
Bruno Haas und Thomas Le Gouge
warnen davor, das
Dach von Notre Dame nach den Plänen
Viollet-le-Ducs zu rekonstruieren. Denn gerade seine Spitze widerspreche dem
Prinzip gotischer Kathedralen: "Die Spitze und das Dach von Notre-Dame, das Viollet-le-Duc in seiner Rekonstruktion der Kirche mit einem Kragen auf dem First verzierte, fungierten wie eine Kontur oder
Silhouette vor dem Hintergrund des Himmels, ein wenig wie in einem
Gemälde der Romantik, in dem man das 'Malerische' sucht. Das sagt er selbst in seinem
Dictionnaire de l'architecture médiévale, im Abschnitt über Spitzen, in dem er erklärt, dass sich die Aufmerksamkeit der Architekten 'vor allem auf die Silhouetten dieser Massen richten muss, denn die geringste Unvollkommenheit, wenn man den
Himmel als Hintergrund hat, schockiert das ungeübte Auge' (IV, S. 427). Diese Spitze war daher die Antwort auf eine grundlegend moderne Vorstellung. Denn nichts passt weniger zum gotischen Stil! In der Gotik wird der Himmel nie als bildlicher Hintergrund betrachtet, vor dem sich die Spitze erhebt, sondern als
ein riesiges Gewölbe, das die Erde und ihre Bewohner umfasst. Der Himmel erhebt sich nicht vor unserem Blick, sondern umfasst ihn, so wie er die Spitze umschließt, die in seine Höhen ragt. Erinnert sei daran, dass die gotische Malerei die Idee des 'Hintergrundbildes' nicht kennt und nicht einmal das Wort in jener Zeit existierte, in deren Bereich sich
Anachronismus und Missverständnisse heiter ausbreiten."
Verdankt der Mensch seine
Individualität der Renaissance oder der Moderne? Hat sie ihn befreit oder unglücklich gemacht? Laetitia Bucaille
stellt Federico Tarragonis Studie "Sociologies de l'individu" vor, die die Individualisierung historisch und soziologisch zugleich untersucht: "Heute befindet sich der autonome und reflexive Mensch in einer ambivalenten Situation. Einigen Soziologen zufolge erlaubt ihm die Distanz zu den Institutionen, sich
als Subjekt zu schaffen und das eigene Leben beruflich, emotional oder spirituell zu gestalten. Anderen zufolge führt diese Autonomie zu Einsamkeit und der Angst, '
dem eigenen Ideal nicht gerecht zu werden'. In Tarragonis Augen sollte die Reflexivität nicht überbewertet werden: Auch wenn sich der Einzelne auf diese neuen 'reflexiven Ressourcen' stützt, hat ihn seine Sozialisation bereits viel tiefer geprägt. Das Individuum handelt und entscheidet in seiner gesamten Existenz auf der Grundlage sozialer Beziehungen, die ihn zugleich
einengen und schützen. Gerade in seinen sozialen Verbindungen nimmt sich der Mensch
als singuläres Wesen wahr und durch sie erlangt er
soziale Anerkennung."