Magazinrundschau

Jelineks Ruf

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
03.06.2008. Die London Review wünschte sich, Elfriede Jelineks Roman "Gier" wäre nie übersetzt worden. Polityka erzählt eine Geschichte des polnischen Antisemitismus - auch auf Deutsch. In Clarin hofft der spanische Architekt Santiago Calatrava, auch in Großstädten bald angenehm leben zu können. In der Gazeta Wyborcza beschwichtigt der Politologe Ivan Krastev die Angst der Ex-Jugoslawen vor einem Zerfall der EU. Im Guardian hält Ian McEwan nichts von Endzeit-Denken. Al Ahram erzählt die Geschichte der Juden in Ägypten. Die New York Times porträtiert die stärkste Waffe der pakistanischen Demokratie: Männer in schwarzen Anzügen.

London Review of Books (UK), 05.06.2008

Der Herausgeber der London Review, Nicholas Spice, schreibt ein großes enthusiastisches Porträt Elfriede Jelineks. Er hat offensichtlich fast alles von ihr und über sie im Original gelesen, bis zum Amstetten-Text "Im Verlassenen", auf den er ausführlich eingeht. Anlass seines Artikels ist allerdings die Übersetzung von Jelineks Roman "Gier" ins Englische - und die ist, klagt er, eine einzige Katastrophe: "Die ständigen Wechsel der Tonlagen und Sprachregister, das Seitwärtsgleiten des Denkens entlang von Wortspiel und Kalauer, die häufigen Anspielungen auf andere deutsche Texte, kurz: das Idiom von 'Gier' stellt die Übersetzer grundsätzlich vor kaum überwindbare Hindernisse... Leider hat der Verlag, fraglos ökonomischem Druck gehorchend, nicht mehr als eine Standard-Übersetzung bezahlt, die eher nur Zufallstreffer landet - und das Ergebnis ist eine Katastrophe. Es ist schwer vorstellbar, dass sich Jelineks Ruf in der englischsprachigen Welt sich je davon erholen wird. Es wäre angesichts des Ergebnisses besser gewesen, den Roman überhaupt nicht zu übersetzen."

Weitere Artikel: Hugh Pennington erklärt - aus Anlass der Katastrophe in Burma -, dass Desaster dieser Art, anders als oft behauptet, in der Regel keine Epidemien nach sich ziehen: "Dass die unbegrabenen Toten eine wichtige Infektionsquelle sind, ist ein alter Glaube. In Wahrheit sind die Mikroben, die Leichen zersetzen, aber fast völlig auf diese besondere Aufgabe spezialisiert - und kaum in der Lage, auf die Lebenden überzuspringen." David Runcimann beschreibt den Wahlkampf 2008 als erstes wirkliches Internet-Wahlereignis der US-Geschichte - und damit das Ende massenmedialer Monopole. Andrew O'Hagan berichtet von einem Besuch in Bethlehem. Michael Wood bespricht eine Robert-Bresson-DVD-Box.

Clarin (Argentinien), 01.06.2008

"Wie werden die Städte der Zukunft sein?", fragt N, das Magazin der argentinischen Zeitung Clarin, und der spanische Architekt Santiago Calatrava gibt in einem seiner seltenen Interviews überraschend optimistische Antworten: "Ich glaube, so rasend schnell wie im 20. Jahrhundert vor allem in Europa werden die Städte nicht mehr wachsen. Dass die Einwohnerzahl einer Stadt innerhalb von gerade einmal zwei Generationen von 2000 auf zwei Millionen steigt, das wird sich so wohl nicht wiederholen. Im 21. Jahrhundert werden wir uns mit der Stadt aussöhnen. Durch öffentlichen Nahverkehr und Verbesserung der Infrastruktur werden die Städte als Orte, in denen es sich angenehm leben lässt, wiedergeboren werden. Ich glaube, das wird ein großartiges Jahrhundert." (Hier ein fast einstündiger Beitrag über und mit Calatrava in der Show des amerikanischen Talkmasters Charlie Rose.)
Archiv: Clarin

Vanity Fair (USA), 03.06.2008

Wir haben schon in den "Feuilletons" darauf hingewiesen, aber hier noch einmal: Todd Purdum zeichnet in der Vanity Fair ein wenig schmeichelhaftes Bild von Bill Clinton, mit allen glamourösen Details über Lebenswandel und Transportgewohnheiten (Privatjets von Superreichen). So beginnt's: "Es war eine Hochzeit direkt aus 'Sex and the City': ein Probedinner mit Blick vom Trocadero auf den Eiffelturm, eine Gartenzeremonie und eine tanzende Rezeption in einem großen Schloß vor Paris, das von einem Feuerwerk umstrahlt wurde. Der Bräutigam war ein amerikansicher Anwalt in den Dreißigern, die Braut eine dunkeläugige Designerin von sozialem Glanz, die Gäste ein Mix aus Familie und was Noel Coward mal die Nescafe Gesellschaft nannte. Doch der wahre Anziehungspunkt bei dieser Gelegenheit war ein lächelnder, weißhaariger Mann, der bei jeder Hochzeit die Braut ist und bei jeder Beerdigung die Leiche, der 42ste Präsident der Vereinigten Staaten Bill Clinton. Er war mit seiner Motley Crew, in die Stadt der Lichter gekommen um die Hochzeit von Douglas Brand zu feiern, den Mann, der in den letzten zehn Jahren sein persönlicher Assistent, Torhüter, Vollstrecker und - ganz zuletzt Berater in den vielfältigen Geschäften, philantropischen Werken und politischen Händeln, die Clinton rastlos um den Globus kreisen lassen."

In der Huffington Post berichtet Mayhill Fowler, wie Bill Clinton ausrastete und einen "gesalzenen Strom von Epitheta" losließ, um Purdum zu beschreiben. "Er nannte ihn 'schäbig', 'unehrlich', 'schleimig' und einen 'Drecksack.'" Clintons Reaktion darf man auch in einem Video betrachten. Und Gawker wartet mit Hintergrundinformationen auf: "the fact that Purdum is married to Clinton's former press secretary Dee Dee Myers."

Erkennen Sie die Dame auf dem Titelbild? Die aussieht wie eine aufgebrezelte Hausfrau kurz vor der zweiten Scheidung? Angelina Jolie. Definitiv ein Fall von Photoshop of Horrors.
Archiv: Vanity Fair

Polityka (Polen), 02.06.2008

Das Warschauer Wochenmagazin Polityka übersetzt neuerdings ausgewählte Artikel ins Deutsche - so auch eine instruktive Geschichte des komplizierten Verhältnisses der Polen zu den Juden und des polnischen Antisemitismus von Tomasz Wolek. Geradezu programmatisch klingt der letzte Absatz: "Wenn Antisemitismus eine Art ansteckende Krankheit ist, dann muss sie behandelt werden. Doch jeder Therapie muss eine zutreffende Diagnose vorausgehen. Deshalb sollte man diesem schändlichen Phänomen immer wieder auf den Grund gehen, seinen Kern erkennen und zu seinen historischen Quellen vorstoßen. Ein solcher bescheidener Versuch - und kein moralisches Traktat - ist auch dieser Text."
Archiv: Polityka

Outlook India (Indien), 09.06.2008

Namrata Joshi kann das ihm bekannte Indien in Wes Andersons Film "The Darjeeling Limited" eher nicht wiedererkennen. Besonders eine Episode will ihn gar nicht überzeugen: "Diese eine Sequenz, die alle Welt so anrührend fand, hat mich eingiermaßen kalt gelassen. Die Brüder retten darin zwei ertrinkende Kinder, ein drittes kommt aber um - und dann bleiben sie zur Trauerzeremonie im Dorf. Die Begegnung mit Armut und Entbehrung, die Tatsache, dass daraus die Gelegenheit wird, den tieferen Sinn des Lebens zu begreifen - das schien mir doch eine reichlich künstliche, sentimentale Übung. Ich habe mich auch gefragt, ob Irrfan Khan (der den Vater der Kinder spielt) wirklich jede Rolle in westlichen Filmen annehmen sollte, nur um seine Beziehungen mit der dortigen Filmindustrie zu verbessern."

Sanjaya Baru preist das Buch "Smoke Mirrors" der indischen Lehrerin und Journalistin Pallavi Aiyer, die über ihr Leben in China schreibt: "Sie hat ein geistreiches, kluges und tiefsinniges Buch geschrieben, das jeder gebildete Inder lesen sollte, der das Leben und die Liebe, die Ängste und die Hoffnungen, die Aufs und Abs unseres größten, ältesten und wichtigsten Nachbarn verstehen will." Gerson da Cunha bedauert sehr, dass in Cannes nichts aus Indien zu sehen war - Festivalleiter Thierry Fremaux, den er dazu befragt hat, meint lakonisch: "Kein indischer Film hat uns überzeugt." Und Ashish Kumar Sen fragt sich, wen die indischstämmigen Amerikaner, die in großer Mehrheit Hillary-Clinton-Fans sind, nun unterstützen werden, da ihre Bewerbung wohl gescheitert ist.
Archiv: Outlook India

New Yorker (USA), 16.06.2008

In dieser Doppelnummer würdigt Elizabeth Kolbert in einem ausführlichen Porträt Buckminster Fuller, genialer Architekt, Designer, Philosoph und Kartograf in Personalunion, der unter anderem die geodätische Kuppel erfand. "Eine seiner frühesten Erfindungen war ein wie ein Luftschiff geformtes Auto. Es hatte drei Räder - zwei vorn, eins hinten - und statt des Rückfensters ein Periskop. Wegen seiner ungewöhnlichen Konstruktion ließ es sich auch vorwärts einparken und konnte eine so enge Hundertachtzigwendung vollziehen, dass es sich praktisch auf der Stelle drehte. In Bridgeport, Connecticut, wo das Auto im Sommer 1933 vorgestellt wurde, verursachte es derartiges Aufsehen, dass der Verkehr zum Erliegen kam und besorgte Autofahrer Fuller beschworen, es in der Rushhour von der Straße zu nehmen. Fuller nannte diese Erfindung Dymaxion Car." Ab 26. Juni ist im Whitney Museum übrigens die Ausstellung "Buckminster Fuller: Starting with the Universe" zu sehen.

In mehreren kleinen Artikeln geht es um persönliche Einlassungen zum Thema Glaube und Zweifel, unter anderem des kenianischen Schriftstellers Uwem Akpan, des Ghanaers Mohammed Naseehu Ali, der amerikanischen Schrifsteller Tobias Wolff, Edwidge Danticat, Allegra Goodman und George Saunders. Zu lesen sind außerdem die Erzählung "Natasha" von Vladimir Nabokov und Lyrik von Philip Levine und Gerald Stern.

James Wood renzensiert eine Studie über die alte Frage, warum Gott Leiden zulässt: "God?s Problem" (HarperOne). Louis Menand bespricht eine Biografie über Ezra Pound: "Ezra Pound Poet. A Portrait of the Man and His Work" (Oxford). Peter Schjeldahl führt durch eine Jeff-Koons-Retrospektive im Museum of Contemporary Art in Chicago. Sasha Frere-Jones erklärt, was Auto-Tune, eine Software zur automatischen Tonhöhenkorrektur, mit der menschlichen Stimme anstellt. Und Anthony Lane sah im Kino die Kinoversion von "Sex and the City".
Archiv: New Yorker

Merkur (Deutschland), 01.06.2008

Thomas Speckmann konstatiert, dass Demokratien einfach keine erfolgreichen Angriffskriege führen können: "Werden Demokratien entgegen ihren Gewohnheiten dennoch militärisch offensiv, so bereuen sie dies meist wenig später. Frankreich und Großbritannien haben diese Erfahrung in der Suezkrise 1956 gemacht: Paris und London verloren endgültig ihre Weltmachtstellung. Wie heute die amerikanische Ökonomie und der Dollar gerieten damals die britische Wirtschaft und das Pfund unter Druck, verbunden mit einem Ansehensverlust nicht zuletzt in der Dritten Welt, wo nun vor allem die Reste der britischen und französischen Kolonialreiche ihre Unabhängigkeit anstrebten. Ein Jahrzehnt später machte Israel eine ähnlich ernüchternde Erfahrung. Einige Monate vor dem Sechstagekrieg hatte Verteidigungsminister Moshe Dayan Vietnam besucht. Sein Resümee: 'Die Amerikaner gewinnen hier alles - außer den Krieg.' Im Juni 1967 konnte man über die Israelis das Gegenteil sagen: Das Einzige, was sie gewonnen hatten, war der Krieg."

Weitereas: Wolfgang Ullrich erzählt in der Ästhetikkolumne, warum er Duschgels sammelt, deren "Reizchoreografie besonders virtuos gestaltet ist". In einem aus Foreign Affairs übernommenen Beitrag prophezeit der Historiker Jerry Z. Muller, dass der ethnische Nationalismus auch im 21. Jahrhundert die Welt prägen wird. "Er entspricht manchen bleibenden Neigungen des menschlichen Geistes, die durch den Prozess der Entstehung des modernen Staates intensiviert werden; er ist eine entscheidend wichtige Grundlage sowohl für die Solidarität wie für die Feindschaft und wird noch viele Generationen lang Bestand haben."
Archiv: Merkur

Prospect (UK), 02.06.2008

In einer hervorragend recherchierten und erfreulich vorurteilsfreien Titelgeschichte bietet Tom Chatfield aktuelle Fakten über die längst zum wichtigen Wirtschaftsfaktor gewordene Kulturform des Videospiels: "Die Komplexität von Spielen wie World of Warcraft ist nicht der einzige Aspekt, der den gängigen Klischees widerspricht. Auch die demografischen Daten haben sich verändert: Während das Videospielen früher unter männlichen Jugendlichen am verbreitetsten war, findet man zusehends Spieler in allen Altersgruppen und unter beiden Geschlechtern... Der durchschnittliche Videospieler ist heute fünfunddreißig Jahre alt und spielt seit zwölf Jahren, während der Durchschnittskäufer vierzig ist. Außerdem sind vierzig Prozent aller Spieler Frauen, wobei Frauen über achtzehn einen viel größeren Anteil an der videospielenden Bevölkerung stellen (nämlich dreiunddreißig Prozent) als männliche Jugendliche unter achtzehn (achtzehn Prozent)."

Weitere Artikel: David Goldblatt stellt den israelischen Fußballverein Beitar Jerusalem FC und seine militant anti-arabischen Anhänger vor. Der Prospect-Filmautor Mark Cousins schreibt auf einem Flug von Großbritannien nach Dubai mal ganz grundsätzlich auf, was ihm das Kino bedeutet. Eine AIDS-Erkrankung ist in Großbritannien kein Todesurteil mehr - die Probleme, die diese erfreuliche Tatsache mit sich bringt, schildert Elizabeth Pisani. Philipp Collins und Richard Reeves glauben, dass Labour sich noch viel stärker in Richtung Liberalismus bewegen muss, um eine Chance zum Machterhalt zu wahren. Mark Pagel bespricht zwei Bücher zur Biologie der Rassen.
Archiv: Prospect

Radar (Argentinien), 01.06.2008

Vor dreißig Jahren, am 1. Juni 1978, begann die berühmt-berüchtigte Fußball-WM im damals noch von einer Militärdiktatur regierten Argentinien. Gustavo Veiga erinnert sich: "Manche Preise können regelrecht wehtun. Der damals von Fürst Rainier von Monaco geleitete Internationale Verband gegen Gewalt im Sport verlieh dem von starken Polizeikräften überwachten argentinischen Publikum abschließend einen 'Preis für gutes Benehmen'. Und Henry Kissinger, Ehrengast der Militärjunta, feierte den WM-Sieg der Heimelf als 'unwiderlegbaren Beweis, wozu die Argentinier, nicht bloß auf sportlichem Gebiet, imstande sind'." Um eine für den 29. Juni geplante Gedenkveranstaltung im Estadio Monumental samt Fußballspiel zwischen WM-Veteranen und internationalen Gästen scheint derweil ein heftiger Streit entbrannt. Trainerlegende Cesar Luis Menotti hat seine Teilnahme abgesagt: "Derlei Veranstaltungen interessieren mich nicht, ich brauche mich mit nichts und niemandem auszusöhnen."
Archiv: Radar

Gazeta Wyborcza (Polen), 31.05.2008

Viele "traumatisierte Ex-Jugoslawen" prophezeien der EU ein ähnliches Ende wie dem Tito-Staat, konstatiert der bulgarische Politologe Ivan Krastev. Fehlende Solidarität und wachsender Nationalismus gefährden die EU, Demokratie und Wohlstand sind keine Garantie für ihren Fortbestand: "Der Wohlstand geht irgendwann zu Ende und die Demokratie wird vom Volk benutzt, um den Staat kaputt zu machen", warnen sie. "Der Vergleich hinkt", kommentiert Krastev, "aber solche Gedanken sind in Krisenzeiten nützlich. Die Intuition meiner Gesprächspartner ist richtig - man darf die EU nicht als selbstverständlich ansehen, sonst wird es niemanden mehr geben, der sie verteidigen wird. Das war auch der tragische Fehler der jugoslawischen Eliten."
Archiv: Gazeta Wyborcza
Stichwörter: Krastev, Ivan, Tito, Jugoslawen

Folio (Schweiz), 01.06.2008

Folio widmet sich heute Perlen aus dem Internet. Matthias Daum traf eine 18-jährige Schülerin, die von halb sieben bis abends mit ihrem Messenger online ist und mit ihren "Buddies" chattet. "Die meisten Buddies gehen mit ihr in dieselbe Gymnasiumsklasse oder besuchten mit ihr die Sekundarschule. Auch einige Bekanntschaften aus den Sommer­ferien in ­Italien sind darunter: 'Mit diesen chatte ich natürlich auf italienisch' - quasi ein angewandtes Vokabeltraining der global vernetzten Schülerschaft, die Messenger-Kontakte austauscht wie die ältere Generation ihre Adressen. In den Chats mit ihren hiesigen Kolleginnen wird dagegen ausschließlich schweizerdeutsch geschrieben: 'Das ist viel praktischer. Man kann gleich schreiben, was man denkt. Ich finde es mühsam, wenn ich im Chat hochdeutsch schreiben muss.' Dominique: 'tscheggsch du physik?'"

Außerdem: Bruno Giussani berichtet aus dem Jahr 2013, was Google über uns weiß. Mikael Krogerus pflegt vier Wochen Freundschaften bei Facebooks. Gundolf S. Freyermuth bewundert die selbstgedrehten Videos bei Youtube. Claude Settele versucht mit Karten aus dem Internet von Luzern nach Zürich zu reisen. Und es werden eine ganze Reihe Internetseiten und -dienste vorgestellt.
Archiv: Folio

Guardian (UK), 31.05.2008

Der Schriftsteller Ian McEwan warnt in einem Essay vor dem Aufziehen eines neuen Endzeit-Denkens, das mitnichten das bloße Relikt eines abergläubigen Zeitalters sei, sondern eine reale Gefahr: "Heutige apokalyptische Bewegungen, christlich oder islamisch, gewalttätig oder nicht, teilen alle die Fantasie eines gewaltvollen Endes und beeinflussen damit grundlegend unsere Politik. Der apokalyptische Geist dämonisiert andere - das heißt, er verachtet andere Gruppen, Religionen für die Anbetung falscher Götter, und diese Irrgläubigen werden selbstverständlich nicht von den Feuern der Hölle bewahrt werden. Und dieser apokalyptische Geist neigt dazu, totalitär zu sein - seine allumfassende Ideen basieren auf einem sehnsüchtigen und übernatürlichen Glauben, der gegenüber Beweisen oder ihrem Fehlen immun ist und ebenso gefeit gegen neue Erkenntnisse. Folglich kommt es immer wieder zu unfreiwilligem Pathos, sogar Komik - und vielleicht enthüllt dies etwas, was in unserer Natur liegt -, wenn die Zukunft immer wieder neu geschrieben werden muss, wenn immer neue Anti-Christen, neue Bestien, neue Babylons, neue Huren geortet werden müssen und unsere alten Verabredungen mit der Verdammnis und der Erlösung schnell durch eine andere ersetzt werden müssen."
Archiv: Guardian
Stichwörter: McEwan, Ian

Nepszabadsag (Ungarn), 31.05.2008

Bei dem diesjährigen Filmfestival in Cannes ging der Fipresci-Preis der Kritiker an den Film "Delta" von Filmregisseur Kornel Mundruczo - und Produzentin Viktoria Petranyi. Im Interview mit Geza Csakvari sprechen die beiden Filmemacher über die Bedeutung dieses Preises für die ungarische Filmszene, in der sich in den letzten Jahren eine ablehnende Haltung gegenüber Autorenfilmen entwickelt hat. Dazu Viktoria Petranyi: "Jener schrecklich irrige, unintelligent erregte Diskurs, der für die Kluft zwischen dem Künstlerfilm und der Massenkultur sorgt, kann schwer mit einem ungarischen Film in Cannes entschärft werden. Man bräuchte zehn davon. Wir zum Beispiel haben die Daseinsberechtigung des Massenfilms nie bestritten, die andere Seite aber hält das Produzieren von Künstlerfilmen für einen schweren Verrat. Die Gekränktheit und der Graben innerhalb der Branche ist groß."
Archiv: Nepszabadsag

Espresso (Italien), 30.05.2008

Der Bologna-Prozess zur Umstellung der europäischen Universitäten trägt zwar den Namen seinner Heimatuniversität, trotzdem lehnt Umberto Eco so etwas Albernes wie den dreijährigen Bachelor-Studiengang und sein System von Modulen und Credit Points rundheraus ab. Man sieht die Studenten kaum noch in der Uni, meint er. "Warum sind drei Jahre College in Amerika besser als unser Schnellabschluss? Zum Teil wohl deshalb, weil sie in Amerika den Studenten nicht erzählen, dass sie nach drei Jahren 'Dottori' sind (zur Motivation könnte man ja immer noch Titel wie 'Exzellenz' oder 'Satrape' anfügen). Dort drüben müssen außerdem alle Kurse besucht werden, man lebt den ganzen Tag zusammen, Studenten und Professoren sind in ständigem Kontakt. Das klingt nach wenig, ist aber alles. Das Problem ist also nicht die Kürze des Studiums sondern die Intensität der Teilnahme. Wie schafft man es bei uns, dass die Teilnahme wieder zur Pflicht wird?"
Archiv: Espresso
Stichwörter: Bologna, Eco, Umberto, Intensität

Spectator (UK), 30.05.2008

In Deutschland dürfen Internet- und Telefondaten maximal sieben Monate lang auf Vorrat gespeichert werden. In Großbritannien ist man bald schon ein bisschen weiter, wie Edie G. Lush berichtet. "Letzte Woche hat die Labour-Regierung ihren Plan enthüllt, eine nationale Cyber-Datenbank zu erschaffen, die Details eines jeden Telefonanrufs, jeder SMS, jeder Email und jeden Besuchs des Internets enthält. Es geht um die Bekämpfung von Terrorismus und Kriminalität. Internetprovider und Telefonunternehmen werden verpflichtet, ihre Daten an das Innenministerium zu übermitteln, wo die Daten für mindestens ein Jahr lang gespeichert werden. Die Polizei und andere Sicherheitsorgane können darauf zugreifen, nachdem die Richter ihnen das erlaubt haben. Die Regierung behauptet, dass der Vorschlag sich an einer Direktive der EU ausrichtet, die nach den Londoner Bombenanschlägen vom 7. Juli eine untereinander kompatible Datenspeicherung der Mitgliedsstaaten anregte. Der Vorschlag bringt Menschenrechtler und Datenschützer auf die Barrikaden. Der Datenschutzbeauftragte Jonathan Barnford warnte, dass die Datenbank 'ein Schritt zu weit' sei und Großbritannien dabei sei, 'unbewusst zur Überwachungsgesellschaft' zu werden." (Wieso unbewusst????)
Archiv: Spectator

Al Ahram Weekly (Ägypten), 29.05.2008

In Kairo wurde eine als Nostalgie-Veranstaltung geplante Konferenz von Israelis über die Geschichte der Juden in Ägypten sehr kurzfristig abgesagt. Dina Ezzat nimmt das zum Anlass, sich in einem sehr ausführlichen Artikel mit dem Thema zu befassen: "Heute leben in Ägypten nur noch siebzig Juden. Fast nur ältere Frauen, nicht mehr als zwei Männer... Diese geringe Präsenz ist weit entfernt von früheren Zeiten, in denen ägyptische Juden Teil aller Gesellschaftsschichten waren. Reiche Juden mit bekannten Namen wie Rolo, Cattawi, Menashe, Suares und Mosseri, bekannt für ihren Patriotismus im Angesicht der britischen Kolonisatoren... lebten in den besseren Stadtvierteln von Kairo und Alexandria und leisteten einen großen Beitrag zum kulturellen, ökonomischen und politischen Leben in Ägpypten. Ärmere Juden lebten gemeinsam mit dem Rest der ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsteile, wahrten aber ihre religiöse Identität."

Weitere Artikel: Rania Khallaf berichtet von einer Konferenz über den auch fast zwanzig Jahre nach seinem Tod noch heftig umstrittenen ägyptischen Schriftsteller Youssef Idris.
Archiv: Al Ahram Weekly
Stichwörter: Nostalgie, Patriotismus

Point (Frankreich), 29.05.2008

Der französische Präsident Nicolas Sarkozy will Werbung im französischen Staatsfernsehen verbieten. 840 Millionen Euro gehen den Sendern dadurch verloren. "SOS" ruft Bernard-Henri Levy deshalb in seinen Bloc-notes und dekliniert durch, was diese "bekloppte" Initiative für das Fernsehen bedeute: Neben der Erhöhung von Fernsehgebühren und Steuern für Mediengeräte eine "absurde" Besteuerung des zu erwartenden Werbezuwachses bei den Privatsendern. "Die Situation ist alarmierend. (...) Das einzige Mittel besteht darin, ein langfristiges wirtschaftliches Modell zu ersinnen, das es erlaubt, neben einem Sender, den ich gut kenne - Arte - diesen Bild- und Wortbereich zu stärken, den man öffentlich-rechtlich nennt - und dessen Dekonstruktion politisch, kulturell und moralisch katastrophal wäre."
Archiv: Point

Express (Frankreich), 30.05.2008

In L'Express erklärt dagegen Frederic Lefebvre, ehemaliger Berater von Sarkozy, nun Sprecher der Regierungspartei UMP und Mitglied des parlamentarischen Medienausschusses, inwiefern die Abschaffung der Werbung eine "Rettung" des französischen Staatsfernsehens darstelle, und erläutert sein Finanzierungskonzept: Verstärkung des Sponsoring für einzelne Sendungen und Produktplacement statt Gebührenerhöhung. Letzteres stellt seiner Meinung nach keinerlei Einschränkung der künstlerischen Freiheit dar. "Haben Sie den Eindruck, dass die Filmbranche in Frankreich nicht unabhängig ist? Alle Franzosen, die einen James Bond oder einen persönlicheren Kinofilm sehen, wissen, dass es immer Produktplacement gibt. Es stört sie nicht, diese oder jene Automarke zu sehen, weil sie wissen, dass sich die Filmemacher ihr Drehbuch oder den Sinngehalt der Geschichte nicht von den Inserenten vorschreiben lassen."
Archiv: Express

Economist (UK), 29.05.2008

Die amerikanischen Vorstädte, einst mehr oder weniger homogen weiß, hetero und spießig, wandeln gerade ganz dramatisch ihr Gesicht, wie der Economist berichtet: "Der Demograf William Frey rechnet vor, dass von 2000 bis 2006 der Anteil von Weißen an der Gesamtbevölkerung in den Suburbs um sieben, der an Asiaten um sechzehn, an Schwarzen um vierundzwanzig und an Spanischstämmigen um verblüffende sechzig Prozent zugenommen hat. Viele Immigranten ziehen heute direkt in die Vorstädte, ohne vorher in einem der traditionellen städtischen Ghettos Station zu machen... Gary Gates, der zu diesem Thema an UCLA forscht, stellt fest, dass auch der Anteil von schwulen und lesbischen Paaren zunimmt. Das hat viel mit wachsender Toleranz zu tun..., aber auch mit dem Wegzug der Paare aus den Stadtzentren."

Besprochen werden unter anderem die extrem Bush-kritischen Memoiren von George W. Bushs einstigem Pressesprecher Scott McClellan und Jonathan Dimblebys Buch mit Reportagen aus "Russland".

Außerdem erklärt der Economist, warum die US-Geografie Barack Obamas Präsidentschaft im Wege stehen könnte.
Archiv: Economist

La vie des idees (Frankreich), 28.05.2008

Annie Jourdan stellt eine Studie über Napoleons Staatsstreich am 9. November 1799 vor: "Le Dix-huit Brumaire. L?epilogue de la Revolution francaise" (Gallimard). Ihr Autor wird dabei als Nachfolger von Francois Furet gefeiert, dem Historiker, der die Geschichte der französischen Revolution aus prokommunistischen Mustern gelöst und die Geschichte der Linken in Frankreich reflektiert hat. "Patrice Gueniffey, der ehemalige Schüler von Francois Furet, ist heute dessen Erbe und war für die Aufgabe höchst geeignet. Er arbeitet seit mehreren Jahren über Napoleon und setzt fort, was Furet leider nicht mehr zu Ende führen konnte: Überlegungen zur Epoche des Konsulats und des Empire. Gueniffey interessiert sich dabei insbesondere für die Frage der Legitimität, für das Funktionieren der Institutionen, das Phänomen ,Staatsstreich?, die Beziehung zwischen Macht und Autorität sowie das Wesen von Napoleons Regime."

New York Times (USA), 01.06.2008

James Traub widmet sich in einer ausführlichen Reportage für das Magazin Pakistans Anwälten, die in ihren schwarzen Anzügen nun auch die neu gewählte Regierung herausfordern - und deren Protest für Traub der "seit langem folgenreichste Ausbruch liberaler, demokratischer Energie in der islamischen Welt" ist. Galionsfigur ist Aitzaz Ahsan: "Der Mann, der so viel für die Wiederherstellung der demokratischen Regierung in Pakistan getan hat, bedroht nun das neue, gewählte Regime - im Namen der Demokratie. Mehr noch, Ahsan zielte mit seiner populären Bewegung gegen die eigene Partei, der Pakistan Peoples Party, dessen Führer Asif Ali Zardari, Benazir Bhuttos Witwer, seit langem die Wiederherstellung der Justiz verschleppte. Die Anwälte selbst sprechen von einem vorhersehbaren Desaster; das tun auch hochrangige PPP-Mitgleider. Ahsan blieb unerschütterlich: 'Es gibt keine Demokratie ohne unabhängige Justiz', sagte er zu mir in mehreren Gesprächen. 'Und man kann ganz sicher keine Demokratie auf den Trümmern der Justiz aufbauen.' In den folgenden Wochen mache Zardari eine Reihe von Versprechungen und nahm sie wieder zurück. Vor ein paar Wochen beschlossen die Anwälte, wieder zurück auf die Straße zu gehen."

Weiteres: Lynn Hirschberg wirft einen Blick in den Maschinenraum der Tyra-Banks-Produktion, in dem mit Hochdruck an der Marke "Tough but still smiling" gearbeitet wird. Die Book Review hat eine Handvoll Autoren gefragt, welche Bücher sie den Präsidentschaftskandidaten mit auf den Weg geben können. Lorrie Moore etwa empfiehlt Henry James' "Portrait of a Lady" (Barack Obama), Macbeth (Hillary Clinton) und die Märchen der Gebrüder Grimm (John McCain).
Archiv: New York Times