sich scheiden lassen. Er weiß rein gar nichts über Sex und seine Anwendung. Er kennt nur das Rein-und-raus bis zum Orgasmus, am besten im Dunkeln."

Außerdem: Rachel Aviv berichtet über philippinische Kindermädchen, die ihre eigenen Familien aufgeben, um für andere zu sorgen. Calvin Tomkins porträtiert den isländischen Künstler Ragnar Kjartansson. James Lasdun bewandert die Via Alpina im Dreiländereck zwischen Österreich, Italien und Slowenien. Anthony Lane sah im Kino Richard Linklaters "Everybody Wants Some!!" und Don Cheadles "Miles Ahead." Und Alex Ross erklärt, warum Mallarme eigentlich nicht ins Englische übersetzt werden kann. Lesen dürfen wir außerdem Sarah Shun-lien Bynums Erzählung "The Burglar".
Archiv: New Yorker

Eurozine (Österreich), 04.04.2016

Die kroatische Autorin und unerschütterliche Titoistin Dubravka Ugresic verzweifelt im Gespräch mit Lukasz Pawlowski von der Kultura Liberalna an Europa, wo sie vor allem im Osten, aber nicht nur dort die Wiedergeburt des Faschismus erlebt, von Hass und Nationalismus: "Die Wahrheit wurde ersetzt. Die Leute behaupteten, der Aufstieg des Nationalismus sei etwas Gutes, weil er in der jugoslawischen Zeit unterdrückt worden war. Sie behaupteten, dass sie seit einem Jahrtausend auf den Moment gewartet hätten, an dem Kroatien ein unabhängiger Staat werden würde. Das gleiche Muster wiederholte sich in ganz Osteuropa. Doch unter dem politischen Narrativ der 'nationalen Befreiung', das westliche Politiker verstanden haben, ging primitive und rohe Plünderung vonstatten. Brutal und offen. Der postkommunistische Übergang war mit oder ohne Krieg ein perfekt organisierter Raubzug. Kommunistisches Eigentum kannte keinen Besitzer, es gehörte niemandem, und eh man sich versah, haben es sich welche geschnappt und verkauft. Fabriken wurde für winzige Beträge verkauft. Das war die sogenannte Privatisierung. Der große Raub wurde von den Mächtigen und der Kirche abgesegnet."
Archiv: Eurozine

Guardian (UK), 02.04.2016

Mark Townsend rekonstruiert in einem langen Report, wie vier britische Jugendliche aus Brighton in den Dschihad abdrifteten und nach Syrien gingen. Er sieht als Hauptdarsteller in diesem Trauerspiel neben dem gewalttätigen Vater eine rassistische Umgebung und ignorante Behörden: "Ihre Geschichte spiegelt wider, was wir auch von den jungen europischen Muslimen wissen, die an den Terrorattentaten von Paris und Brüssel beteiligt waren: eine Kultur der Delinquenz, die in den Extremismus führt, wie auch die Verbindung zu radikalisierten Brüdern. Sie wirft in Bezug auf die Integration in Britannien eine diffizile Frage auf: Wenn der Multikulturalismus in einer der liberalsten Städte des Landes strauchelt, welche Hoffnung besteht dann für andere Orte?"

Verzweifelt und voller Sarkasmus schreibt der pakistanische Schriftsteller Mohammed Hanif nach dem monströsen Attentat von Lahore mit über siebzig toten Frauen und Kindern: "In ihrer heiligen Logik bombardieren uns die Taliban und ihre sektiererischen Cousins seit einem Jahrzehnt, um uns zu besseren Muslimen zu machen. Wir wurden bessere Muslime, aber nicht gut genug für sie, also bombten sie weiter."
Archiv: Guardian

Magyar Narancs (Ungarn), 02.04.2016

Vergangene Woche entschied der Nationale Kulturfonds (NKA), das Budget zur Förderung von Kunstzeitschriften und Magazine ab dem laufenden Jahr um die Hälfte zu kürzen. Für den Literaturwissenschaftler und Publizisten György C. Kálmán droht in Folge ein wesentlich größerer Verlust, als die Einstellung einiger vermeidlich unbedeutender Kulturzeitschriften: "Die Kunstzeitschriften sind Bühnen der Kritiker: hier wird alles abgewogen, was in der Kultur passiert. Hier stehen die Bewertungen der wichtigsten und interessantesten 'Produkte' und Prozesse, manchmal oberflächliche, dann gründliche, manchmal irrende, dann ins Schwarze treffende - sie sind für das Funktionieren der Kultur unentbehrlich. Nicht weil sie von Künstlern gelesen werden (meistens wohl nicht), (...) nicht weil die kleine intellektuelle Elite Kritiken mag, sondern damit der Gewürzhändler, der LkW-Fahrer oder die Hebamme, sollten sie einen Roman lesen, eine Ausstellung sehen oder ins Theater oder zum Konzert gehen und etwas nicht verstehen, interessiert oder gar empört sind, eine Interpretation finden können. Das gehört zur Aneignung von Kultur, diese wichtige vermittelnde Funktion haben 'Kulturzeitschriften'."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Ungarn

New Republic (USA), 10.03.2016

Nichts lässt einen stärker an Amerika zweifeln als sein Kult der Strafe. Suzy Khimm erzählt vom "Shaming", also von Schand- oder Ehrenstrafen, die auch deshalb wieder in in Mode kommen, weil die Gefängnisse so überfüllt unsd teuer sind. Ein Fall ist etwa der von 200 Männern, deren Bilder bei einer Pressekonferenz in Long Island und im Netz gezeigt wurden, weil sie die Dienste von Prostitutierten wahrnehmen wollten, darunter ein Wissenschaftler: "Seine achtzigjährige Mutter erfuhr es von Reportern, die an ihrer Tür läuteten. 'Was mir vor allem durch den Kopf ging, war, dass ich keinen Job mehr finden würde', erinnert sich der Wissenschaftler. Seine Befürchtungen waren nicht unbegründet. Seine Universität forderte ihn sofort auf, seine Kündigung einzureichen."
Archiv: New Republic

sIgns (USA), 05.04.2016

In der erbittert geführten Debatte um Trigger-Warnungen an amerikanischen Universitäten meldet der Kulturwissenschaftler Jack Halberstam von einem feministischen Standpunkt Bedenken an: "Trigger-Warnungen werden oft als ursprünglich feministische Erfindung angesehen und in Verbindung gebracht mit Frauen, die sexuelle Gewalt erlebt haben. Die meisten Forderungen nach Trigger-Warnungen online oder auf dem Campus scheinen von Gruppen oder Individuen zu kommen, die sich als Feministinnen identifizieren. Aber darin steckt die Ironie: Die Kurse, die am häufigsten von Trigger-Warnungen betroffen sind, sind ebenfalls oft Feminismuskurse oder Frauen- und Gender-Studies-Kurse. Die Leute fordern keine Trigger-Warnungen in Biologie oder in den Politikwissenschaften. Aber sehr oft sind die Kurse, in denen wir potentielles Material für Trigger-Warnungen finden, Kurse über soziale Gerechtigkeit, die auf Material angewiesen sind, das verschiedene Formen von Gewalt beschreibt, diskutiert oder kritisiert. Von der sexuellen Gewalt bis zur rassistischen Gewalt, von Krieg bis zu Aufständen, von Polizeigewalt bis zum Horror der Sklaverei oder des Holocaust."
Archiv: sIgns

Elet es Irodalom (Ungarn), 31.03.2016

"Wir alle sind deine Leser: eine unsichtbare Gemeinschaft umgibt dich, wir alle, die durch den einen oder anderen Satz von dir Erwachsene wurden", dankt der Kunsthistoriker Péter György dem Schriftsteller György Spiró zum Siebzigsten. "In den vergangenen zwanzig Jahren scheint es, dass das Publikum und die Kritik endlich dasselbe lesen und schreiben: Spiró ist beliebter denn je, sein Platz im Kanon ist unumstritten. Wer sich einmal in der Nähe der literarischen Welt aufhielt, weiß, dass dies nicht selbstverständlich ist. Wir sollten es zum Anfang bereits festhalten: Dies ist die eigentliche Freude. Ich weiß aber, dass er dazu sagen würde: Bedeutungslos."

Wired (USA), 17.03.2016

Das Social-Media-Zeitalter gibt den Terroristen von Isis Möglichkeiten wie nie zuvor in die Hand, Menschen direkt zu agitieren - sei es, um Gesellschaften über Schreckensbilder zu erodieren oder um zahlreiche neue Mitglieder zu rekrutieren, schreibt Brendan I. Koerner in einer lesenswerten, detailliert aufgefächerten Darlegung der Online-Aktivitäten des islamistischen Terrornetzwerks. Und dieses gewinnt den Kampf um die Aufmerksamkeit derzeit schon alleine deshalb, weil es sich ziemlich clevere Strategien einfallen lässt, auf die amerikanische Behörden aufklärerisch, aber reichlich ungelenk reagieren. Was wäre stattdessen zu tun? "Zuerst und zuvorderst müssen sich die westlichen Nationen darauf konzentrieren, die Geschichten der Flüchtlinge zu streuen, erzählt in deren eigenen Worten. Worte, die das 'wir bleiben, wir expandieren'-Narrativ, das für die Identität des Islamischen Staates so grundlegend ist, widerlegen. In seiner digitalen Selbstdarstellung zeigt sich das Kalifat als veritabler Garten Eden ... Was, wenn wir den Flüchtlingen die digitalen Werkzeuge und den Internetzugang an die Hand geben, den es braucht, um Inhalte zu produzieren, die diese Darstellungen nicht nur widerlegen, sondern auch den alltäglichen Schrecken in einer Gesellschaft vermitteln, in der herzlose, gewalttätige Männer die Strippen ziehen. ... Wenn es uns ernst damit ist, dieses Medienscharmützel zu gewinnen, ist Zeit von zentraler Bedeutung", meint Koerner mit Verweis auf Libyen, wo die nächste Katastrophe droht.
Archiv: Wired