Magazinrundschau

Der Vertraute der Schönheit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
12.11.2019. Der New Yorker betrachtet die Zwillingsexplosionen des Populismus rechts und links des Atlantik. In La Regle du Jeux erinnert sich Adam Gopnik an Philip Roth. In der London Review möchte Christopher Clark weder seine eigenen spirituellen Affinitäten zu Hitler erkunden noch die von Karl Ove Knausgard. In Magyar Narancs gibt László Krasznahorkai Einblick in seinen Schreibprozess. Der Film-Dienst starrt auf 24 Filme die Woche. Und in der New York Times fragt Rachel Cusk, wer die Frau als Künstlerin ist.

New Yorker (USA), 18.11.2019

In einem Beitrag der neuen Ausgabe untersucht Isaac Chotiner die Ursachen für die aktuellen Probleme Großbritanniens und erkennt Parallelen zu den USA: "Die Sentimentalen unter denen, die an die 'besondere Beziehung' zwischen den USA und  Großbritannien glauben, konzentrieren sich auf synchrone Entwicklungen in der amerikanischen und der britischen Politik während des letzten Jahrhunderts. In diesem Narrativ wurde der Zweite Weltkrieg von einem antifaschistischen Paar gewonnen, dessen Allianz und Freundschaft der Welt die Demokratie sicherten. Noch zynischere Beobachter erkennen Gemeinsamkeiten. In den 1950ern gaben zwei moderat konservative Regime ihren Ländern einen leichten Stoß nach rechts, während sie ein dauerhaftes Zweiparteien-Engagement für den Wohlfahrtsstaat etablierten. Eine Generation später waren beide Ländern reif für die konservative Revolution, mit Thatcher, die 1979 über eine geschwächte Labour-Regierung siegte, und Reagan, der 1980 Carter verjagte. In den 1990ern erneuerten mit Clinton und Blair zwei routinierte Mitte-links-Politiker ihre Parteien; so wie Konservative sich in den 50ern mit sozialer Absicherung abgefunden hatten, hießen Demokraten und Labour-Anhänger nun den freien Markt und das Finanzkapital willkommen. Sommer 2016 schließlich stimmte GB in einem hastig von David Cameron, einem perfekten Update eines 1950er Tory-Premiers, der in seinen Memoiren seine ideologische Nähe zu Barack Obama unterstreicht, ausgerufenen Referendum für den Austritt aus der EU. Monate darauf wurde Trump gewählt, der sich als Mr. Brexit bezeichnet. Diese Zwillingsexplosionen des Populismus sind seither das zentrale Drama in den beiden Nationen und füttern die Presse auf beiden Seiten des Atlantiks mit Befürchtungen und Zweifeln."

Außerdem: Der Schriftsteller Michael Chabon erzählt vom Sterben seines Vaters. Eliza Griswold berichtet über Krisenzentren für ungewollt Schwangere in Indiana, seitdem es kaum noch Abtreibungsmöglichkeiten gibt. Margaret Talbot setzt Hoffnung auf die noch von Obama eingesetzte Supreme-Court-Richterin Elena Kagan. Anthony Lane sah im Kino James Mangolds "Ford v Ferrari" mit Christian Bale und Matt Damon
Archiv: New Yorker

La regle du jeu (Frankreich), 08.11.2019

Aufruf an den Hanser-Verlag oder sonst an alle anderen Verlage: diese Philip-Roth-Erinnerung des New-Yorker-Autors Adam Gopnik ist ein Text von erhabener Leichtigkeit und Tiefe. Er reicht vielleicht nicht ganz für ein Büchlein, aber zusammen mit ein paar älteren Kritiken wird's schon gehen. Man spürt, dass Gopnik sich an seinem Gegenstand vielleicht nicht messen, aber doch zumindest nicht vor ihm versagen wollte. Den Rahmen bildet ein offenbar amerika-typisches Reste-Essen nach Thanksgiving, ein informeller Abend also, wo alles, was man für den Abend zuvor zubereitet hatte, noch viel besser schmeckt und die Unterhaltung viel lockerer ist. Man erfährt vieles in diesem Text, etwa über Roth' Verhältnis zu John Updike, seinen jüdischen Lieblingswitz und was er über Woody Allen dachte (das ist ungerecht, nichts Gutes). Und man erfährt, wie sehr es ihn quälte, den Nobel-Preis nicht erhalten zu haben, den ihm eine sadistische Jury bis zuletzt vorenthielt. In seinen letzten Tagen erfuhr er, dass ein Amerikaner den Nobelpreis erhalten würde. Gopnik und er waren an diesem Abend verabredet. Und nachdem der Name gefallen war - Bob Dylan! -, hatte Gopnik große Angst vor diesem Termin. "Aber ich würde ihn natürlich wahrnehmen, mir blieb ja nichts übrig. Ich stieß die Tür auf. Er hatte sie angelehnt gelassen, weil seine Wirbelsäule ihm zu schaffen machte. Ich begrüßte ihn mit lauter Stimme. 'Adam, antwortete er mir, ich habe eine große Neuigkeit.' 'Ah, was denn?' 'Ich werde in die Rock'nRoll Hall of Fame aufgenommen!' Ich war so überrascht, dass ich lachen musste. Natürlich hatte er diesen Witz vorbereitet… und Stunden später fand er eine Alternative für andere Freunde. 'Ich bin sehr enttäuscht, das muss ich sagen. Ich hatte auf Peter, Paul and Mary gesetzt.'" Hier Teil 2 und Teil 3 des langen Textes.
Archiv: La regle du jeu

London Review of Books (UK), 11.11.2019

Ziemlich streng reagiert der Historiker Christopher Clark auf Karl Ove Knausgards Auslassungen, in denen er sich - wie im sechsten Band seiner Autobiografie "Mein Kampf" - mit Adolf Hitler vergleicht und etliche Parallelen aufmacht: eine geliebte Mutter, ein gehasster Vater und angestrengte Versuche der Selbstbefriedigung: "Die Annäherung an Hitler als Begegnung mit sich selbst zu beschreiben, ist ungewöhnlich. Es heißt keineswegs, dass Knausgard Hitlers Taten oder Weltsicht gutheißt, auch wenn er darauf besteht, dass es möglich bleiben müsse, zwischen dem zu unterscheiden, wer Hitler war und was er tat. Im Falle des jungen Hitlers, der schon ganz er selbst, aber noch nicht der Urheber von Völkermord und Krieg war, scheint die Unterscheidung (zumindest für Knausgard) unleugbar. Daher der Zorn, mit dem er auf Ian Kershaw reagierte, den Autor der klassischen, englischsprachigen Hitler-Biografie. Knausgard wirft Kershaw eine geringschätzige Haltung gegenüber dem jungen Hitler vor, eine Weigerung, mit Wärme auf die Leidenschaft und Unschuld seines Sujets zu blicken. Dieser exzessiv negative Blick, meint Knausgard, sei nicht nur unreif, sondern mache auch die Biografie unlesbar. Diese Kritik ist verwunderlich. Es geht für einen norwegischen Schriftsteller in Ordnung, eine empathische Nähe zu dem Bild kundzutun, das er sich nach der Lektüre eines halben Dutzend Bücher von Adolf Hitler gemacht hat. Aber die Aufgabe von Kershaw, der sich über Jahrzehnte in Dokumenten und Archiven vergraben hat, kann kaum darin bestehen, seine eigenen spirituelle Affinitäten zu Hitler zu erkunden. Er muss vielmehr verstehen, was es selbst schon in seiner Jugend an ihm gab, das seine spätere Karriere erklärt. Genau diese distanzierte, analytische Perspektive des Historikers stört Knausgard. Wenn er Hitler zu seinem eigenen verstörenden Doppelgänger macht, weitet Knausgard die moralische Straffreiheit seines Romans aus, indem den Lauf der modernen Geschichte hineinfaltet. Hitler wird so zum Testfall für die Narrenfreiheit des zeitgenössischen Romanciers."

Rosemary Hill huldigt dem Kolumnisten und großen Spötter Auberon Waugh, der nichts so lächerlich fand wie Journalisten, die sich selbst als vernünftigen Teil des politischen Betriebs betrachteten. Waugh wollte keine Politik ernstnehmen, die solch frivole Gestalten wie Jeremy Thorpe hervorbrachte (der einen Aufträgsmörder auf seinen früheren Liebhaber ansetzte). Hill verteidigt ihn auch gegen seine große Verächterin und journalistische Gegenspielerin Polly Toynbee, die ihm noch 2001 in ihrem Nachruf vorwarf, ein reaktionärer Snob zu sein, ebenso leichtfertig wie Boris Johnson. Dagegen meint Hill: "Waugh und Johnson waren, wie ihre politischen Karrieren zeigen, grundverschieden. Johnson wollte Macht, Waugh misstraute ihr, er wollte sie unterminieren und hielt Leichtfertigkeit für das beste Mittel dazu... Um erahnen zu lassen, was er in seiner Kolumne heute schreiben würde, ist hier sein Eintrag vom 2. Juli 1982: 'Nahezu 2.000 Leser haben meinen Rat in der Frage erbeten, ob Prince William von Wales beschnitten werden sollte. Das ist keine einfache Frage. Es hängt alles davon ab, was für eine Monarchie die Menschen wollen... Vielleicht sollte es zum Gegenstand eines nationalen Plebiszits werden, wie das Referendum über den Gemeinsamen Markt. Wir brauchen etwas um uns bei Laune zu halten, jetzt da der Falklandkrieg vorbei ist.'"

Magyar Narancs (Ungarn), 06.11.2019

Der Schriftsteller László Krasznahorkai spricht im Interview mit Imre Körizs u.a. über das Schreiben als zwanghafter Schaffungsprozess. "Dass durch Ausblendung ein Charakter stärker wird, ist eine sehr alte Wahrheit und wenn ich Züge weglasse, egal ob ich visueller Künstler bin oder mit Wörtern arbeite, dann übergebe ich diese Lücke in jenem Augenblick dem Zuschauer und er füllt sie dann aus. Diese Gegenseitigkeit ist das, was die künstlerische Distanz in einem Punkt verdichtet. (…) Ich habe gar nicht die Absicht zu schreiben. Ich spüre keinen romantischen Zwang. Es ist eher so, dass Figuren erscheinen und sich Ereignisse ereignen in Bereichen, die von der realen Welt unberührt sind, von deren Existenz ich aber überzeugt bin, weil ich sie erfahre. Ich verstehe das nicht so wie jemand, der mit der Stimme eines Wahnsinnigen spricht, oder das ganze mystifizieren will, aber das Festhalten dieser Wesen und ihrer Geschichten, ihre Einbettung in einen wirklichen Raum, was in meiner Situation ein fiktiver Raum ist, wird nach einer gewissen Zeit unausweichlich. (…) Ich kann nichts machen (...) denn diese mich erdrückenden oder stärkenden Gestalten, mit ihren Schicksalen sind nicht in der Lage durch musikalische Töne oder mathematische Formeln in der Wirklichkeit zu erscheinen; sie brauchen meine Worte. Ich bin gefangen."
Archiv: Magyar Narancs

Film-Dienst (Deutschland), 08.11.2019

Während früher die hohen Kosten für Kinokopien die Zahl der Kinostarts von vornherein einschränkten, gibt es im Zuge der Digitalisierung des Betriebs diesbezüglich kein Halten mehr: Einen Film bringt man heute schon für Kleckerbeträge ins Kino, insbesondere wenn man dazu noch an Werbung spart. Folge: Allein vergangenen Donnerstag liefen offiziell satte 27 Filme an - während zugleich die Zahl der Leinwände und der Ticketverkäufe sinkt und auch die Filmkritik kaum mehr in der Lage ist, sich mit dieser Schwemme angemessen zu befassen und damit Öffentlichkeit zu schaffen. Betroffen von dieser Markt-Zerfleischung sind dabei nicht die Blockbuster-Starts, sondern die kleinen Arthouse-Verleiher und -Kinos, schreibt Reinhard Kleber in einer lesenswerten Rundum-Reportage zum Thema: Die Filmschwemme habe auch mit den Regularien der Filmförderung zu tun, so Kleber, die "vorsehen, dass ein Antragsteller für eine Produktionsförderung einen Verleihvertrag oder zumindest einen sogenannten Letter of Intent eines Filmverleihers vorlegen muss, also eine Zusage, dass dieser Verleih den fertiggestellten Film auch in die Kinos bringt. Die Crux daran: Nicht jeder fertige Film löst das Versprechen eines vielversprechenden Drehbuchs am Ende auch qualitativ ein. Für die Verleiher birgt das erhebliche Risiken: Sie kaufen quasi die Katze im Sack und müssen später im schlechtesten Fall einen absehbaren Flop herausbringen, da sie sich ja vertraglich gebunden haben." Andererseits, so Kleber weiter, birgt dies auch eine Chance für die Kinobetreiber, als Kuratoren zu brillieren, die aus dem reichen Angebot aus den Vollen schöpfen können: "Der Bedarf an Orientierung und sinnvoller Hilfestellung angesichts eines unübersichtlichen Angebots ist also da, und er steigt offenkundig."
Archiv: Film-Dienst

Aktualne (Tschechien), 11.11.2019

"Wir sorgen uns um den Abbau des Regenwalds in Amazonien - und in Europa verschwinden die Urwälder." So das Fazit des Gesprächs, das Simona Fendrychová mit dem tschechischen Forstwissenschaftler Miroslav Svoboda führt, der seit zehn Jahren an einer Erfassung der Urwälder Mitteleuropas arbeitet. Erstaunlicherweise gibt es bislang kaum genauere Daten, denn bisher habe sie niemanden interessiert, so Svoboda. "Die Europäische Union beschäftigt sich mit diesem Thema in keinem ihrer Umweltschutzprogramme. Es ist in keiner Legislative verankert, und jedes Land handelt hier auf eigene Faust. Es gibt keine koordinierte europäische Anstrengung zum Schutz der Urwälder." Europa habe hier einiges aufzuholen. Eines der wenigen Länder, die ihre Urwälder kartografiert haben, sei die Slowakei. Die meisten ursprünglichen Wälder gebe es in Rumänien, südeuropäischen Ländern und Skandinavien oder im Balkan. In Rumänien, einem der waldreichsten Länder, wo nie eine Bestandsaufnahme durchgeführt wurde, beobachten Svoboda und sein Team dramatische Abholzungsbewegungen, die oft illegal stattfinden. "Auch in Nationalparks wurde gerodet, wahrscheinlich illegal, aber keiner weiß darüber Bescheid. Bekannt ist die Causa Schweighofer, die einige Jahre andauerte. Diese riesige österreichische Firma hat wissentlich Holz aus illegalem Abbau gekauft. Dies nur um zu verdeutlichen, in welche Geschäftsebenen das reicht. (…) In Rumänien besteht im Grunde eine Holzmafia, die mit illegalem Holz handelt. (…) Die zwei Förster, die im Oktober ermordet wurden, hatten vermutlich versucht, den Nationalpark in Maramureş vor illegalen Rodungen zu schützen." Svoboda und sein Team haben selbst schon Einschüchterungen erfahren. Im Kreis Făgăraș wurden ihnen letztes Jahr die Autoreifen zerstochen.
Archiv: Aktualne

Quietus (UK), 12.11.2019

Vor 50 Jahren erschien Philip K. Dicks durchgeknallter Science-Fiction-Klassiker "Ubik", für Sean Kitching ein Anlass, den Meister in einem großen Essay zu würdigen. "Dick war ein Vielschreiber, der seine Bücher oft hektisch auf Amphetaminen runterschrieb. Zwar vertreten viele die Ansicht, dass es seiner Prosa an Qualität mangelt, dass seine mitunter nicht-linearen Plots einen Schritt zu weit gehen und dass Dicks oft diskutierte 'mystischen Visionen' lediglich ein Produkt seiner Drogensucht und seiner belasteten Psyche darstellen. Aber dann gibt es solche, zu denen auch ich mich zähle, die die Ansicht vertreten, dass Dick in seiner Zeit einem genuinen Seher oder Schamanen noch am nächsten kam und dass sein Leben sich von frühesten Tagen an Schritt für Schritt darauf zubewegte. Sicher, Dick mag sich weit weniger als seine Zeitgenossen um seinen Prosa-Stil gesorgt haben, doch die durchweg hohe Qualität seines Erfindungsgabe und seiner Vorstellungskraft lassen viele seiner Zeitgenossen alt aussehen. Die spontane Natur seines Schreibprozesses (...) ist der Antriebsmotor hinter seinem sprudelnden Ideenreichtum und dem fast schon zen-artigen Bedüfrnis, die Entweder/Oder-Falle der Sprache selbst zu transzendieren. Zitate, um diesen Punkt stützen, gibt es in Hülle und Fülle. Für den Anfang reicht es wohl, sich zu vergegenwärtigen, wie relevant diese Passage heute klingt: 'Es wird eine Zeit kommen, in der es nicht mehr heißt, 'sie spionieren mich über's Telefon aus'. Sondern man wird sagen: 'Mein Telefon spioniert mich aus.'"
Archiv: Quietus

Eurozine (Österreich), 12.11.2019

Andrei Rubljow, Die Dreifaltigkeitsikone, 1411/25. Tretyakov Gallery, Moskau. Bild: Wikipedia


In Eurozine erzählt Clemena Antonova, wie sich die russische Avantgarde um 1913 eine neue Genealogie erfand. Alles begann mit der Wiederentdeckung der Ikone, die "so bedeutsam war, so tief empfunden und lebensverändernd, dass sie mit der Wirkung verglichen werden kann, den die Entdeckung des französischen Postimpressionismus auf britische Intellektuelle einige Jahre zuvor gehabt hatte, als Virginia Woolf erklärte, dass sich 'am oder um den Dezember 1910 der menschliche Charakter verändert habe'. Für die Russen änderte sich alles. Die Romanze mit der westlichen Moderne war entschieden vorbei und es gab kein Zurück mehr. In ihrer leidenschaftlichen Umarmung der Ikone erfand sich die Avantgarde neu und erwarb zum ersten Mal ein enormes Selbstbewusstsein. Die Identität, die sie für sich selbst konstruierte, drückte sich immer wieder in der vertrauten slawophilen Sprache aus und spielte mit der Idee der Einzigartigkeit Russlands, dem besonderen Platz des russischen Volkes in der Weltgeschichte und der Besonderheit seiner Kunst und Kultur." Mit dieser Abwendung vom Westen hin zu einem neuen Nationalismus standen die Russen in Europa nicht allein. "Die Botschaft war unverkennbar - die russische Avantgarde, die bis zu diesem Zeitpunkt als Zweig der westlichen Moderne angesehen wurde, verkündete laut und deutlich ihre Zugehörigkeit zu ihrer ursprünglichen künstlerischen Tradition der Ikone."
Archiv: Eurozine

Public Domain Review (UK), 08.11.2019

Loie Fuller (Isaiah West Taber, 1897, Quelle)

In einem wie stets auf Public Domain Review reich und wunderbar bebilderten Essay erinnert Rhonda K. Garelick an die Tänzerin Loie Fuller, die "elektrische Fee", die mit ihren Stoffserpentinen-Tanzchoreografien die Salons im 19. Jahrhundert faszinierte, später aber weitgehend in Vergessenheit geriet. Während sie ihre weißen Tücher fliegen ließ, "tauchten rotierende, bunte Spotlights die seidenen Bilder in eine Vielzahl tief-gesättigter Juwelenfarbtöne. Das Publikum sah keine Frau, sondern ein gigantisches Veilchen, einen Schmetterling, eine gleitende Schlange und eine weiße Ozeanwelle. Jede Form erhob sich mühelos in die Lüfte, wirbelte freundlich in den Pool sich abwechselnder Regenbogenfarben, blieb in der Schwebe und schmolz schließlich dahin, um einer neuen Form Raum zu geben. ... Aber Fuller war ein unwahrscheinlicher Kandidat dafür, ein Star zu werden. Sie hatte keine formale Ausbildung und brachte, offen gesagt, wenig natürlich Grazie mit. Nichts an ihr entsprach einem Showgirl. ... Ihr rundes Gesicht, ihre großen blauen Augen und ihr kurzer, kräftiger Körper verliehen ihr eher die Anmutung eines Engelchens als einen sinnlichen Anblick. ... Anders gesagt: Fullers Startum griff in nichts auf den sexuellen Glamour zurück, der den Appeal weiblicher Performancekünstlerinnen bis zum heutigen Tag üblicherweise umgibt. Fuller gelang es sogar, offen lesbisch zu leben, ohne deswegen Aufsehen oder Missbilligung zu erregen." BR-Klassik hat ein Feature über Fuller online, einen Eindruck der Tänze vermitteln diese frühen Filmaufnahmen von Thomas Edison:

Elet es Irodalom (Ungarn), 08.11.2019

Der im slowakischen Bratislava geborene Dichter, Kritiker und Literaturwissenschaftler Zoltán Csehy spricht im Interview u.a. über die Situation der ungarischsprachigen Literatur in der Slowakei, nachdem einige Schriftsteller aus der "Gesellschaft der ungarischen Schriftsteller in der Slowakei" ausgetreten sind und einen neuen Kreis namens "Basis" gründeten. "Das literarische Leben kann selbstverständlich belebt werden. Für mich ist diese Schriftstellerbund-Angelegenheit keine große Sache, es ist eher wie Mitglied in einer Facebook-Gruppe zu sein. Wenn es mich nicht interessiert oder wenn ich bestimmte Personen nicht in meiner Nähe haben will, dann trete ich nicht ein, ich sehe darin kein großes Thema. Wenn manche Prinzipien mir nicht passen, dann gehe ich leise weiter und die Sache hat sich erledigt. (...) Es wäre gut in größeren gesamtkünstlerischen Dimensionen zu denken, damit die Inspiration stärker wird. Die Zerstreuung der ungarischen Literatur in der Slowakei ist sicherlich ein großer Nachteil. Es gibt wenige, sich gegenseitig stärkende Freundeskreise oder Zellen, es gibt eher vereinsamte Schaffende. Das hört sich vielleicht witzig an, denn heutzutage können Entfernungen leicht überwunden werden, ich denke trotzdem, dass die alltäglichen menschlichen Kontakte fehlen. Auch darum haben wir bei vielen Sachen verspätete und übertriebene Reaktionen."

New York Times (USA), 10.11.2019

In der aktuellen Ausgabe des Magazins verfolgt die Schriftstellerin Rachel Cusk zwei Künstlerinnenbiografien, von Celia Paul, die von Lucian Freud protegiert (und benutzt) wurde und Cecily Brown, deren Vater, der Kunstkritiker David Sylvester war, und mit ihnen zwei unterschiedliche und nicht unbedingt repräsentative Erfolgsgeschichten in der von Männern dominierten Kunstwelt: "Der männliche Künstler, in dem Bild, das wir von ihm haben, macht alles, was wir nicht tun dürfen: Er ist gewalttätig und egoistisch. Er missbraucht oder betrügt seine Freunde und Familie. Er raucht, trinkt, schockiert, frönt seinen Gelüsten und beißt die Hand, die ihn füttert, und alles, um am Ende als einzigartiges Genie gefeiert zu werden. Außerdem tut er die Dinge, die wir nicht tun möchten: arbeiten ohne Anerkennung, auf Komfort verzichten und darauf pfeifen, was andere von ihm denken. Denn er ist der Vertraute der Schönheit und der Wahrheit, Spender dieser raren Substanz der Kunst, die uns erhebt. Gibt es ein weibliches Äquivalent zu diesem Bild? Lässt sich eine Gestalt wie Giacometti mit ihren Gelüsten, ihrem Genie und ihrer Wut mit der Künstlerin vertauschen? Mir scheint die uralte Frage, wie es ist, eine Frau zu sein, angebracht. Es könnte immerhin sein, dass jedesmal, wenn die Verbindung von Kunst und maskulinem Verhalten wieder einmal behauptet wird, wir nur noch weniger über die Frau als Künstler wissen als zuvor. Ihre Existenz hat eine viel gründlichere Rechtfertigung nötig. In der Kunstgeschichte ist ihre Erscheinung die absolute Ausnahme. Aber für jede von ihnen braucht es eine Erklärung darüber, ob und wie sie auf ihre Weiblichkeit und ihre Limitierungen verzichtet hat, auf ihr weibliches biologisches Schicksal - wo sie ihren Körper sozusagen vergraben hat. Dieser Körper ist in der westlichen Kunst umkämpft: Er wurde zum künstlerischen Impuls eingedampft, befeuerte die Suche nach der Schönheit und ihrer künstlerischen Bezwingung. Im Narrativ der Kunst hat die Frau den Status des reinen Objekts. Wie sieht ihre Subjektivität überhaupt aus? Haben die Künstlerinnen der Moderne wie Joan Mitchell, Paula Rego, Louise Bourgeois, Agnes Martin die Kennzeichen männlicher kultureller Macht imitiert oder haben sie an ihren Rändern existiert? Wenn eine Frau heute künstlerisch arbeitet, wer ist sie?"

Außerdem: In der Book Review denkt die Autorin Leslie Jamison über den Kult der traurigen, selbstzerstörerischen Frau in der Literatur nach. Sie selbst war in ihren Zwanzigern auf diesem Trip, ihre Lieblingsheldin war Jean Rhys' Sasha in "Good Morning, Midnight". Sasha Sasha versucht sich in einem billigen Pariser Hotel zu Tode zu trinken, getrieben von ihrer verlorenen Jugend, fehlgeschlagenen Affären und dem Geist ihres Babys, das mit fünf Wochen starb, so Jamison. Heute erträgt sie die "weinerliche Passivität" und das Selbstmitleid dieser Heldin kaum noch und stellt lieber eine Reihe von Autorinnen vor, die über das Glück schreiben: Chris Kraus, Kathleen Stewart und vor allem Maggie Nelson.
Archiv: New York Times