Magazinrundschau - Archiv

La vie des idees

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Magazinrundschau vom 16.01.2024 - La vie des idees

Die Zola-Experten Aurélie Barjonet und Timo Kehren decken im Gespräch mit Ivan Jablonka eine nicht so bekannte Seite des französischen Romanciers auf. Dieser war nämlich nicht zuletzt auch ein Marketingstratege: " Émile Zola, der von seiner Feder leben wollte und früher Werbeleiter bei Hachette war, erkannte schnell die Bedeutung dieses internationalen Marktes, der ihm auch die Möglichkeit bot, Nachahmer zu finden und - was noch wichtiger war - zur Institutionalisierung der Literatur in vielen Ländern beizutragen. Mit seinen Übersetzungen wollte er nicht nur Geld verdienen, sondern auch eine gewöhnliche Leserschaft erreichen, nicht nur die Elite, die ihn in sehr vielen Ländern auf Französisch lesen konnte… Während Zola keine Fremdsprache sprach, verwaltete er ab 1881 seine Rechte im Ausland allein, obwohl er befreundete Schriftsteller hatte, die ihm halfen, wie George Moore (der die Herausgabe seiner Werke auf Englisch förderte), Ivan Turgeniev (der unter anderem dafür sorgte, dass 'Au Bonheur des Dames' an eine russische Zeitschrift verkauft wurde), Ivan Franko (der seine Werke selbst ins Ukrainische oder Polnische übersetzte) oder Clarín (der Travail ins Spanische übersetzte). Er hatte sogar 'Agenten' wie Ernst Ziegler für die deutschsprachige Welt. Dieser internationale Erfolg ist den Literaturwissenschaftlern zwar bekannt, insbesondere seit der Veröffentlichung von Zolas Korrespondenz und des 'Dictionnaire des naturalismes' (herausgegeben von Colette Becker und Pierre-Jean Dufief im Jahr 2017), doch man tut sich noch schwer damit, sich ein konkretes Bild von der Verbreitung von Zolas Werk zu machen. Kurzum, während die naturalistische Bewegung oft als antiliterarisch angesehen wird, insbesondere weil sie mit den vorherrschenden Ästhetiken brach, knüpfte sie in Wirklichkeit - durch die literarische und kulturelle Zirkulation, die sie hervorrief - an das wiedergeborene Ideal der Republik der Buchstaben an."

Magazinrundschau vom 12.12.2023 - La vie des idees

In einem leider etwas drögen Text erinnern Lola Avril und Antoine Vauchez, an ein eigentlich spannendes Thema, das "Qatargate" in Brüssel vor einem Jahr: Es stellte sich damals bekanntlich heraus, dass einige wichtige Abgeordnete des EU-Parlaments, darunter eine stellvertretende Parlamentspräsidentin, von Katar großzügig geschmiert worden waren, damit das Scheichtum seine Fußball-WM in seinem Glanz und mit seinen Toten abhalten konnte. Obwohl die Bestochenen alle Linke waren, machen die Artikelautoren den "Neoliberalismus" für die Korruption in der EU verantwortlich. Aber eine Beobachtung ist sicher nicht falsch: Der Grund für den Einfluss der Lobbys und noch finsterer Mächte in der EU ist "die strukturelle Schwäche der 'Zivilgesellschaft' in der EU, die die Mobilisierungsfähigkeit der europäischen Bürger angesichts von Skandalen untergräbt. Da es keine europaweiten Medien gibt, die die Interessen einer 'europäischen Öffentlichkeit' sichtbar machen könnten, scheint die kleine Gruppe der auf öffentliche Ethik spezialisierten NGOs (Corporate European Observatory, Transparency International, Follow the Money und so weiter) in der 'Brüsseler Blase' ziemlich isoliert zu sein, und alles deutet darauf hin, dass ihre Fähigkeit, die politische Agenda zu beeinflussen, begrenzt bleibt. Korruptionsskandale eröffnen ihnen zwar immer wieder Gelegenheitsfenster, aber nur von kurzer Dauer, wie Katargate gezeigt hat, das nur kurzzeitige Aufmerksamkeit erregte, wobei die Medien der 'direkt' betroffenen Länder aufgrund der Nationalität der Angeklagten (Belgien, Griechenland, Italien) ausgeschlossen waren." Lola Avril und Antoine Vauchez wären keine Franzosen, wenn sie nicht eine neue Behörde forderten, um des Problems Herr zu werden, ein "Observatoire de l'intégrité de la démocratie".

Magazinrundschau vom 12.09.2023 - La vie des idees

In diesen Zeiten könnte es nicht schaden, mal wieder Gramsci zu lesen. Nicht so sehr, weil Linke Hoffnungen aus seinen Schriften ziehen könnten - die klassische Linke, die sich auf Gramsci bezog, ist verschwunden - , sondern weil Rechtsextreme es tun und von Gramscis Strategien lernen. Yohann Douet bespricht Romain Descendres und Jean-Claude Zancarinis "L'Œuvre-vie d'Antonio Gramsci", eine Art Werkbiografie, in der Gramscis Schriften ausführlich neu studiert werden. Es geht natürlich unter anderem um den Begriff der Hegemonie, den die Rechten so gern benutzen, und den hohen Stellenwert, den Gramsci der "Kultur" gab. Ein wichtiger Punkt ist auch Gramscis Opposition gegen Stalins katastrophale Politik der "Klasse gegen Klasse": "In diesem Zusammenhang wird auch Gramscis berühmte These erwähnt, dass es in Ländern mit einer komplexen Gesellschaftsstruktur (insbesondere mit einer entwickelten Zivilgesellschaft) wichtig sei, den politischen Kampf in Analogie zum 'Stellungskrieg' (langer Kampf um Hegemonie) und nicht zum 'Bewegungskrieg' (oder Frontalangriff) zu denken." Damit hätte sich Gramsci gegen die Ideen der Kommunistischen Internationale gestellt. Durch den Kampf um eine einer verfassungsgebende Versammlung seien mehr Menschen für eine neue Hegemonie zu gewinnen, "als es die Perspektive der sozialistischen Revolution (die jedoch das Endziel blieb) vermochte".
Stichwörter: Gramsci, Antonio

Magazinrundschau vom 11.07.2023 - La vie des idees

Der Südostasienexperte Christophe Jaffrelot erzählt ausführlich, aber übersichtlich die Geschichte vom aufhaltsamen Aufstieg des Narendra Modri. Staat und Gesellschaft waren offenbar marode genug, um es mit sich geschehen zu lassen. Modri entfaltet das ganze abstoßende Repertoire des Nationalpopulismus, bis hin zum Pogrom gegen Muslime in seiner Zeit als Chief Minister von Gujarat. Danach folgte die Gleichschaltung der Institutionen, zunächst in seiner Heimatregion: "Ab 2002 fördert er jene Vertreter der Ordnungskräfte, die das Pogrom ermöglicht haben und stellt stattdessen die anderen kalt. Parallel macht er sich die Beamten dienstbar, die er für die Stärkung seiner Autorität umso mehr braucht, als er den Führern seiner eigenen Partei wenig Vertrauen entgegenbringt. Einige Staatsdiener waren sehr hilfreich, um die Beziehungen zu Konzernen zu festigen, die in bisher unbekanntem Ausmaß Vetternwirtschaft betreiben. Neben der Verwaltung haben auch andere Institutionen an Autonomie verloren, allen voran das Justizsystem, das Einschüchterungen und Infiltrationen ausgesetzt war - und durch viele unbesetzte Stellen geschwächt wurde."
Stichwörter: Indien, Modi, Narendra

Magazinrundschau vom 20.06.2023 - La vie des idees

Keine deutsche Zeitung hat vermerkt, dass Alain Touraine am 9. Juni im Alter von 97 Jahren gestorben ist. Er galt neben Pierre Bourdieu als einer der wichtigsten französischen Soziologen der Nachkriegszeit, hat eine ganze Schule begründet und an allen großen Kontroversen seit 1968 teilgenommen. François Dubet und Michel Wieviorka, zwei Schüler Touraines, widmen ihm einen sehr freundschaftlichen und ausführlichen Nachruf. In einem nur auf den ersten Blick abstrakt wirkenden Absatz skizzieren sie seine differenzierten, sowohl durch Studien vor Ort als auch durch Reflexion gewonnen Einsichten: "In 'Critique de la modernité' zeigt Touraine, dass die Moderne trotz des Siegs der Vernunft immer wieder von Nationen, vom Markt, von Identitäten und von inneren, subjektiven Brüchen unterminiert wird, die eine unüberwindliche Distanz zwischen 'wir' und 'ich' und mehr noch mehr innerhalb des 'ich' oder zwischen Moral und Ethik herstellen. Auch darum gelingt es demokratischen Systemen nie, soziale Bewegungen vollständig zu institutionalisieren. Nie ist der Akteur dem System adäquat. Die Moderne hat das Subjekt hervorgebracht. Aber Touraine macht sich Sorgen, weil es ihm heute durch die Herrschaft des Marktes, den Narzissmus, den Drang nach Identitäten und den Niedergang des demokratischen Universalismus, der doch die notwendige Voraussetzung für die Bildung des Subjekts ist, bedroht erscheint." Die beiden Nachrufautoren betonen Touraines in Frankreich so seltene sozialdemokratische Orientierung: Touraine war viel mehr ein Mann Michel Rocards als François Mitterrands, und er war in den sozialen Konvulsionen, die Frankreich sei Jahrzehnten mit deprimierender Regelmäßigkeit heimsuchen, der Antipode Bourdieus. In der großen Krise des Streiks von 1995 predigte Bourdieu wie Sartre auf der Tonne, aber Touraine sah klarer. Perlentaucher Thierry Chervel, damals Kulturkorrespondent der SZ in Paris, zitierte Touraine mit der Diagnose von der "permanenten Unfähigkeit der französischen Gesellschaft, den Wandel anders als in einem dramatischen Klima des Kampfes zu verwirklichen". Aber viel Wandel war dann nicht mehr: Statt dessen eine immer giftigere Polarisierung im Zeichen des Front national und einer "linken Linken", die dem Rechtspopulismus alles zuordnet, was ihr nicht passt. Touraine zählte zu den ersten Seismografen dieser Entwicklung.

Magazinrundschau vom 06.06.2023 - La vie des idees

Das Gespräch zwischen Ivan Jablonka und dem Architekten Cyrille Hanappe bietet interessante Informationen darüber, mit welchen Problemen sich der französische Zentralstaat sonst noch so herumschlagen muss. Hanappe versucht, die Wohnsituation in den Slums von Mayotte zu verbessern. Die Insel Mayotte ist heute ein Übersee-Departement Frankreichs, gilt also als integraler Bestandteil des französischen Territoriums, gehört aber geografisch zum Komoren-Archipel, das seit 1975 unabhängig ist. Die Insel ist flächenmäßig halb so groß wie Hamburg, mit 250.000 Einwohnern, und ist historisch wie der ganze Raum des indischen Ozeans auch geprägt vom arabischen Sklavenhandel. Die Bewohner wollten nach einem Referendum explizit zu Frankreich gehören. Das Problem: Die Beziehungen zu den anderen Komoren-Inseln sind nach wie vor sehr eng. Es gibt viele illegale Immigrantinnen aus den Nachbarinseln - ja, Immigrantinnen, insistiert Hanappe, denn es handelt sich meist um Zweitfrauen, die sich die Männer vor allem von der Insel Anjouan holen. Deren Kinder wiederum sind Franzosen, wie jedes Kind, das auf französischen Boden geboren wird. Die Mütter werden nicht selten wieder ausgewiesen, was zu einem sehr spezifischen Problem mit den Kindern führt: "Während die Abschiebungspolitik unvermindert fortgesetzt wird, werden Tausende Kinder ohne Eltern auf die Straße gesetzt. Man spricht mittlerweile von Kinderdörfern, die in den Wäldern entstanden sind und nur Diebstahl und Raub als Überlebenstechniken haben. Die Sicherheitslage hat sich derart verschlechtert, dass es gefährlich geworden ist, nach Einbruch der Dunkelheit auf die Straße zu gehen, da die Gefahr besteht, auf eine gewalttätigen Straßensperre zu treffen, die von jungen nomadisierenden Männern errichtet wurde. Diese Situation der Spannung und Angst wird durch die sozialen Netzwerke noch verschärft, die alle live über jede noch so kleine Begebenheit auf der Insel informieren."

Magazinrundschau vom 07.03.2023 - La vie des idees

Die Konzentration der Medien nimmt in Frankreich absurde Ausmaße an. Was nicht im Besitz der Rüstungsgruppe Dassault ist, gehört dem LVHM-Milliardär Bernard Arnault oder seinem Schwiegersohn Xaviel Niel. Nikos Smyrnaios warnt in einem etwas akademischen Artikel vor der Monopolisierung von Medienkonzernen in Frankreich. Dies verzerre den politischen Wettbewerb und höhlt demokratische Prinzipien aus: "Der Idealtypus eines pluralistischen und demokratischen öffentlichen Raums beinhaltet die möglichst gleichmäßige Verteilung des Zugangs zu Kommunikationsmitteln, die eine öffentliche Meinungsäußerung ermöglichen, in der gesamten Gesellschaft. Die Konzentration des Medienbesitzes verschärft jedoch die Ungleichheiten bei der Verteilung der Kommunikationsressourcen zugunsten einiger weniger gesellschaftlicher Gruppen oder Geschäftsleute, die diese mit beträchtlichen materiellen Ressourcen kumulieren, was ihnen einen unverhältnismäßigen Vorteil im politischen Wettbewerb verschafft. In dieser Hinsicht stellt die Medienkonzentration eine Bedrohung für die Demokratie dar. Bernard Arnault, Eigentümer von Les Échos, Le Parisien und Radio Classique, ist einer der drei reichsten Männer der Welt und mit einem geschätzten Vermögen von 149 Milliarden Euro im Jahr 2022 der reichste Mann Frankreichs. Seine Zeitungen waren zudem mit mehr als 15 Millionen Euro für 2021 die ersten Empfänger von staatlicher Presseförderung. Man kann davon ausgehen, dass eine solche Konzentration von wirtschaftlicher und medialer Macht eine Verzerrung des öffentlichen Raums darstellt, da sie diesem Geschäftsmann, der bereits mit außergewöhnlichen Mitteln ausgestattet ist, unverhältnismäßig große kommunikative Ressourcen bietet, um die Interessen seines Unternehmens, in diesem Fall der LVMH-Gruppe, zu fördern und seine politischen Ideen und die kollektiven Interessen seiner eigenen sozialen Klasse zu verteidigen. Die Medienkonzentration macht somit weitreichende Einflussnahmen möglich, die gleichermaßen industriellen Strategien, finanziellen Interessen und politischen und ideologischen Zielen gehorchen. Die Propagierung der Kandidatur von Éric Zemmour für die Präsidentschaftswahlen 2022 durch die Medien von Vincent Bolloré ist ein deutliches Beispiel dafür."

Magazinrundschau vom 21.02.2023 - La vie des idees

Soufiane Hennani ist ein mutiger Mann - er kämpft in Marokko für die Rechte Homosexueller, unter anderem in einem Podcast, in dem er eine "positive Männlichkeit" gegen "toxische Männlichkeit" definieren will. Das Land hat sich längst modernisiert. Nur die Gesetzgebung hat nicht mitgezogen. Und so sind die Menschen gezwungen, ihre Freiheit im Verborgenen auszuleben, erzählt er im Gespräch mit Ivan Jablonka: "Die Absurdität des verbotenen Sexuallebens liegt auch in der Ungerechtigkeit. Wenn man reich ist, wenn man in ein Fünf-Sterne-Hotel geht, auch als Homosexueller oder als jemand, der eine außereheliche Beziehung hat, wird niemand nach einem suchen. Ist man aber arm... Nehmen wir als Beispiel zwei 17- oder 18-jährige Jungen, die sich lieben, die aber keinen Raum der Liebe für sich haben: Sie gehen an den Strand, küssen sich, und dann kommen die Polizisten, um sie zu verhaften, sie zu erniedrigen und manchmal sogar zu zwingen, eine Geldstrafe zu zahlen." Die Unehrlichkeit in Bezug auf Homosexualität gefährdet auch die Frauen, hat Hennani in seinem Engagement gegen Aids erfahren: "Damals hatte ich erfahren, dass sich 70 Prozent der Frauen, die mit HIV leben, durch ihre Ehemänner angesteckt haben, ohne es zu wissen. Diese Zahl hat mich sehr betroffen gemacht. Daraufhin fragte ich mich, wie Männer sich engagieren könnten, um etwas zu ändern." In höchsten Tönen spricht Hennani übrigens über die Beiträge Leila Slimanis zur Debatte über Sexualität in Marokko.

Alain Blum und Sergei Zakharov schreiben über eine der Obsessionen Wladimir Putins, die Demografie. Gerne tönt Putin, dass Russland mit seinen traditionellen Familienwerten dem Westen überlegen sei, nur hat Russland eine der niedrigsten Geburtenraten Europas und ein sehr niedriges durchschnittliches Sterbealter - selbst wenn sich die Zahlen in den goldenen Jahren des Putinismus zu Beginn des Jahrtausends verbessert hatten. Durch den Krieg, den Putin unter anderem zu führen scheint, um seinem Land zusätzliche Bevölkerung einzuverleiben, verschlechtern sich die demografische Prognosen wieder: "Während die Folgen des Krieges .. kaum vorhersehbar sind, gibt es doch einige wahrscheinliche Faktoren. Die Alterspyramide der Bevölkerung der Russischen Föderation ist für ein Bevölkerungswachstum sehr ungünstig, da die gebärfähigen Jahrgänge in den nächsten Jahren immer kleiner werden. Außerdem sind die Männer dieser Generationen mobilisierbar: Ein Teil von ihnen hat das Gebiet der Russischen Föderation verlassen, um der Mobilisierung zu entgehen, als die anderen nun einberufen wurden. Diese Faktoren erklären übrigens höchstwahrscheinlich die unerwartete Entscheidung, das Alter der mobilisierbaren Männer von 18-27 auf 21-30 Jahre zu ändern."

Magazinrundschau vom 17.01.2023 - La vie des idees

Die israelische Arbeiterpartei hatte einmal 35,7 Prozent und charismatische Ministerpräsidenten wie David Ben Gurion, Golda Meïr, Yitzhak Rabin oder Schimon Peres, und ist in den letzten Wahlen auf 3,69 Prozent herabgesunken, gerade mal über die Dreiprozentschwelle, die es erlaubt, in die Knesset einzuziehen. Denis Charbit bespricht zwei nicht mehr ganz neue Bücher, die den Niedergang der isaelischen Linken ergründen, Steve Jourdins "Israël - autopsie d'une gauche (1905-1995), und Thomas Vescovis "L'Echec d'une utopie - une histoire des gauches en Israël". Charbit neigt mehr zu Jourdins differenzierter, melancholischer Darstellung. "Jourdin setzt mit der Ermordung von Yitzhak Rabin einen Schlusspunkt unter seine Geschichte. Der Todesstoß für den Friedensprozess lag jedoch weniger im Verschwinden dieses politischen Führers (die Mehrheit der Israelis war bereit, ihm auf seinem Weg zum Frieden zu folgen) als vielmehr im wachsenden Zweifel an den Zielen des palästinensischen Nationalismus infolge der zweiten Intifada, des Rückzugs aus dem Gazastreifen und des zweiten Libanonkriegs. Gleichzeitig zweifelten die Palästinenser an der israelischen Absicht, sich nach dem ersten Schritt, der Auflösung des Gazastreifens, aus dem Westjordanland zurückzuziehen. Paradoxerweise sieht Vescovi dort, wo Jourdin die Todesnachricht registriert, ohne irgendeine Aussicht auf eine Wiedergeburt zuzulassen, in der Bildung einer jüdisch-arabischen Linksfront den einzigen Ausweg aus diesem historischen Niedergang. Mehrere Initiativen sprechen für diese Neuzusammensetzung".

Magazinrundschau vom 20.12.2022 - La vie des idees

Der britsche Historiker Timothy Gibbs lehrt in Paris und wirft einen interessanten Seitenblick von Frankreich aus auf die Geschichte des britischen Empire und des Commonwealth unter Königin Elisabeth. Die Briten mussten sich anders als die Franzosen nicht schmerzhaft mit ihrer Kolonialvergangenheit auseinandersetzen, merkt er an, was wohl auch dem kontinuierlichen Wandlungsprozess unter der Queen zu verdanken ist. Dabei war sie der Gewalt des späten Kolonialregimes noch sehr nahe gekommen: 1952 erfuhr sie im Treetops Hotel in Kenia, dass ihr Vater gestorben war und dass sie Königin wurde: "Zwei Jahre später brannten die aufständischen Mau Mau das Hotel nieder, das dem Bataillon der King's African Rifles bei seiner Überwachung der Guerilla als Beobachtungsstützpunkt diente. 1952, im Jahr der Krönung von Königin Elisabeth II., rief der letzte kaiserliche Gouverneur Kenias den Ausnahmezustand aus, der sieben Jahre lang, bis 1959, andauerte. Mindestens 25.000 Kenianer verloren ihr Leben; weitere 30.000 wurden in Internierungslager geschickt, wo sie Zwangsarbeit und Folter ausgesetzt waren; eine Million Dorfbewohner, die in der Konfliktzone lebten, fanden sich in Notlagern hinter Stacheldraht wieder."

Außerdem in La Vie des Idees, ein leider arg akademisch zu lesender Artikel des Ökonomen Pierre Levasseur über die Epidemie des Übergewichts, insbesondere in Mexiko.