Magazinrundschau

Geübte Verführung

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
29.03.2016. Die LRB macht mit Luke Hardings Buch über den Mord an Alexander Litwinenko in der Hand eine Kleptokraten-Tour durch Mayfair. In HVG denkt der Schriftsteller Attila Bartis über das immer noch kolonialistische europäische Selbstverständnis nach. In der NYRB empfiehlt Anne Applebaum eine erhellende Geschichte der ukrainischen Sprache. In El Pais Semanal hofft Javier Cercas, dass die Chinesen von dem Automechaniker Enric Marco lernen, wie man mit seiner Vergangenheit nicht umgeht. In The Nation geht Enrique Krauze der Unzufriedenheit der Mexikaner auf den Grund. Die Dichterin Patricia Lockwood begutachtet für den New Republic Sugardaddy Donald Trump.

London Review of Books (UK), 31.03.2016

In einem irrsinnig langen Text rekonstruiert Colm Toibin historisch und literarisch die Geschichte der irischen Unabhängigkeit , die Irlands Republikaner mit dem Oster-Aufstand von 1916 einläuteten: "Was Ostermontag in Dublin geschah, kann unterschiedlich gedeutet werden: Militärisch betrachtet ergibt es fast keinen Sinn. St. Stephens Green einzunehmen statt Dublin Castle, zeugt von schlechter Vorbereitung und einem Mangel an strategischem Denken. 'War der Aufstand ein versuchter Putsch oder ein sinnloses Blutopfer?', fragt Fearghal McGarry in seinem Buch 'The Rising' von 2011. Anders gefragt: Entsprangen die Geschehnisse also dem (wie ungeschickt auch immer ausgeführten) Vorhaben Thomas Clarkes, die Macht in Irland mit Waffengewalt zu übernehmen, oder standen sie im Zeichen der messianischen Träume von Patrick Pearse: Eine kleine Zahl soll sich selbst zu Ostern opfern, um eine größere Menge zu inspirieren? Sollte der Ostermontag das Problem vergrößern oder lösen?"

Luke Harding hat in seinem Buch "A Very Expensive Posion" nicht nur den Mord am abtrünnigen FSB-Agenten und Putin-Kritiker Alexander Litwinenko gründlich nachrecherchiert, betont Peter Pomerantsev, sondern auch die Umtriebe russischer Kleptokraten, die besonders von David Cameron sehr hofiert werden. Da musste Pomerantsev gleich eine Kleptokraten-Tour durch Mayfair mitmachen, die natürlich auch zur russischen Botschaft in Londons teuerster Straße Kensington Palace Gardens führt: "2012 wurden im Garten der russischen Botschaft die Konservativen Freunde Russlands ins Leben gerufen, die der 'kulturellen Verständigung' zwischen Britannien und Russland wie auch den Geschäftsbeziehungen dienlich sein wollen. Harding hat E-Mails von Sergej Nalobin gesehen, er ist der Verbindungsoffizier zum Club und Sohn von Litwinenkos früherem Chef beim FSB. Diese Mails zeigen, dass 'Moskaus Ziele über die kulturelle Verständigung hinausgehen. Der Kreml zielt darauf, Kritik an Russlands Menschenrechtspolitik zum Schweigen zu bringen; vor allem soll den Spitzen des Staates nicht im Stil der amerikanischen Magnitski-Liste die Einreise nach Britannien verwehrt werden'. Das Magnitski-Gesetz wird von Parlamentariern beider Fraktionen, aber nicht von der Regierung unterstützt und soll wie sein amerikanisches Pendant korrupten und russischen Beamten, die Menschenrechte verletzen, Einreise und Investitionen in Britannien verbieten. Sergej Magnitzki war übrigens ein russischer Anwalt, der ermordet wurde, als er einen internationalen 230-Millionen-Dollar-Steuerbetrug aufdeckte."

HVG (Ungarn), 21.03.2016

Der vor kurzem erschienene Roman von Attila Bartis (A vége - Das Ende, Magvető, Budapest, 2015) steht mit neun weiteren Nominierungen auf der Shortlist für den unabhängigen, renommierten Aegon-Literturpreis von 2016. In einem ausführlichen Interview mit Zsuzsa Mátraházi sprach der Schriftsteller und Fotograf u.a. über die Agententätigkeit seines Vaters Ferenc Bartis vor und nach der Übersiedlung der Familie von Rumänien nach Ungarn (1984) und über das europäische Selbstverständnis angesichts der Flüchtlingskrise: "Wer sich vormacht, dass der Mensch doch in anderen Gegenden der Erde mit offenen Armen empfangen wird, der soll einmal versuchen, sich außerhalb des weißen Kulturkreises anzupassen. (...) Es ist ein westliches Hirngespinst, dass Unterschiede nicht bemerkt werden dürfen. Nicht die Unterschiede sind das Problem, sondern die darauf gegebenen Antworten. Sie hängen davon ab, ob das Anderssein des Anderen meine Identität, meine Kultur, meine ethnische, wirtschaftliche und körperliche Sicherheit bedroht. Damit kann man auf unterstem Niveau manipulieren, zweifellos in beide Richtungen. Es kann ebenso Angst erzeugt werden, wie ihre begründete Existenz negiert werden kann. (...) Trotz unserer demokratischen Sonntagsreden, halten wir uns immer noch für den Mittelpunkt der Welt, wie zuvor unsere kolonialisierenden Vorfahren. Wir haben nicht Mal mehr die Chance zu verstehen, dass ein Verständnis über das Verhältnis zum Individuum, zu der Gemeinschaft, zu der Welt oder zum Wissen von unserem abweichen kann."
Archiv: HVG

New York Review of Books (USA), 07.04.2016

Als lesenwerte Einführung in die ukrainische Geschichte - geschrieben an die Adresse von Ausländern - empfiehlt Anne Applebaum Serhii Plokhys "The Gates of Europe - A History of Ukraine". Allein, was sie über diese Geschichte der ukrainischen Sprache nacherzählt, illustriert sehr gut, warum die Mehrsprachigekit geradezu zur Identität dieser Nation gehört: "Während des von Plokhy so genannten 'galizischen Alphabet-Krieges' von 1859 versuchte das Habsburger Reich, das damals die heutige Westukraine regierte, das lateinische Alphabet durchzusetzen, um sicherzustellen, dass seine ukrainischen Untertanen nicht russifiziert würden. Ungefähr zur selben Zeit verbot das Zarenreich seinen Untertanen, irgendein anderes als das kyrillische Alphabet zu benutzen, um ihre Polonisierung zu verhindern. Einige Jahre später verboten die russischen Behörden ukrainische Publikationen grundsätzlich. Im 20. Jahrhundert wurde das Ukrainische weiter marginalisiert, und Russisch wurde de facto zur offiziellen Sprache der ukrainischen Sowjetrepublik."

Außerdem in der New York Review of Books: Ian Buruma erzählt den amerikanischen Lesern der Zeitschrift, was von Brüssel zu halten ist. Denis Donoghue liest pünktlich zum hundertsten Jahrestag der irischen Revolution R.F. Fosters Buch "Vivid Faces - The Revolutionary Generation in Ireland, 1890-1923".

El Pais Semanal (Spanien), 27.03.2016

Javier Cercas' neuer Roman El impostor (Der Betrüger) hat den chinesischen Taofen-Preis für den besten ausländischen Roman des Jahres erhalten. Das Buch erzählt die wahre Geschichte des Spaniers Enric Marco, der während der gesamten Franco-Zeit in Barcelona ein völlig unpolitisches Leben als Automechaniker führte, kurz nach Francos Tod jedoch mit der Lüge, Jahrzehnte lang anarchistischer Widerstandskämpfer gewesen zu sein, innerhalb kürzester Zeit Generalsekretär der wiedergegründeten mythischen Anarchistengewerkschaft CNT wurde. Nach dem Niedergang der CNT erfand sich Marco ein weiteres Mal neu und schaffte es als angeblicher Ex-Flossenbürg-Häftling an die Spitze des Verbandes der ehemaligen spanischen KZ-Häftlinge. "Wenn es um die härtesten Teile unserer persönlichen wie auch kollektiven Vergangenheit geht, lügen wir gerne", erklärt Cercas. "Hoffentlich finden sich in China Leute, die sich bei der Lektüre dieses Buches sagen: So wie dieser Mann dürfen wir nicht mit unserer Vergangenheit umgehen."
Archiv: El Pais Semanal

New Republic (USA), 29.03.2016

Die amerikanische Dichterin Patricia Lockwood hat für den New Republic Donald Trumps Wahlkampf in New Hampshire beobachtet. Das Ergebnis ist weniger eine politische Reportage als ein Trip in eine andere Welt - bei dem ihr einige schöne Beobachtungen gelingen. Zum Beispiel diese: "Je länger er sprach, desto mehr klang Trump wie ein reicher Mann, der beim Dinner einer jungen Frau, deren Pass ihr Gesicht und ihre Frische ist, die Bedingungen des Arrangements erklärt: Er würde sie am Arm tragen, sie zu den Lichtern drehen, sie würde ihm in der Öffentlichkeit den Vortritt lassen, er würde ihr gerade genug geben, um sie zu halten. Ich schrieb in mein Notizbuch: 'Trump bietet an, unser Sugardaddy zu werden? Er will Amerika zu seiner Trophäenfrau machen?' Was er wirklich versprach, war die Freiheit, sich in der Welt zu bewegen wie er es tut, unter seinem Schutz, nach seinen Gesetzen. Ich gehöre niemandem, erklärt er uns unermüdlich, nicht den Lobbyisten, nicht den Republikaner-Bossen, nicht den Washington-Insidern. Ich stecke in niemandes Tasche, hüpft in meine. Seine Frauen, das mag Ihnen aufgefallen sein, werden hübscher und hübscher. Es ist geübte Verführung. Das hat schon öfter funktioniert. Wir ignorieren es auf eigene Gefahr."

Anders als viele europäische Kunstkritiker ist Ellen Handler Spitz enttäuscht von der großen Hieronymus-Bosch-Ausstellung im Noordbrabants Museum. Die Kuratoren haben dem Maler jede Ambiguität ausgetrieben und "sich statt dessen entschieden, Bosch, einen gläubigen Katholiken, ausschließlich als religiösen Moralisten darzustellen, der einer einzigen Überzeugung anhing: dass nämlich die Menschheit in einer Welt des Bösen um das Gute kämpft. Durch Texte und den Audioguide trommeln die Aussteller diese Botschaft in die Ohren tausender Besucher, die täglich in die Ausstellung strömen." Aber wenn das alles wäre, würden wir heute wohl kaum noch über Bosch sprechen, meint Spitz.

Außerdem: Aaron Bady stellt Helen Oyeyemi vor, eine Autorin, die viel mit Silvina Ocampo gemeinsam habe. Und Maggie Doherty erinnert an die Feministin Kate Millett, die in Amerika gerade wiederentdeckt wird.
Archiv: New Republic

Eurozine (Österreich), 23.03.2016

Wer sich für die Länder und russischen Regionen des Kaukasus und Nordkaukasus interessiert, sollte unbedingt Emil A. Souleimanovs Osteuopa-Artikel lesen, der von Eurozine online gestellt wurde - der Artikel ist sozusagen eine kommentierte Bibliografie, die die jüngeren Publikationen auf argumentatorische Schlagkraft prüft: Leicht ist es nicht, über die Region mit ihren vielen Ethnien und komplizierten Konflikten zu schreiben. Unter anderem zitiert er Andrew Foxalls Untersuchung über die kaukasische Stadt Stawropol mit ihren starken russischen Bevölkerung, deren Schluss er teilt: "Ungeachtet der beiden Tschetschenienkriege und der wirtschaftlichen Subventionierung des Nordkaukasus aus dem Moskauer Zentrum nimmt die Kluft zwischen Russlands Kernland und seiner südlichen Peripherie zu. Transparente föderale Transferleistungen, eine klare Migrationspolitik und die soziale Integration von Migranten wären für eine Entschärfung der schwelenden Konflikte vonnöten. Optimistisch ist Foxall nicht, er hält die Lage im Bezirk Stawropol zu Recht für exemplarisch: Überall in Russland nimmt die soziale Kohäsion ab, die 'Russland den Russen'-Haltung und die Xenophobie gegen Kaukasier haben dramatisch zugenommen."
Archiv: Eurozine

The Nation (USA), 18.04.2016

Im großen und ganzen geht es den Mexikanern heute deutlich besser als im ausgehenden 20. Jahrhundert. Die Wirtschaft wächst, die Demokratie funktioniert besser, bei Wahlen lösen sich Parteien ab, es gibt überhaupt viel mehr Parteien als früher und die Wahlbeteiligung wächst. Auch um die Meinungsfreiheit ist es viel besser bestellt. Warum also sind die Mexikaner so unzufrieden? Das, meint der mexikanische Intellektuelle Enrique Krauze, liegt im wesentlichen an drei Wörtern, die in der öffentliche Vorstellung und in der Wirklichkeit mit Politik und Politikern verknüpft sind: Korruption, Gewalt und Straflosigkeit. "Am Ende ist für die Mexikaner nichts so wichtig, wie ein Gefühl der Sicherheit in ihrem Leben zurückzugewinnen. Die Gefahr des moralischen Zerfalls wächst. Die Faszination für Drogendealer und die Wut gegen die Regierung verwandeln sich in einen makabren Tanz. Etwas ist faul in Mexiko. Es ist alarmierend - vor allem unter jungen Menschen - eine Art Umkehrung der Werte zu beobachten, wo der Mörder als Held betrachtet wird und die, die ihn verurteilen, als Kriminelle."

Außerdem: Cynthia Haven stellt die neue Brodsky-Biografie von Ellendea Proffer Teasley vor.
Archiv: The Nation

Wired (USA), 24.03.2016

Wer heute von Künstlicher Intelligenz spricht, meint damit üblicherweise avancierte Projekte von Google, Facebook oder Apple, die im Netz hinterlegte Informationen per Data-Crawling absaugen und in ihren neuralen Netzwerken Algorithmen daraus Schussfolgerungen ziehen lassen: Ein automatisiertes, von außen moderiertes System. Eine andere Strategie stellt Cade Metz in seiner Reportage über Doug Lenat vor, der seit frühen Computerspieltagen in den 80ern und von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt an einem KI-System namens Cyc arbeitet - mit vielen Textbüchern und Mitarbeitern, von denen einige einen eher philosophischen Background haben: Das nicht-automatisierte Verfahren sieht vor, der KI über Schritt für Schritt vermittelte, logische Sätze eine Form von "gesundem Menschenverstand" beizubringen - eine "common sense engine" also. Die NSA ist hochinteressiert, denn Filter können die ungeheuren gesammelten Datenmengen zwar nach Schlüsselwörtern durchsuchen, "doch die subtilen Verbindungslinien zwischen einer Abfolge von Wörtern und einem drohenden Anschlag können sie nicht von alleine ziehen. Dazu bedarf es noch immer menschlicher Intelligenz ... Zumindest in gewisser Hinsicht ist Cyc in der Lage, diese Form von 'Verständnis' anzubieten, um solche Schlüsse zu ziehen. Aus diesem Grund haben Lenat und sein Team eine 'Terrorismus-Wissensdatenbank' mit Beschreibungen tausender terroristischer Anschläge auf Grundlage komplexer logischer Regeln angefertigt. Während Maschinen also die Kommunikationsströme analysieren, können sie auf Cyc zurückgreifen, um diese Daten besser zu 'verstehen'."

Außerdem unterhält sich Mark Yarm mit dem Cartoon-Meister Daniel Clowes, der mit "Patience" nach vielen Jahren wieder ein neues Werk veröffentlicht hat (passend dazu der Hinweis auf dieses noch ausführlichere Gespräch bei Longreads).
Archiv: Wired

La vie des idees (Frankreich), 29.03.2016

Leila Vignal untersucht in einem sehr faktenreichen Artikel Baschar al-Assads "Strategie der Zerstörung" in Syrien, die seit fünf Jahren die Bevölkerung unter intensiven Druck setzt und mit der Vertreibung von mehr als der Hälfte der Syrer aus ihren Wohnstätten die Zukunft des gesamten Landes bedroht. Diese Vertreibungen seien jedoch, so Vignal, nicht einfach "Kollateralschäden" des Konflikts, sondern eben ein bewusstes Mittel, "um die internationale Szene mangels anderer Mittel unter Druck zu setzen. Wie sehr etwa das Los der Einwohner von Damaskus vernachlässigt wird, zeigt sich unter anderem daran, wie das Regime den humanitären Zugang zur Bevölkerung der Regierungsgebiete kontrolliert. Hunger wird nicht nur bei Belagerungen als Waffe eingesetzt, das Regime verwandelt ihn vielmehr in ein politisches Instrument, indem es die Verteilung der Hilfe einschränkt."

New York Times (USA), 27.03.2016

Im aktuellen Magazin der New York Times wirft Geoff Manaugh einen Blick in die Zukunft der Polizeiarbeit in unseren Städten und geht mit der Los Angeles Police in die Luft: "In den Hochhausschluchten von New York oder Chicago ist Luftüberwachung unmöglich. In L. A. dagegen muss man in die Luft gehen, um das ganze Bild zu bekommen. Die Vernetzung der Wohngegenden untereinander und der jeweils beste Weg durch sie hindurch sind nur volumetrisch zu erfassen. Auf die Art suchen Kriminelle neue Fluchtwege. So wurde die Gegend um den Flughafen zum gut frequentierten Zufluchtsort für Kriminelle, die mit dem Auto unterwegs sind, weil Polizeihubschrauber aus Sicherheitsgründen hier nicht operieren dürfen … Nach Thomas Morus ist eine gut strukturierte Metropole die Voraussetzung für jede Art von visionärer Stadtpolitik. Die Luftdivision hat sich diesen Grundsatz zu eigen gemacht, indem sie die bestehende Ordnung der Straßen, Blocks und nummerierten Häuser von L. A. zu verstehen und in ihre Arbeit einzubeziehen sucht. Doch wenn das Versprechen der Luftüberwachung bedeutet, die Stadt lesbarer zu machen, Verbrechen besser zu verstehen, so lautet die darin mitschwingende Versuchung, noch einen Schritt weiter zu gehen und zukünftige Ereignisse vorauszusehen."

Außerdem: Jeremiah Sullivan erkundet die Geschichte afro-amerikanischer Theaterarbeit am Broadway. Und Genevieve Field geht den moralischen Implikationen des Wunsches einiger Eltern nach, ihre behinderten Kinder am Erwachsenwerden zu hindern.
Archiv: New York Times