Schriftstellerin interviewt Schriftstellerin:
María Sonia Cristoff befragt Annie Ernaux in Paris nach ihrer Methode und wie es bei ihr um das Verhältnis von Leben und Schreiben bestellt ist: "Alles, was mir passiert ist oder passiert, betrachte ich, als würde es
jemand anderem passieren. Das hört sich vielleicht ein wenig schizophren an, ist aber buchstäblich so. Einerseits erlaubt mir das, zu erzählen, statt bloß Zeugnis abzulegen, andererseits kann ich so eine individuelle Geschichte, die angeblich die meinige ist, hinter mir lassen und mich auf das Gebiet des Kollektiven begeben. Die eigene Erfahrung zu erzählen hat dann Sinn, wenn diese irgendwann nicht mehr die eigene ist und Teil einer
kollektiven Erfahrung wird, ja, wenn sie womöglich sogar eine Veränderung in dieser kollektiven Erfahrung bewirken kann. Der Schlüssel liegt dennoch in der Form, nicht in den erzählten Tatsachen, aber Form nicht im ästhetischen Sinn, sondern als Suche, als Konstruktion eines Blicks, der es mir erlaubt, besser zu sehen,
Form als Verpflichtung gegenüber der Wahrheit. Mit der Pariser Literatur- und Kunstszene habe ich in jedem Fall zeitlebens so gut wie nichts zu tun gehabt. Das liegt ein wenig am Klassenunterschied - diese Szene ist extrem bürgerlich und lässt dich das spüren -, aber auch an der geografischen Distanz, daran, dass ich immer außerhalb gewohnt habe. Wenn ich nach Paris komme, fühle ich mich auch heute noch, nach all den Jahren, wie eine Ausländerin. Ich komme mit der U-Bahn, von unten, wie alle, die nicht aus dem Zentrum sind. Wie Maulwürfe entsteigen wir dem Untergrund."