Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.10.2004. Der New Yorker gibt eine feurige Wahlempfehlung ab. Literaturen bewundert einen erotisch leuchtenden jungen Mann. Prospect feiert die schiere Anmut des asiatischen Kinos. Das weiße Haus hat ein Termitenproblem, warnt der Espresso. Al Ahram porträtiert den Schweizer Philosophen Tariq Ramadan. Le Point würdigt den Schwindler Celine. ES erklärt, warum Elfriede Jelinek in Ungarn nicht so populär ist wie Thomas Bernhard. Der Spiegel ruft "Bye-bye made in Germany!" In der Gazeta Wyborcza outet sich Jurij Andruchowytsch als polonophiler Ukrainer. In der New York Times ringt Woody Allen nach Luft: "Ich schätze George S. Kaufman".

New Yorker (USA), 01.11.2004

Viel, viel Lesestoff in dieser Woche. In einem Kommentar rechnet der New Yorker gnadenlos und detailliert mit den "Fehlern, der Arroganz" und der "Inkompetenz" der Bush-Regierung ab und gibt eine klare Wahlempfehlung für John Kerry: "Kerrys Anlagen sind einer Feuerprobe unterzogen worden- dem Feuer wirklicher Kugeln und dem politischen Feuer, das mit Sicherheit nicht abklingen, sondern heller lodern wird sollte er gewählt werden - und er hat nicht nur bewiesen, dass er stark und unverwüstlich ist, sondern auch, dass er über eine wahrlich präsidentschaftliche Dosis würdevoller Autorität verfügt. Während Bush unbarmherzig die engen Bedürfnisse seiner Basis befriedigte, war Kerry bestrebt, die breite amerikanische Mitte anzusprechen. In einer Zeit der primitiven Vetternwirtschaft hat er ein fundamental undogmatisches Temperament bewiesen. Indem er für die Wiederherstellung des amerikanischen Mainstream warb, hat Kerry darauf beharrt, dass in dieser Wahl die dringendsten Angelegenheiten des Moments entschieden werden sollten, Angelegenheiten, die über das amerikanische Leben im kommenden halben Jahrhundert entscheidend sind. Diese Beharrlichkeit ist der Maßstab für seinen Charakter. Er ist einfach die bessere Wahl ... als Bürger hoffen wir auf seinen Sieg." Unterschrieben ist der Kommentar mit "The Editors".

Weitere Artikel: Peter J. Boyer untersucht unter der vielsagenden Überschrift "Der Gläubige", wie Paul Wolfowitz den Irak-Krieg verteidigt. Paul Simms glossiert einen Artikel in der Times, dessen Autorin auf einer Anti-Bush-Demonstration beobachtet haben will, dass eine Teilnehmerin die allfälligen "Shame!"-Rufe "mit einem Jazzriff begleitete, während ihr Freund auf einer afrikanischen Flöte improvisierte". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Memoirs of a Muse" von Lara Vapnyar.

Besprechungen: Peter Schjeldahl führt durch eine Ausstellung aztekischer Kunst im Guggenheim Museum. John Updike bespricht eine Neuübersetzung des Pentateuch "The Five Books of Moses" (Norton). Die Kurzbesprechungen beschäftigen sich unter anderem mit Ludmilla Shterns Erinnerungen an ihren engen Freund Joseph Brodsky. Sasha Frere-Jones freut sich über die Neuauflage eines Albums von The Clash von 1979. Und Anthony Lane sah im Kino die Verfilmung von Ian McEwans "Enduring Love" durch Roger Michell und die Wiederaufführung von Peter Davis Vietnam-Dokumentation "Hearts and Minds" von 1974.

Nur in der Printausgabe: Lyrik von Anthony Hecht und Dorothea Tanning.
Archiv: New Yorker

Literaturen (Deutschland), 01.11.2004

Im Editorial amüsiert sich Literaturen über die Bereitwilligkeit, mit der sich das Verlagswesen neuerdings dem Jubiläumsdiktat der Geburts- und Todestage großer Dichter und Denker ergibt.

Manuela Reichart bescheinigt Tod Williams' Verfilmung von John Irvings "Witwe für ein Jahr" zuviel Ehrfurcht vor dem Original, legt dem Leser aber trotzdem einen Kinobesuch ans Herz. Nicht nur wegen der herausragenden Schauspieler (etwa Jon Foster, der vom "langweiligen, eher unansehnlichen und unreifen Oberschüler" zum "erotisch leuchtenden jungen Mann" wird), sondern vor allem "wegen des überraschenden Endes, wegen der einen Szene, die so nicht im Roman steht: Da sitzt Jeff Bridges als dem Alkohol und den Frauen überdurchschnittlich zugewandter Bestseller-Autor erschöpft in seiner Squash-Halle auf dem Boden, unendlich einsam, traurig und ratlos. Und dann öffnet er die Tür im Boden und verschwindet. In diesem Augenblick reibt man sich vor Überraschung die Augen, denn plötzlich sehen und verstehen wir etwas, das hinter dem Text verborgen war."

Weitere Artikel: Der "Unsere Besten"-Geist ist überall: Armin Thurnher erklärt die Irrungen und Wirrungen um den geplanten österreichischen Literaturkanon, dem die auserwählten Autoren nicht angehören wollen. Und nach der offensichtlich entwaffnenden Lektüre von Alexander McCall Smiths musikalisch-philosophischem Krimi "In Edinburgh ist Mord verboten" freut sich Franz Schuh, dass der Autor neben der Schriftstellerei noch einen richtigen Beruf hat. Sonst, meint Schuh, müsste man sich um ihn sorgen. Aram Lintzel spendet großzügiges Lob an die Webseite litrix.de, die versucht, deutschsprachige Gegenwartsliteratur auch über die deutschen Sprachgrenzen hinaus bekannt zu machen. Und was liest die Präsidentin des Goethe-Instituts Jutta Limbach? Tagsüber vieles - und dazu morgens und abends "schöngeistige Literatur", um nicht geistig zu verwahrlosen.

Nur im Print: Der Schwerpunkt widmet sich - pünktlich zum fünfundsiebzigsten Geburtstag - ganz Hans Magnus Enzensberger und seiner "success story".
Archiv: Literaturen

Prospect (UK), 01.11.2004

Das zurzeit innovativste Kino kommt aus Asien, schwärmt Mark Cousins, der bei der Vorführung von Wong Kar Wais "2046" Cannes noch nicht einmal bemerkte, dass er die ganze Zeit über stand. So etwas, überlegt Cousins, vermag nur der Zauber einer ungewöhnlichen Ästhetik: "Als ich dieses Jahr in Cannes die asiatischen Filme sah, bekam ich eine Vorstellung davon, wie es 1951 oder 1954 in Venedig gewesen sein muss. Die schiere Anmut der fünfzig Jahre alten Vorreiterfilme war irgendwie feminin und ganz sicher zart, reich, weich und distanziert. Jedes einzelne Werk der jüngsten asiatischen Filmwelle ist reich verziert, wie ein Wandteppich, mit besonderem Augenmerk auf Detail, visuelle Oberfläche, Farbe und Muster, und zentriert auf eine Frau oder feminisierte Männer."

Weitere Artikel: Anand Menon, dem die Europhilen genauso suspekt sind wie die Euroskeptiker, warnt die Briten davor, sich weiterhin bei der Verabschiedung der EU-Verfassung zu zieren, zumal sie diese auf so entscheidende Weise mitgeprägt haben, dass es zu einer Ablehnung gar keinen Anlass gebe. Ratlos steht Mark Irving vor Yoshio Taniguchis neuem MoMA-Gebäude: Es begeistert ihn, doch wirkt sein schwarzer Marmor auf ihn wie ein Grabmal der Moderne. Katharine Quarmby macht deutlich, wie düster die Zukunftsaussichten britischer Pflegekinder sind: Fast die Hälfte geht den direkten Weg vom Heim ins Gefängnis. Bartle Bull erklärt, was nur wenigen außerhalb des Iraks bewusst ist: Nach 500 Jahren sunnitischer Herrschaft kommt die Machtübernahme durch die Gemeinschaft der Shia einer historischen Wende gleich. Und Annabel Freyberg nimmt die nicht immer nachvollziehbare Spendenpolitik des britischen Heritage Lottery Fund, der seine Gelder aus den landesweiten Lottoeinnahmen bezieht, in Augenschein.
Archiv: Prospect
Stichwörter: Irak, Moma, Venedig

Espresso (Italien), 28.10.2004

Italienische Leser wie Schriftsteller haben in jüngster Zeit Gefallen an schnellgeschriebenen wie schnellgelesenen Detektivromanen gefunden, wundert sich Tatiana Bettini. "Kulturell und geschichtlich hat sich Italien nie für diese Art von Literatur interessiert, wie alle Länder des Mittelmeers, wahrscheinlich mehr ein klimatisches als ein sozio-kulturelles Problem. Es schien unmöglich, die Spur vom Verbrechen bis zur Lösung des Falls nicht vor dem Hintergrund der gotischen und nebligen Atmosphäre Nordeuropas auszulegen."

Terroristen, Bombenbastler, Rebellen, Gotteskrieger, Schmuggler, Hacker und die Mafia: alles weltweit organisierte Termiten, die das Fundament unserer globalen Gesellschaft bedrohen, warnt Moses Naim im Kommentar. Leider habe die Politik immer noch nicht verstanden, dass die größte Gefahr heute von relativ kleinen Gruppen ausgeht: "Die amerikanischen Wahlkampfdebatten haben bestätigt, dass - so viel die Kandidaten auch vom Terrorismus reden mögen - immer noch die Nationalstaaten als Hauptakteure betrachtet werden. Zu erkennen, dass das Weiße Haus ein Termitenproblem hat, wäre bei der Suche nach einer Lösung sicher hilfreich."

Während der Papst immer schwächer wird, gewinnen die grauen Eminenzen an Macht, weiß Sandro Magister und stellt die Großen Vier im Vatikan vor: Julian Herranz Casado, Mitglied von Opus Dei, Angelo Sodano, der Staatssekretär, Stanislaw Dziwisz, der Privatsekretär und natürlich Joseph Ratzinger, oberster Hüter des rechten Glaubens.

Die ehemalige Sozialministerin Livia Turco fordert im Gespräch mit Marco Lillo eine offenere Einwanderungspolitik: Die Haltung Berlusconis "verletzt internationales Recht". Als Unterstützung für die beigelegte CD fragt Stefania Rossini die schon etwas ergraute Sängerlegende Claudio Baglioni im Interview, wie er seine Depressionen ohne Psychotherapeut überwunden hat. Der Komiker Alessandro Bergonzoni interviewt sich selbst. "Gibt es in meinem neuen neuen Stück einen Moment, den ich besonders liebe und der mir neue Möglichkeiten, neue Horizonte zwischen Mandeln und Hypothalamus eröffnet?" "Gute Frage!"
Archiv: Espresso

Al Ahram Weekly (Ägypten), 21.10.2004

Wer ist Tariq Ramadan? "Für die einen ist er ein brillanter junger Philosoph, der das Beste des Islams und des Westens zusammenbringt, ein Brückenbauer zwischen zwei Zivilisationen, eine energischer Streiter für eine universelle Vorstellung von Gerechtigkeit und eine der wichtigsten Stimmen der Gegenwart. Seine Kritiker beschuldigen ihn dagegen der Doppelzüngigkeit - mit einer besonnenen Botschaft in Englisch und Französisch und einer radikalen in Arabisch; er trägt, sagen sie, eine Maske der Liberalität, um seine wahre 'islamistische Agenda' zu verbergen. Einige haben ihn sogar als 'trojanisches Pferd des Dschihad in Europa' bezeichnet." Omayma Abdel-Latif hat Ramadan getroffen und sich seine Gedanken darlegen lassen, insbesondere seine Vorstellung eines "europäischen Islam", der es den dortigen Muslimen erlauben würde, "aus ihrem Ghetto herauszukommen und aktive Bürger zu werden". Die Begründung seiner Vorstellung findet Ramadan allerdings nicht in einer liberalen Variante des Islam, sondern in einer Neulektüre seiner wichtigen Schriften, aus denen er universelle Werte herausarbeitet. (Auf Deutsch ist von Tariq Ramadan "Muslimsein in Europa" erschienen. Ein Porträt Ramadans von Jörg Lau aus der Zeit finden Sie hier, einen längeren Artikel von Sabine Haupt über Ramadan aus der NZZ hier.)

Der Berliner Autor Norman Ohler war vier Wochen lang Stadtschreiber in Ramallah, das Goethe-Institut hat?s ermöglicht. Rania Gaafar hat sein Internet-Tagebuch gelesen und war gefesselt, und zwar trotz des manchmal etwas orientalistischen und naiv-xenophilen Blicks des Deutschen, der sich selbst als "Intifada-Touristen" bezeichnet. Ein kleiner Preis für die Möglichkeit, dem Blick eines Fremden zu folgen, der seine Überwältigung nicht durch die Standards des politischen Journalismus abschwächt. Und der deshalb Erkenntnisse gewinnt wie: "Selbst Palästinenser können leidenschaftliche Liebhaber sein." Derweil war Ibrahim Farghali (mehr) in Stuttgart installiert und hat in der kurzen Zeit eine bemerkenswerte Erfahrung gemacht: Nach ein paar Tagen in Berlin fühlte er sich bei der Rückkehr nach Stuttgart, als käme er nach Hause. Hier geht?s zu den Tagebüchern Farghalis. Und hier finden Sie alle Tagebücher der Reihe Midad.

Mohamed El-Assyouti ist unzufrieden mit Youssef Chahines neuem, autobiografischen Film "Iskenderiya - New York" (Alexandria - New York). Und Lubna Abdel-Aziz ruft: "Willkommen in der neuen Machowelt der männlichen Kosmetik! (...) Die Tage, in denen markige Mannsbilder ihre Bartstoppeln mit After Shave einrieben und stolz das Spiegelbild ihrer markanten Falten und grauen Haare angrinsten, sind vorüber."
Archiv: Al Ahram Weekly

Point (Frankreich), 25.10.2004

Er war ein genialer Schriftsteller - und ein "totales Arschloch": Louis-Ferdinand Celine. Philippe Almeras, Celine-Biograf und -Spezialist, legt nun einen "Dictionnaire Celine" (Plon) vor, in dem er auf über 800 Seiten und in fast 2.000 Stichwörtern "den ganzen Celine" in all seine Facetten abhandelt: etwa "den Briefschreiber, den schelmischen Liebhaber, das wahre und das vermeintliche Opfer, den Exaltierten, den Komödianten" - und eben auch "das kleine Arschloch". Im Anschluss an die Kritik ist ein Gespräch mit Almeras über seine Arbeit und seine Quellen zu lesen, in dem er auch den genialen "Schwindler" Celine vorführt: In seinem "Dictionnaire historique de Copenhague" erzähle er die Geschichte "seiner Verhaftung über den Dächern der Stadt, der Verfolgungsjagd über Kamine mit gezücktem Revolver. Ich bin hingefahren, habe das Gebäude angeschaut und mir gesagt: 'Wie soll das gehen, bei den Dachformen dort?' Ich habe eine Bewohnerin getroffen, die im letzten Stock wohnt und sie gefragt, ob ich mal schauen darf. Sie hat mir eine Terrasse gezeigt, auf die sie sich gerettet haben. Ich bin der einzige Celianer, der diese Wohnung besucht hat. Seine Version ist ausgeschlossen, es war ein Dachstübchen mit einer Luke. Lucette hätte sich da vielleicht durchzwängen können, er aber keinesfalls. (...) Er hat alles komplett verdreht."

In seiner Kolumne wirft Bernard-Henri Levy einen Blick auf den amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf und sieht dort so viel Politik wie noch nie. "Man sagt, Amerika sei unpolitisch. (...) Das stimmt überhaupt nicht. In Amerika wurde - nach dem 11. September und mehr noch nach dem Beginn des Wahlkampfs, noch nie so viel politisch debattiert. Aufbruch. Spannung. Schlacht um Registrierung in den Wahllisten bis zum letzten Moment. Noch nie hat man in der Erinnerung Amerikas Überzeugungen mit solcher Heftigkeit aufeinanderprallen sehen. Ideen gegen Ideen. Die Rückkehr der Politik."
Archiv: Point

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.10.2004

Der Schriftsteller und Fernsehjournalist, Miklos Vamos erzählt von den heroischen Versuchen des kleinen Verlags "Ab Ovo", den er bis 1997 leitete, Elfriede Jelinek in Ungarn bekannt zu machen. Obwohl es der Verlag geschafft hat, das ganze Land ins Thomas-Bernhard-Fieber zu setzen, scheiterte er mit Jelinek. Der Grund: Wie sich "das Unglück einer Frau" anfühlt, dafür hat "diese Männergesellschaft" keine Neugier übrig, und die Frauen "kennen das Thema viel zu gut", meint Vamos. Dass Jelineks Auszeichnung in ihrem Heimatland ambivalent aufgenommen wurde, erinnert ihn an die ungarischen Debatten von 2002, nachdem der Nobelpreis von Imre Kertesz (mehr hier) publik wurde: "Die österreichischen Literaturhistoriker werden wenigstens keine Protestbriefe an die Schwedische Akademie schreiben. Wie einer von ihnen in einem Interview erklärte, sind dazu seine sehr verehrten Landsleute zu feige. Was die Angriffe auf Imre Kertesz angeht, kann ich meine Entdeckung nicht unterdrücken, dass das Wort 'Ungar' in deutscher Sprache kleingeschrieben, als Adjektiv so etwas wie 'noch nicht fertig, unreif' bedeutet ..." (Purer Zufall, ehrlich!)

Der einzige Ort, wo sich der spanische Architekt Michael Kubo auf der Biennale in Venedig wohl fühlte, war der ungarische Pavillon. Unter dem Titel "From Beauty to Beauty and Back Again" gelang dem Kuratoren Peter Janesch in den von vier jungen Architekten entworfenen Räumen "eine zurückgehaltene, unendlich persönliche und gleichzeitig außerordentlich bewegende" Ausstellung. Als er dort stand, musste Kubo an die in den dreißiger Jahren aus Ungarn in die USA emigrierten Spitzenforscher denken, die - wegen ihrer noch nie gehörten, exotisch klingenden Muttersprache - "Marsbewohner" genannt wurden. Der Biochemiker und Science-Fiction-Autor Isaac Asimov meinte dazu, dass "die Erde von zwei über Verstand verfügenden Wesen bewohnt wird: von Menschen und von Ungarn." So fallen sie heute noch auf, meint Kubo, "durch die Fremdheit ihrer ausgezeichneten und erstaunlichen Ausstellung".

Anlässlich des 60. Jahrestags der Machtübergreifung der Pfeilkreuzer am 15. Oktober 1944 sowie der für diesen Tag angemeldeten, verbotenen Kundgebung der rechtsradikalen Gruppe der "Hungaristen" protestieren mehrere Autoren gegen das Schweigen über die Kontinuität des Antisemitismus, über das "Nachleben des Holocausts" von 1945 bis heute. In diesem Zusammenhang wird die Debatte über die Budapester Holocaust-Gedenkstätte weitergeführt (siehe auch unsere Magazinrundschau vom 20. September 2004).

Spiegel (Deutschland), 25.10.2004

Auch der Spiegel erscheint jetzt als E-Paper. Für drei Wochen ist er kostenlos. Danach wird man dafür extra bezahlen müssen. Es sieht so aus, als würde das dann für alle Inhalte des Magazins gelten.

Für die heutige Magazinrundschau aber lässt sich alles verlinken, zum Beispiel der Titel: "Bye-bye 'Made in Germany'" über die Auslagerung von Hunderttausenden Arbeitsplätzen und eine zweite Welle der Globalisierung, die gnadenlos über den deutschen Industriestandort hinwegrollt.

Außerdem verlinken wir auf einen Essay von Peter Schneider (mehr hier) über die Wahlen in Amerika: "Diesmal stehen sich nicht nur zwei Parteien gegenüber, sondern zwei unterschiedliche Ansichten von der Welt, zwei Kulturen, zwei Lebenseinstellungen. Die Wahlergebnisse werden Sieg und Niederlage in einem kulturellen Bürgerkrieg anzeigen, der mit der Bürgerrechtsbewegung und den Vietnam-Protesten offen ausbrach und seither unter der Oberfläche brodelt."

Weitere Artikel: Alexander Smoltczyk porträtiert die deutsch-polnische Doppelstadt Görlitz-Zgorzelec. Und Romain Leick schreibt über die hierzulande viel zuwenig wahrgenommene leidenschaftliche französische Debatte über die EU-Verfassung.
Archiv: Spiegel

Plus - Minus (Polen), 23.10.2004

Das Magazin der polnischen Tageszeitung Rzeczpospolita widmet sich zwei großen Dichtern des 20. Jahrhunderts: Czeslaw Milosz und Zbigniew Herbert.

Ireneusz Krzeminski macht sich Gedanken über die gesellschaftliche Rezeption des kürzlich verstorbenen Nobelpreisträgers Milosz. Er widerspricht der Meinung des Schriftstellers Stefan Chwin, der behauptet hatte, dass der Dichter und Philosoph nicht verstanden und zu einem bloßen Symbol der antikommunistischen Opposition reduziert wurde. "Manchmal macht das kollektive Bewusstsein aus jemanden einen symbolischen Anführer, gar eine moralische Autorität, ohne dass es mit seinem Werk oder seinen wirklichen Verdiensten in einer Relation stünde. Aber bei Milosz ist das eher nicht der Fall." Krzeminski unterstreicht die Bedeutung von Milosz' Werk für die Debatte um einen humanen, von der christlichen Ethik inspirierten Sozialismus, und seine unnachgiebige Haltung gegenüber jeder Form von Nationalismus und Xenophobie. "Er suchte nach einer Vision des Polentums, die sowohl religiös engagiert, patriotisch, aber gleichzeitig offen, tolerant, liberal eben war - und dadurch formulierte er eine wesentliche weltanschauliche Alternative. Und es sollte nicht verwundern, dass jetzt, in Zeiten der Freiheit, die wiederbelebten, nationalistischen Geister anlässlich seiner Beerdigung ihre Stimme erhoben. Milosz schaute manchmal ganz tief in die Abgründe der Seele des katholischen Polens."

"Er sprach von unseren Träumen vom heroischen Leben, vom rebellischen Leben, in dem es nicht nur Determination, Selbstbewusstsein und überzeugende Standpunkte gibt, sondern auch Anstand und Würde", schreibt Krzysztof Maslon über Zbigniew Herbert, der am 29. Oktober achtzig Jahre alt geworden wäre. Der Dichter und Publizist, der mit seiner Gestalt des Herrn Cogito ein Symbol des moralischen Aufbegehrens gegen die kommunistische Herrschaft schuf, galt lange als der konservative, moralistische Widersacher von Milosz.. Sein viel schärfer als bei Milosz formulierter Antikommunismus soll nicht darüber hinweg täuschen, dass für ihn "nicht der Kommunismus die größte 'Bedrohung der Seele' war - wie es diejenigen wollten, die den Schöpfer des Herrn Cogito auf ihre, politische Art interpretieren wollten -, sondern der Nihilismus".
Archiv: Plus - Minus

Gazeta Wyborcza (Polen), 23.10.2004

In der Wochenendausgabe der größten polnischen Tageszeitung outet sich der Schriftsteller Jurij Andruchowytsch als Angehöriger einer kleinen Minderheit: der polonophilen Ukrainer. "Weil Polen all die Jahre hindurch für mich Freiheit bedeutete, fühlte ich mich dort, wann immer ich die Grenze überschritt, gleich wie zu Hause. Weil es gut ist, im Westen ein Land der Träume zu haben - wenn nicht gleich Vorbild, so doch ein Neidobjekt. Für Polen ist es Deutschland, für Deutschland Frankreich, und so weiter, denn weiter weiß ich nicht, weil was kann schon besser sein als Frankreich? Amerika?" Andruchowytsch kommt auf einen eigentümlichen Neid aufeinander und umeinander zu sprechen, der Polen, Russland und die Ukraine verbindet. "Die Russen irritiert schon die alleinige Tatsache der Rivalität. Wieso sollten sie auch auf 'irgend so einen Polen' eifersüchtig sein?! ... Polen ist eines dieser kleinen postsozialistischen Länder. Wie ein befreundeter russischer Dichter sagte: mitteleuropäisches Geschwätz."

Artur Domoslawski berichtet vom Europäischen Sozialforum in London und wundert sich über das angestaubte, sozialistische Gewand, in dem manche Globalisierungsgegner daher kommen. "An den Ständen Kommentare zu Marx, rote Fahnen und 'No pasaran'-Losungen. Leo Trotzki konkurriert mit einem Revolutionär von fraglos größerem Sex-Appeal - Che Guevara". Dennoch konstatiert der Publizist: "Als ich den Saal verließ, ließ mich der Gedanke nicht los, dass der Grund, warum die Globalisierungskritiker ihren Widerspruch in Formen aus dem 19. Jahrhundert manifestieren, nur der sein kann, dass die Probleme ebenfalls die des 19. Jahrhunderts sind: der Kampf um Arbeitszeitbegrenzung, das Recht auf Streik und Urlaub".

Außerdem lesen wir ein Interview mit dem Literaturhistoriker Andrzej Mencwel über den vor vier Jahren verstorbenen Jerzy Giedroyc, Gründer und langjähriger Leiter der bedeutendsten exilpolnischen Kulturzeitschrift, "Kultura". Das Milieu um Giedroyc hat sich vor allem dadurch verdient gemacht, dass der Prozess der Aussöhnung mit den Nachbarn, insbesondere mit den Ukrainern, durch ihre Autoren engagiert voran angetrieben wurde, erklärt Mencwel.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Times Literary Supplement (UK), 22.10.2004

Mit zusammengebissenen Zähnen gesteht der frühere Berater des US-Außenministeriums Edward N. Luttwak Seymour Hersh zu, gute Arbeit zu leisten, legt in seiner Besprechung zu Hershs "Chain of Command" ("Die Befehlskette") aber Wert auf die Feststellung, dass sich vor dem Reporter die Armee um die Vorgänge in Abu Ghraib kümmerte (um My Lai natürlich auch!). Und: "In seinem Eifer, die schmutzigen Geheimnisse unter dem Teppich der Regierung zu finden, sieht Hersh nicht, was darüber passiert. Zurecht kritisiert er Rumsfeld, Cheney und ihre Unterlinge dafür, Präsident Bush zur Invasion des Irak überredet, unmögliche Ziele verfolgt und jeglichen professionellen Rat ignoriert zu haben. Aber er berichtet nicht, dass sie nichts mehr zu sagen haben in wichtigen Irak-Angelegenheiten, die werden jetzt alle vom State Department und Botschafter Robert Blackwell entschieden."

Jane Caplan diskutiert ausführlich das neue Werk "The Dictators" des Historikers Richard Overy, eine vergleichende Studie zu "Hitlers Deutschland und Stalins Russland". Profund und lebendig ist das Buch geschrieben, versichert Caplan, aber wie jede vergleichende Studie lasse auch "The Dictators" unter den Tisch fallen, was nicht in ihr Konzept passe. "So verwendet Overy, wahrscheinlich aufgrund seiner Entscheidung, Stalins Nationalitätenpolitik mit dem rassistischen Genozid der Nazis zu vergleichen, keinerlei Aufmerksamkeit auf die landwirtschaftliche Kollektivierung."

Nicht zufrieden ist Ferdinand Mount mit einem voluminösen Band über den abtrünnigen Labour-Politiker Roy Jenkins. Besprochen werden außerdem Nigel Osbornes Stück "The Piano Tuner" am Linbury Theatre und zwei Bücher, die den Konsum in seiner politischen Bedeutung ausleuchten.

Nouvel Observateur (Frankreich), 22.10.2004

Mit großem Bahnhof wird "Un long dimanche de fiancailles", der neue Film von Jean-Pierre Jeunet ("Delicatessen", "Die wunderbare Welt der Amelie") vorgestellt. Es handelt sich dabei um die Verfilmung eines Romans des französischen (Krimi) Schriftstellers Sebastien Japrisot alias Jean-Baptiste Rossi (erscheint unter dem Titel "Die französische Verlobte" demnächst im Aufbau-Verlag). Die Geschichte erzählt von fünf jungen Soldaten, die sich im Ersten Weltkrieg selbst verstümmeln, um den Deutschen zu entgehen und für tot gehalten werden. Die Verlobte des einen, Mathilde (erneut gespielt von Audrey "Amelie" Toutou), weigert sich allerdings, an den Tod ihres Geliebten zu glauben.

Im Gespräch berichtet Jeunet über seine Motive, diesen Stoff zu verfilmen und bekennt, dass ihn bei Japrisot vor allem "die Fantasie in diesem Horror" fasziniert habe. Über die Umsetzung von Japrisots Bildern in seinem Film erklärt er: "Ich habe mit meinem Team noch einmal die gleichen Recherchen angestellt wie Japrisot, als er das Buch schrieb, und wir sind natürlich auf dieselben Dokumente gestoßen. Zum Beispiel dieses halbverfallene Kruzifix am Anfang des Films, an dem Jesus nur noch durch den Nagel durch eine Hand gehalten wird: das ist ein authentisches Foto."

Weitere Artikel: In einem Interview wettert Sean Penn gegen Bush und den Irak-Krieg, berichtet über seinen neuen Film und beichtet seine Befürchtungen und Hoffnungen. Didier Eribon liefert einen Beitrag zur gegenwärtigen Gedenkwelle an Michel Foucault. Besprochen werden ein Essay von Blandine Kriegel über Foucault und das unvollendete Romanmanuskript "Suite francaise" der Schriftstellerin Irene Nemirovsky, das sechzig Jahre nach ihrer Ermordung in Auschwitz veröffentlicht wird.

Economist (UK), 22.10.2004

Der Economist hat sich mit dem Nachruf auf Jacques Derrida ein bisschen Zeit gelassen. Seine Begeisterung für den französischen Philosophen hält sich schwer in Grenzen: "Es hat schon immer einen Markt für Obskurantismus gegeben. Schon Sokrates schimpfte auf die Anhänger des Heraklit von Ephesus aus mehr oder weniger denselben Gründen, aus denen Derridas Kritiker seine unglückseligen Jünger schelten: 'Wenn du einen von ihnen etwas fragst, ziehen sie kleine, rätselhafte Ausdrücke aus ihrem Köcher und schießen einen ab. Und wenn du versuchst, den Gehalt des Gesagten mit Händen zu greifen, wirst du von einer neuen Metapherngarnitur durchbohrt. Mit denen wirst du niemals auch nur irgendwohin gelangen.' So könnte es durchaus sein, dass ein aufgeschlossener Leser, der Derridas schlechten Wortspielen, seiner bombastischen Rhetorik und seinem unlogischen Umherschweifen ausgesetzt wäre, ihn des Scharlatanismus verdächtigen würde. Das würde jedoch zu weit gehen. Er war ein aufrichtiger und gelehrter - wenn auch verwirrter - Mann, der einigen Akademikern und Studenten genau das bot, wonach sie suchten."

Weitere Artikel: "'Ich rufe Sie an um zu fragen, ob Sie vielleicht daran interessiert wären, die Möglichkeit zu erwägen, der Jury des diesjährigen Booker Prize anzugehören.' Dreimal darfst du raten!" Rückblickend vergleicht Fiammetta Rocco, der literarische Herausgeber des Economist, seine Erfahrung als Booker-Juror mit einem Kurs in Kick-Boxen: die Entdeckung einer neuen Konzentration. Der Economist befindet Rocco Buttiglione, den Anwärter auf den Posten des EU-Justizkommissars, nicht für ideologisch, sondern für juristisch untauglich (mehr über den Streit um Buttiglione in unserer Post aus Neapel). Zwar kann der Economist die Ungeduld verstehen, mit der man im Irak den Prozess Saddam Husseins erwartet, doch betont er auch, wie wichtig es ist, dass der Prozess nicht nur fair geführt wird (und daher einer gründlichen Vorbereitung bedarf), sondern auch in der irakischen Öffentlichkeit als fair wahrgenommen wird. Mit Blick auf die nahende Präsidentschaftswahl widmet sich der Economist den politischen Neigungen des hart umkämpften amerikanischen Heartlands. Und schließlich meldet der Economist erstaunliche Entwicklungen aus der Evolutionsbiologie: Alleinstehende Mütter gebären zunehmend Mädchen.

Leider nur im Print zu lesen ist der Aufmacher, zu dem ein herrliches Cover gehört: Ariel Sharon als "Israels ungewöhnliche Friedenstaube".
Archiv: Economist

New York Times (USA), 24.10.2004

In der New York Times ringt Woody Allen um Atem: "Ich schätze George S. Kaufman". Der Dramatiker, Regisseur, Autor und Scherzkeks inspirierte Allen, als der im zarten Alter von acht Jahren in der Bibliotheksklasse auf Kaufmans "You Can't Take It With You" stieß. "Das Stück war nicht nur lustig und voller Vorstellungskraft, auch die Ansammlung dieser herrlich schrägen, im surrealen Chaos zusammenlebenden Gestalten war außerordentlich warm und magisch. Mein Zuhause wurde zwar nicht von nicht ganz so farbenfrohen Exzentrikern bewohnt wie das Heim der Vanderhofs, hatte aber auch seine recht explosive Mischung aus Tanten, Onkeln, Eltern, Großeltern und Cousins, alle in der gleichen Wohnung zusammengepfercht, mit vereinter Erfindungsgabe gegen die Depression ankämpfend. Kaufmans Drama fing unser Tollhaus großartig ein."

Bob Dylans Ausflüge in die Welt des geschrieben Wortes waren, im Gegensatz zum gesungenen, bisher immer schmerzhaft", bemerkt Tom Carson, der deshalb umso überraschter ist ob der "Gerissenheit" der jetzt herausgekommenen "Chronik" des Musikers. "Das grundsätzliche Anliegen des Buches ist mythografisch. Bob Dylan soll als 20. Jahrhundert-Inkarnation des urzeitlichen Amerika dargestellt werden. Einfach vom Schreiben her gesehen ist es einer der besten getürkten 'Huckleberry Finn', den ich je gelesen habe."

Weitere Rezensionen: Für die ausführliche Untersuchung des "Hip" (erstes Kapitel) hat sich John Leland David Kamps uneingeschränktes Lob verdient. Leland sieht die Wurzel des 'Hippen', das mittlerweile auch Firmen wie Apple praktizieren, in der Geheimsprache der schwarzen Amerikaner, die sich gegen die Weißen abgrenzen wollten. Florence Nightingale, die berühmteste Krankenschwester der Welt, verließ sich auf ihre Familie ebenso wie sie sie verabscheute, hat Miranda Seymour aus Gillian Gills "überzeugendem" Porträt (erstes Kapitel) gelernt. Genügend Diskussionsbedarf sieht Scott McLemee nach der Lektüre von Gertrude Himmelfarbs vergleichender Analyse der französischen, britischen und amerikanischen Aufklärung (erstes Kapitel).

Im New York Times Magazine porträtiert Daphne Merkin die Schriftstellerin Alice Munro, die mittlerweile seit einem halben Jahrhundert im Geschäft ist. Merkin glaubt Munros Erfahrungen mit ihrer an Parkinson erkrankten Mutter in fast all ihren Geschichten wiederzufinden. Hier das erste Kapitel von Munros neuem Roman "Runaway". Meghan O'Rourke stellt Munros Kollegin Marilynne Robinson vor, die als Kongregationalistin besonders die Freiheit des persönlichen Gewissens schätzt. In ihrem Werk kommt Robinson deshalb auch immer wieder auf die Forderungen des Gewissens zurück, schreibt O'Rourke.

In der Titelgeschichte erkundet Susan Dominus, inwiefern Ry Russo-Young von der Erziehung durch zwei lesbische Eltern geprägt wurde. Wie auch immer die Wahl ausgeht, die Erben von Newt Gingrich bleiben einflussreich, glaubt James Traub im Kommentar. Und Deborah Solomon spricht mit Kenneth Pollack (mehr), der sich als ehemaliger CIA-Nahost-Experte für die Fehleinschätzungen im Irak entschuldigt und gleich im Anschluss vor neuen nuklearen Gefahren warnt.
Archiv: New York Times