Magazinrundschau - Archiv

The Quietus

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Magazinrundschau vom 17.10.2023 - Quietus

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Thurston Moore, Gitarrist der legendären Noisepop-Band Sonic Youth, hat mit "Sonic Life" seine Autobiografie vorgelegt und tut es damit seiner Bandkollegin und Ex-Lebensgefährtin Kim Gordon gleich, die ihr Buch bereits 2015 veröffentlichte. Anlass für Steve Chick zum großen Interviewporträt, in dem Moore viel aus dem bewegten Leben der Band erzählt. Unter anderem geht es auch um die große Gretchenfrage der verschiedenen Undergroundszenen der Achtziger und Neunziger: Majorlabel oder nicht? "Als das Angebot für Sonic Youth schließlich reinflatterte, akzeptierten wir rasch. 'Unser Verhältnis zu unserem damaligen Label SST und Paul Smith war ein bisschen verschroben. Buchhaltung hatten sie nicht wirklich drauf. Wenn du auf SST warst, dann musste dir eines klar sein: Egal, welche Gewinne Deine Platten machten, sie wurden sofort in die nächste Platte von Saccharine Trust oder wem auch immer gesteckt. Dieses kommunitäre Ideal war so eine sozialistische Sache, die uns gut gefallen hat, aber es war auch ein bisschen verdächtig, vor allem in den späten Achtzigern, als Bands wie unsere dann doch größer wurden.'  ... Sonic Youth unterschrieben bei Geffen Records, die in den nächsten zwei Jahrzehnten eine ganze Serie von zunehmend avantgardistischen Platten herausbrachten. 'Wir gingen da rein mit der Vorstellung, wie absurd das war, dass unsere Band auf so einem Label ist', erzählt Moore. 'Ich fühlte mich in der Musik immer zum Absurden hingezogen. Wie japanische Noisemusik zum Beispiel: Jedes Tape klingt gleich und zwar wie eine Waschmaschine - gebongt, nehm' ich! ... Aber es verhalf uns zu einem gewissen Einkommen, damit wir auch mal von was anderem leben konnten als nur von Erdnussbutter und Zwiebeln. In der Szene war der Aufschrei groß. Die Leute erzählten uns, 'Majorlabels sind doch berüchtigt dafür, die Musiker abzuzocken', 'diese ganzen Verträge sind alte Bluesmusiker-Verträge'. Aber wir waren ja nicht dumm. Das war so der Streit, den wir mit Leuten wie Steve Albini hatten. Für das erste Album für Geffen, 'Goo', holten wir uns Raymond Pettibon [ein Underground-Illustrator, der den kompromisslosen visuellen Stil von Black Flag schuf], damit die Sache 'real' blieb. Aber als Gegenüberstellung machten wir für die Innenseite gemeinsam mit Michael Levine ein Hochglanz-Fotoshooting, für das wir uns als eitle Rockstars verkleideten. Da machten wir uns einfach einen Spaß mit dieser ganzen Debatte.' Die Majorlabels waren die großen Ungeheuer der Kultur der Neunziger, weil sie angeblich Künstler aneigneten, deren Werk missbrauchten und sie abschröpften - auch wenn sie heute wie wohlwollende Mäzene aus der Zeit der Renaissance wirken im Vergleich zu den großen Streamingdiensten, die Musiker vom Traum befreit haben, von ihrer Musik leben zu können."

Von ihrem Album "Goo" stammt auch dieser bis heute großartige Song samt großartigem Video:

Magazinrundschau vom 14.02.2023 - Quietus

Cat Anderson. Photo by Francine Winham


Auf die beeindruckenden Jazzfotografien der Britin Francine Winham ist Ian Opolot nur durch Zufall auf Tumblr gestoßen, als dort noch reger Betrieb herrschte und man nächtelang auf visuelle Safari gehen konnte. Losgelassen hat ihn die Faszination bis heute nicht: Für seinen Essay über die 2013 verstorbene Winham hat er alte Weggefährten, Verwandte und Freunde ausfindig gemacht und befragt. Insbesondere ihre "spektrale Fotografie" interessierte ihn dabei. Erst fotografierte Winham Reggae-Musiker auf Jamaica. "Winham verschmolz zunehmend mit ihrer Kamera und fotografierte immer abenteuerlicher. Mitte der Sechziger erlebte Jazz einen kreativen Höhepunkt. Sein kulturelles Epizentrum lag in New York und Winham beeilte sich, dorthin zu kommen." Sie "fand Jazz berauschend, insbesondere was die Art betrifft, mit der Jazzkünstler in der Lage waren, eine Form des Daseins zu kommunizieren, die auf viele auf schöne Weise fremd wirkte. ... Es war in dieser Zeit, als Winhams vielleicht beeindruckendste Fotografien entstanden. Ihr Stil war ganz und gar einzigartig. Winham war in der Lage, Bilder auf eine Weise anzufertigen, die die verwobene Geschichte zwischen Jazz und den afro-amerikanischen Leuten wunderbar illustrierte. Sie schoss hauptsächlich in Schwarzweiß, obgleich ihre Fotos einen Hauch des Flüchtigen aufweisen. Man betrachte nur einmal Winhams Foto von Cat Anderson beim Trompetenspiel. ... Das 1965 beim Newport Jazz Festival entstandene Bild ist verzerrt und realitätsenthoben. Doch diese Verzerrung hat nichts mit schlechter Fotografie zu tun. Tatsächlich handelt es sich um einen Geniestreich. Die Lichtstreifen, die vom Kamerablitz auf dem Blechinstrument herrühren, sind so gewollt und dadurch entstanden, dass Winham den Blendenverschlusse verlangsamt und die Kamera beim Drücken des Auslösers bewegt hatte. Das Ergebnis kommuniziert etwas, das jenseits dessen liegt, was das blanke Auge wahrnimmt: sowohl Winhams Imaginationskraft, als auch eine wahrhaftige Darstellung dessen, was diese Musik an Gefühlen auslöst. Später beschrieb Winham diesen Stil als Fiebertechnik. ... Im Ergebnis hält sie damit das Virtuosentum des Künstlers fest, die Fähigkeit, einen Grad an Intimität und emotionalem Widerhall zu vermitteln, der sich in Echtzeit vielleicht gar nicht offenbart. Ein Standbild jenes Moments, in dem der Künstler einen Zustand erreicht, in dem es nur noch ihn und sein Instrument, deren Existenz gibt. Das Instrument wird zum Kommunikationsmittel all seiner sinnlichen Erfahrung im Kontext seines Verhältnisses zur Welt" und "Windham ist in der Lage, all dies mittels einer einzigen Technik einzufangen".

Magazinrundschau vom 25.10.2022 - Quietus

Das US-Kino der Siebziger: Scorsese, Spielberg, Coppola, Malick, Bogdanovich, Allen. New Hollywood: eine Erneuerung des Studiosystems aus dem Geist des Autorenfilms. Alles schön und gut, doch diese Monumentalisierung einzelner Filmemacher verzerrt den Blick auf die Weite und Fülle dieses auch in seinen Nischen aufregenden Kinojahrzehnts, finden Kelly Roberts, Michael Grasso and Richard McKenna, die deshalb mit We Are The Mutants nicht nur ein Online-Filmmagazin gegründet, sondern unter dem selben Titel auch eine Essaysammlung herausgegeben haben, in deren Beiträgen Filme, die auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, konstruktiv miteinander in Verbindung gebracht werden. Im Gespräch erklärt Kelly Roberts, warum er es ihn gereizt hat, Tobe Hoopers Splatterklassiker "Texas Chain Saw Massacre" mit Barbara Kopples Dokumentarfilm "Harlan County, USA" aus dem Jahr 1976 engzuführen: "Ich bin weißgott nicht der Erste, der 'Texas Chain Saw Massacre' als Allegorie auf die Gewalt des Kapitalismus deutet, aber ich denke, ihn neben 'Harlan County, USA', einen brillanten Dokumentarfilm über einen Kohlestreik und die tatsächliche Gewalt des Kapitalismus zu stellen, das ist ein ziemlich wuchtiges Statement. Beide Filme entstanden während der Energiekrise 1973 und beide handeln von Energie: Wie wir sie uns beschaffen, wie wir sie verschwenden und wen wir opfern, um ihren Fluß am Laufen zu halten. Die jungen Leute in 'Texas Chain Saw Massacre' sind Hippietypen, sie werden der kannibalischen Sawyer-Familie gegenüber gestellt, frühere Schlachthausarbeiter, die von 'effizienterer' moderner Technologie gedemütigt und ersetzt wurden. In 'Harlan County, USA', gedreht von der damals 27 Jahre alten Barbara Kopple, sind es die Minenarbeiter, die gedemütigt und entmenschlicht werden. Sie sind dazu gezwungen, unter miserablen Bedingungen zu leben und werden von der Firma ausgepresst. Tobe Hoopers Horror-Meilenstein zeigt das wild gewordene Proletariat dabei, wie es sich erhebt und die privilegierte Bourgeoisie - denn letzten Endes war die Gegenkultur genau das - buchstäblich schlachtet und verzehrt. In dem Moment jedoch, in dem in 'Harlan County, USA' ein gewalttätiger Aufstand unmittelbar bevor zu stehen scheint, entscheiden sich die Minenarbeiter für Solidarität, Familie und einen neuen Gewerkschaftsvertrag. In beiden Filmen ist es dieser Kampf zwischen den Generationen, der sich endlos wiederholt."

Und hier Barbara Kopples "Harlan County":

Magazinrundschau vom 11.10.2022 - Quietus

Von Comics hat er sich 2019 offiziell verabschiedet, heute ist Alan Moore "nur" noch Schriftsteller. Weniger grantig oder weniger genial durchgeknallt in seiner Amalgamisierung von Kulturgeschichte, Esoterik und Gesellschaftskritik ist er dadurch aber weißgott nicht geworden. Dieser Tage erscheint auf Englisch seine neue Kurzgeschichtensammlung "Illuminations" und angekündigt (und dem Vernehmen nach zur Hälfte geschrieben) ist eine fünfbändige Fantasy-Saga über London. Dem Popkultur-Magazin The Quietus hat Moore daher ein großes Interview gegeben - oder vielleicht besser gesagt: einen von nur gelegentlichen Nachfragen durchkreuzten Vortrag gehalten, in dem es mal wieder um tausend Themen und alles und jenes geht. Unter anderem auch um die Fähigkeiten Englands, Honig für erzählerischen Stoff zu saugen: "Nahezu mein gesamtes, auf Englisch basierendes Werk fokussiert auf Northampton. Aber ja, tatsächlich stoße ich in der englischen Landschaft auf ein ansehnliches Stück spukhafter Resonanz. Ich würde sagen, das ist der vierdimensionale Aspekt dieser Gegend. Wenn Einstein Recht damit hat, dass wir in einem Universum aus mindestens vier Dimensionen leben, von der wir eine als den Fluss der Zeit erleben, dann muss man dieses Zeit-Element berücksichtigen, wenn man sich Orte näher ansieht. Möchte man das Ausmaß eines Ortes in den Blick bekommen, muss man auch die vierte Dimension betrachten. Rein geografisch betrachtet sind wir eine verhältnismäßig kleine Insel, die irgendwo an Europa abknickt. Aber das tatsächliche Ausmaß von England, von Britannien, ist historisch betrachtet enorm. Nur mal Northampton als Beispiel: Wir hatten Mammutjäger hier, die Römer, aus Perspektive der Sachsen bildeten wir den Mittelpunkt des Landes. Die Normannen waren hier, aber da gerieten wir in Missgunst wegen Hereward the Wake, einem örtlichen Terroristen, der, als ich aufwuchs, noch zu Englands legendären Helden zählte. Die englische Sicht auf die Welt ist ein wenig seltsam oder exzentrisch und das treibt wunderbare, fantasievolle Blüten. Ich kann meinen Finger nicht genau drauf legen. Ich würde sagen, seit dem Zweiten Weltkrieg sind wir sicher ein bisschen verrückt geworden. Ich denke, eine posttraumatische Belastungsstörung könnte ziemlich gut erklären, warum die Briten sich den Dingen ein wenig schrullig nähern - zumindest seit dem Krieg. Aber das geht noch viel tiefer. Ich denke, es hat damit zu tun, dass wir so oft überfallen wurden, aber vielleicht auch mit der englischen Sprache selbst. Englisch ist eine Art brillanter Sklaven-Zungenschlag. Wir haben uns von jedem, der uns überfallen hat, Wörter geborgt. Man stößt im Englischen auf so viele Ausdrucksmöglichkeiten und Schattierungen von Wörtern und Bedeutungen. Vielleicht prägt das auch einfach in gewisser Hinsicht unser Denken?"

Magazinrundschau vom 27.09.2022 - Quietus

Seit 40 Jahren gibt es die CD - und dem anhaltenden Vinyl-Boom zum Trotz ist sie auch weiterhin mit deutlichem Abstand das am meisten verkaufte Musikträger-Medium, hält Daryl Worthington in einer großen Würdigung fest. Dennoch gilt die CD kaum als Fetisch- oder wenigstens kultisches Objekt, was sich auch daran zeigt, dass ästhetische Experimente mit der Medienmaterialität der CD über vereinzelte Versuche (wie etwa ein Album, das so konzipiert war, dass man es durch die Random-Funktion immer wieder neu zusammensetzen konnte) nie hinauskamen - anders als beim Vinyl-Knistern oder Tape-Rauschen, mit sich Klangkünstler immer wieder beschäftigt haben. "Zum Teil dürfte sich dies mit der relativen Allgegenwärtigkeit der CD erklären lassen. Sie ist als physisches Medium so vertraut, dass sie keine Distanz aufweist, um exotisiert oder fetischisiert zu werden. Eine weitere Erklärung hat weniger mit dieser Distanz, sondern mit dem Objekt selbst zu tun. In seinem Journalartikel 'In Memoriam: The CD and its Ends' vertrat Will Straw 2009 die Ansicht, dass die CD in ihrer Rauschreduktion ein Opfer ihres eigenen Erfolgs gewesen ist. 'Wenn die Materialität der Technologie, um Musik abzuspielen, die Bedeutung der Musik in keiner wiedererkennbaren Weise mehr formt, dann wird aus dieser Technologie wenig mehr als bloß der zeitweilige Träger für Musik.' ... Ein interessantes Paradox umgibt die CD. Während sie das ideale Format dafür ist, die Hörerfahrung individuell anzupassen, den Fluss eines Albums zu unterbrechen oder Musik in endloser Schleife wiederzugeben, ist sie auch das Format par excellance für das Album als in sich schlüssige, in sich ruhende Form, die an einem Stück durchzuhören ist. The Necks ist das perfekte Beispiel für eine Band, deren Musik für CDs geradezu maßgeschneidert ist. Ganz ähnlich verdeutliche auch Thomas Ankersmits atemberaubende elektro-akustische Welt aus dem Jahr 2021, 'Perceptual Geography', dass die CD für sie das ideale physische Trägerformat ist. ... Sie mögen keine der spezifischen Unzulänglichkeiten haben, die Tape oder Vinyl für viele so attraktiv machen, und doch sind CDs ein einzigartiges Format, das mit einer ganzen Bandbreite von Möglichkeiten kommt. Sie sind mehr als bloß ein kurioser Zwischenschritt im digitalen Wandel und haben, im Guten wie im Schlechten, eine ganz bestimmte Weise eröffnet, wie sich mit Sound umgehen lässt - ob nun verspielt oder funktional."
Stichwörter: Cd, Musikmedien, Vinyl

Magazinrundschau vom 22.03.2022 - Quietus

Miranda Remington erinnert an das zwar kurzlebige, aber umso aufregendere japanische Label Vanity Records, dessen zwischen 1978 und 1981 entstandene Diskografie vor nicht allzu langer Zeit in der Box "Tolerance" neu aufgelegt wurde. "Der sonische Schatten dieses Label greift auch nach den aufmerksamen Ohren von heute, ein vergnüglicher Schock, den schroffen Resonanzen zum Trotz. Das Spektrum der Stile, die sich hier im Lärm verwischen - Post-Punk-Seltsamkeiten, grimmiger New Wave, Minimal-Synth und Ambient-Experimente mit Radiorauschen - bringt in den Ohren internationaler Plattensammler auf verführerische Weise eine Saite zum Klingen." Das Label "erschien prophetisch an der Schwelle zu einem wichtigen kulturellen Moment - ihre bröckelnden Klanglandschaften spiegeln die kulturellen Turbulenzen im Japan der Nachkriegszeit wider, als Tokio nach einem Wirtschaftswunder und einem Technologieboom zum Ground Zero einer kommerziellen Explosion wurde und die bis dahin allgegenwärtige traditionelle Umgebung in alarmierendem Tempo ersetzt wurde. In einer völlig technisierten Gesellschaft schwelgen Vanitys Klänge mit neu verfügbaren monophonen Synthesizern, Sequenzern und Drumcomputern in fetischistischen Geräuschbehandlungen, die das Unbehagen an der Schattenseite der Gesellschaft lautstark zum Ausdruck bringen. Die metallische Atmosphäre von 'Tolerance' in den Alben 'Anonym' und 'Divin' spricht unsere mutierte Psyche an, indem sie eine künstliche Welt mit sinnlichen Echos auskostet. 'Sympathy Nervous' fixieren sich auf kalte, gebrochene Synthie-Bleeps und verwenden für ihre Kompositionen eine geheimnisvolle Erfindung, einen selbst programmierten Computer namens U.C.G. (Universal Character Generator) zusammen mit einem Theremin. Die Atomisierung der japanischen Angestelltenbevölkerung wird in den White-Noise-Experimenten von "Salaried Men Club' mit einem nebligen Minimalismus dargestellt, der wie eine musikalische Entsprechung zu Shinya Tetsukamotos Cyberpunk-Horrorfilm 'Tetsuo: The Iron Man' klingt. Die Themen der modernen Entfremdung, die der Westen erforscht hat, werden im Klang geschärft und in ihrer Resonanz erhöht, mit einer fremdartigen Obskurität, die so verlockend ist wie Geräusche aus einer fernen Welt."



Außerdem spricht Joe Banks mit Iain McIntyre, Ko-Herausgeber der Essay-Anthologie "Dangerous Visions And New Worlds", die den Modernisierungsschub der literarischen Science Fiction von 1950 bis 1985 in den Blick nimmt. Und Mat Colegate erklärt in einem spaßigen Essay, wie man im Grunde des Herzens schundiger Fantasy-Filme aus den Achtzigern auf wahre Filmkunst stößt.

Magazinrundschau vom 21.12.2021 - Quietus

Man macht sich kaum einen Begriff, was für ein Desaster der Brexit für die britische Musikszene darstellt. Dass Touren auf dem europäischen Festland für viele Künstler wegen des damit verbundenen, erheblichen Aufwands kaum mehr infrage kommen, war schon häufiger Thema. Als neue Drangsal hinzugekommen ist nun, dass der Zollfreibetrag für Lieferungen auf dem Postweg gefallen ist und sämtliche Labels ihre Lieferungen entsprechend deklarieren müssen. Der kaum entwirrbare Wust an unklaren Behördenzuständigkeiten stellt insbesondere kleine Labels vor erhebliche Herausforderungen. Auf der immer wichtiger werdenden Plattform Bandcamp kommen derweil nur die großen Seller in den Genuss eines automatisierten Verfahrens, wie Daniel Dylan Wray recherchiert hat. Lieferungen der Kleinen hingegen sind kaum noch zustellbar. "Derzeit kommen ziemlich genau 100 Prozent aller Pakete nach Deutschland zurück. Wir kriegen nach Deutschland einfach nichts rein", sagt Natalie Judge vom Londoner Plattenlabel und -laden World of Echo. "Manchmal brauchen wir drei Anläufe und jedes Mal kostet uns das für eine einzelne Platte 7,80 Pfund, wir verlieren also mit jeder Bestellung Geld.' ... Mat Handley vom Label Woodford Halse hat zwar Zugang zu Bandcamps Abrechnungsnummer, aber dies macht sein Leben auch nicht leichter. 'Ich weiß, wie ich das handhaben muss: Die deutliche Angabe der Nummer, die beigefügte Quittung, die eindeutig belegt, dass der Kunde die Einfuhr bereits bezahlt hat - und dennoch gibt es genug Zustellungsdienste auf dem Festland, die die Regeln einfach nicht kennen. Ich habe Kunden in Deutschland, die die Steuer noch einmal zahlen sollen, dazu noch Bearbeitungsgebühren für jede Bestellung. Ich habe Kunden in Portugal und in den Niederlanden, deren Pakete mir einfach zurückgeschickt werden, ohne Zustellungsversuch oder Benachrichtigung.' ... 'Es ist überwältigend, wie viele Informationen wir mittlerweile auf die Paketen kleben, und es ist geradezu lachhaft, wenn sie zurückgesendet werden', sagt Judge. 'Man kann hier auf offener Straße einen Postboten abfangen und ihn fragen, was denn los sei, was wir falsch gemacht hätten. Die Antwort ist stets: 'Keine Ahnung, man hat uns nichts gesagt.'"
Stichwörter: Brexit, Musikindustrie

Magazinrundschau vom 19.10.2021 - Quietus



In der Tate Modern nimmt Robert Barry tapfer die Maske ab: Anicka Yis aktuell dort gezeigte Kunstinstallation arbeitet mit unterschiedlichen Düften. Konzipiert wurde sie lange bevor die Aussicht darauf, dass viele Menschen in einem geschlossenen Raum mal gemeinsam tief einatmen, zu Nachfragen geführt hätte. Zu erleben ist "ein von Woche zu Woche wechselndes Programm von Düften, die mit Blick darauf gestaltet wurden, alles von der vormenschlichen Vergangenheit bis zu einer möglichen Maschinenzukunft zu evozieren. 'Luft ist dieser aufgeladene Ort für gesellschaftlichen und politischen Diskurs', sagt Yi mit Nachdruck. 'Mit jedem Atemzug inhalieren wir die Vergangenheit der Erde... Womöglich atmen wir Atomkerne aus Jeanne d'Arcs Asche ein ... Wir sind Gefäße wechselseitiger Abhängigkeiten und damit füreinander verantwortlich.' Und da sich das olfaktoscher Menü von Woche zu Woche ändert, musste einfach jemand die naheliegende Frage stellen: Was riechen wir eigentlich gerade? 'Im Moment die Cholera', sagt Yi, ohne eine Miene zu verziehen. ... 'Viele Philosophen beziehen sich auf den Blick', schreibt Michel Serres, 'wenige aufs Hören; noch weniger setzen ihr Vertrauen auf das Taktile oder Olfaktorische.' Dem Geruch wurde lange Zeit Bedeutung abgesprochen. ... Er galt immer als zu fleischig, zu intim. Doch nachdem wir so viel Zeit zuhause in Isolation zugebracht und nur via Zoom oder Gruppenchats kommuniziert haben, sind es vielleicht gerade diese körperlichen Qualitäten, die diesem Sinn so viel Attraktivität für die Gegenwart verleihen. Man kann einen Geruch nun mal nicht herunterladen."

Magazinrundschau vom 05.10.2021 - Quietus

Vom alten, grauen, baufälligen Westberlin, aus dem die Einstürzenden Neubauten einst ziemlich hungrig gekrochen kamen, um aus Schutt Instrumente und aus Geröll Musik zu machen, ist in Zeiten hipper Cafés, schöner Boutiquen und sanierter Albauten quasi nichts geblieben, stellt Jeremy Allen in seinem Rückblick auf das vor vierzig Jahren erschienene Neubauten-Debütalbum "Kollaps" bekümmert fest. Wie kam dieses Album eigentlich zustande, fragt er sich mit Blick darauf, dass Musikkarrieren heutzutage nach allgemeinem Verständnis nur jenen möglich sind, die schon von zuhause aus oder dank Förderung mit viel Geld ausgestattet sind. "Die Umstände, unter denen die Neubauten arbeiteten, waren düster, und doch gestatteten ihnen die einmaligen Rahmenbedingungen in Westberlin wahre Wunder. ... Wenn die Neubauten ihre eigenen Instrumente aus Metallschrott und objets trouvés bauten, sollte es dann heutzutage wirklich nötig sein, Bands zu finanzieren? Künstler können heute zwar ziemlich einfach Kunst machen, doch es ist das Marketing, das problematischer ist" und "Elend oder nicht - Westberlin bot damals einen wahren Sturm an Kreativität. ... London heute und das Berlin von damals - ein großer Unterschied besteht darin, wen diese Städte anziehen wollen. London baut unendlich viele teure Wohnungen, die von reichen Auswärtigen aufgekauft werden, während die Westberliner seinerzeit subventioniert wurden, um in einer Stadt zu leben, in der niemand wohnen wollte, außer wenn es darum ging, sich vor dem Militärdienst zu drücken. Traurigerweise gibt es heute keine Subventionen für die Existenzangst, die man heutzutage in Tory-Britannien erduldet. Die Kultur wird von der schrecklichsten Sorte Philister (und zwar mächtigen) demontiert, außerhalb von UK zu touren ist wegen des Brexits unnötig bürokratisch und nicht lukrativ, während die Sozialleistungen den Ärmsten der Gesellschaft genau zu jenem Zeitpunkt entrissen werden, an dem sie ihrer am dringendsten bedürfen, von einer Regierung, die offensichtlich noch nicht zufrieden ist mit all dem Elend, Leid und unnötigem Tod, den sie mit einer Politik der Sparsamkeit und der falschen Handhabung der Pandemie verursacht hat. Während die Rechnungen für Gas und Strom steigen und es keine Garantien dafür gibt, dass wir in diesem Winter noch das Licht anschalten können, mag es sich in der Tat kathartisch anfühlen, mit Metall auf Dinge einzuprügeln und dabei den Mond anzuheulen, während alles um uns herum kollabiert."

Magazinrundschau vom 20.07.2021 - Quietus

Heute kennt man den britischen Autor Stephen Thrower vor allem als Filmhistoriker und Spezialist für abseitige filmische Themen. Für eine Weile in den 80ern spielte er aber auch in der stilbildenden Post-Punk/Industrial-Band Coil mit, über die er anlässlich der Wiederveröffentlichung des Albums "Love's Secret Domain" zum 30-jährigen Jubiläum ausführlich spricht. Die kommerzielle Popwelt hatte damals wenig Interesse an ihnen, erinnert er sich: "Wir waren zu offensichtlich schwul. Unsere Sexualität war eine klarer und präsenter Faktor in unserer Ästhetik, in unserer Musik und in unserem Stil war - insofern war Coil eine seltene Band. Damals steckten nahezu alle schwulen Musiker entweder noch völlig im Schrank oder waren, nun ja, sehr zurückhaltend, was das Thema betrifft. ... Eine Sache, die insbesondere Geff - Sleazy wohl eher nicht so, denke ich - ziemlich nervte, war, dass die schwule Presse von uns kaum einmal Notiz nahm. Es entsprach wirklich dem Klischee: Wenn Du Discohasen- oder House-Musik spielst, dann wurde in der schwulen Presse über Dich vielleicht berichtet. Aber wenn Du nichts spieltest, was dieser ziemlich oberflächlichen Ästhetik entsprach, die damals in der schwulen Musik einfach üblich war, dann würdigten sie Dich keines Blickes. ... Man würde ja denken, dass der politische Akt, eine Single wie 'Tainted Love' zu veröffentlichen, deren Erlöse 1985 an den Terrence Higgins Trust ging, zu mehr Respekt und Anerkennung führen würde. Aber dem war nicht so. Für diese Welt waren wir nahezu unsichtbar, zumindest in der geschrieben Form. Sicher hatten wir schwule Fans, die die schwule Presse nicht brauchten, um sich sagen zu lassen, für was sie sich interessieren sollten. Aber es stimmt schon, die schwule Presse damals war einfach ziemlich konservativ, was ihren Blick auf Musik betrifft." Hier die ziemlich düstere Coverversion des Soulklassikers "Tainted Love", in der wirklich der Schmerz einer ganzen Generation steckt: