Heute in den Feuilletons

Subtextueller Unterleib

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
06.08.2011. In FR und Berliner Zeitung rauscht Peter Glaser mit wehenden Haaren über die Datenautobahn. Musiker betrachten das Web heute nicht mehr so hoffnungsfroh, schreibt die taz. In der Welt ruft Henryk M. Broder: Hurra, ich habe Wirkung! Die NZZ bringt ein Interview mit Thomas Harlan, das kurz vor seinem Tod geführt wurde. In der SZ erklärt der Shakespeare-Übersetzer Frank Günter, wie auf dem Blankvers ein Gedanke reitet. Die FAZ fragt: Gibt es einen Isländer, der nicht Schriftsteller ist?

FR/Berliner, 06.08.2011

20 Jahre World Wide Web. 20 Jahre erst! Peter Glaser rauscht zur Feier "mit wehenden Haaren" über die Datenautobahn: "Im Netz sind Medien nicht mehr nur Dinge, die wir benutzen - wir leben heute in unseren Medien, auf Facebook, Twitter, in Foren und Blogs. Es sind Pendants zu Straßencafes, Wohngemeinschaften, Clubs. Im Stream sozialer Netze wie Facebook oder Google+ fährt ein Allerlei aus Mitteilungen, Fragen, Ideen, Fotos, Filmen und Links auf Allesmögliche an einem vorbei. Gelegentlich schwanke ich, ob es sich dabei um einen fantastischen fahrbaren Flohmarkt handelt oder um die virtuelle Version des Förderbands in einer Müllsortieranlage."

Weitere Artikel: Sebastian Moll porträtiert Tim Berners-Lee, der gemeinhin als Vater des www gilt. Gerhard Midding schreibt zum 100. Geburtstag des Regisseurs Nicholas Ray.

Besprochen werden die Inszenierung von Molieres "George Dandin" beim Barock-am-Main-Festival, Alix Delaportes Debütfilm "Angele und Tony", ein Auftritt des Jazz singenden Ulrich Tukur in Wiesbaden und Frank Böckelmanns Buch "Risiko, also bin ich" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

NZZ, 06.08.2011

Literatur und Kunst druckt ein Interview mit Thomas Harlan, das Sieglinde Geisel in den Monaten vor seinem Tod im Oktober 2010 mit dem Autor und Regisseur führte. Harlan spricht über seinen Vater Veit, die Shoah und den Tod: "Ich war in Situationen, wo ich beinahe gestorben wäre, und ich weiß, dass das Licht ganz langsam ausgeht. Das ist eigentlich nicht verbunden mit Schmerzen. Das Licht verlöscht - das ist nicht schmerzlich." (Geisel hat eine Webseite für Thomas Harlan eingerichtet, die ausführlich über seine Werke informiert.)

Weiteres: Der Literaturprofessor Karl Wagner erklärt, warum Christoph Ransmayrs "Morbus Kitahara" der am meisten unterschätzte Roman des Autors ist. Besprochen wird die Ausstellung "Living" im Louisiana Museum im dänischen Humlebaek.

Im Feuilleton schreibt Till Brockmann zum 100. Geburtstag des amerikanischen Filmregisseurs Nicholas Ray. Und Brigitte Kronauer erinnert sich in der Reihe "When the Music's Over" daran, wie sie als "höhere Tochter" in den 50ern die Nase über Rockmusik rümpfte.

Besprochen werden eine William-Turner-Ausstellung im Hamburger Bucerius Kunst Forum, zwei Mal "Macbeth" in Salzburg, Fernand Melgars in Locarno gezeigter Dokumentarfilm "Vol special" zur schweizerischen Asylpraxis und Bücher, darunter Ingar Sletten Kolloens Knut-Hamsun-Biografie und Thomas Sautners Roman "Fremdes Land" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 06.08.2011

Ganz im Ton eines Ideologen hämmert uns Georg Diez in seiner neuesten Spiegel-Online-Kolumne Folgendes ein: "Also noch mal zum Mitschreiben: Der Multikulturalismus ist eine Realität, keine Ideologie - eine Ideologie ist dagegen das Reden darüber, dass der Multikulturalismus eine Ideologie sei."

TAZ, 06.08.2011

Der Euphorie über die Demokratisierungsversprechungen von günstiger Musiksoftware und Web 2.0 folgt Katerstimmung, schreibt Stefan Goldmann in einem zunächst niederschmetternden Essay über die aussichtslose Situation heutiger Musiker, nur um am Ende die dialektische Kurve zu kriegen: "Wer sich hinreichend abhebt, langfristig nachlegen kann und die Mittel aufbringt, um die Ignoranzschwelle zu überwinden, hat ein interessantes und reich belohntes Berufsleben vor sich. Alle anderen haben eigentlich keine Chance, jemals gehört zu werden."

Ines Kappert unterhält sich mit dem ägyptischen Schriftsteller Khaled al-Khamissi über den Prozess gegen Mubarak. Der sieht durch den Prozess die kollektive Psyche und das politische System umgekrempelt: "Mubarak und alle Menschen mit Macht und Geld waren für die meisten Ägypter fast wie Heilige. Sie waren unangreifbar, egal was sie machten. Sie durften einfach alles, auch morden; für 70 Prozent der Ägypter war das normal. Das ist vorbei. Jetzt wissen alle, dass jeder angreifbar ist."

Weitere Artikel: In einem sehr schönen Text blickt Detlef Kuhlbrodt auf die dreißigjährige Geschichte des Personal Computers zurück. Tobias Feld beschreibt die Renaissance des Schnupftabaks unter jungen Leuten. Pia Volk stellt die Webseite ihollaback.org vor, ein Frauennetzwerk das gegen sexuelle Belästigungen und Übergriffe vorgeht. Von raunenden Feuilletonexegesen des Breivik-Manifests will Arno Frank unter Verweis auf Schopenhauer, Mao und Gaddafi nicht viel wissen. David Denk unterhält sich mit Johannes Naber, dessen Film "Der Albaner" (mehr) gerade angelaufen ist. Katharina Granzin spricht mit dem libanesischen Schriftsteller Elias Khoury über dessen Roman "Yamo".

Besprochen werden der Film "Our Grand Despair" (mehr) und Bücher, darunter "Faule Kredite", Petros Markaris' Satire auf die griechische Misere (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Aus den Blogs, 06.08.2011

(via BoingBoing) Schönheitsfehler wurden schon immer korrigiert. Früher kostete es nur weniger (sieben Mark für eine Nasenkorrektur):

Welt, 06.08.2011

Henryk Broder antwortet auf seine Kollegen, zuletzt Christian Bommarius, in der FR/Berliner Zeitung (hier), die ihm vorwerfen, dass ihm aufgrund einiger Zitate in Breiviks Manifest die Schuld am Massaker von Utoeya zu geben ist: "Hurra, ich habe Wirkung! Ein paar Worte, die ich beiläufig in einem Interview gesagt habe, haben aus einem Versager einen Mörder gemacht. Und das empört einige meiner Kollegen nicht nur, es treibt sie in den grünen Wortneid... Alles, was sie anstreben, ist Wirkung, Wirkung, Wirkung! Wenn aber das gesagte und das geschriebene Wort die Wirkung hätte, die ihm angeblich innewohnt, dann wäre in Deutschland, der Hochburg des Humanismus, das Nazi-Pack nie an die Macht gekommen."

Weitere Artikel: Marko Martin unterhält sich in Bangkok leider nur für die Leitglosse mit dem Thrillerautor Christopher Moore über Thailand ein Jahr nach dem Krieg zwischen den Roten und den Gelben. Manuel Brug geht mit der Salzburger Festspielpräsidentin Helga Rabl-Stadler Topfenstrudel essen. Lucas Wiegelmann unterhält sich mit Lars Clevemann, der einst Punksänger in Schweden und heute ein Heldentenor in Bayreuth ist.

Besprochen wird eine Max-Slevogt-Ausstellung in Chemnitz.

Für die Literarische Welt liest Fritz J. Raddatz die bisher nur auf englisch erschienenen Tagebücher Christopher Isherwoods aus den sechziger Jahren (Auszug). Elke Heidenreich empfiehlt in ihrer Kolumne Katharina Döblers Roman "Die Stille nach dem Gesang". Jens Malte Fischer erinnert an die Kontroverse zwischen Franz Werfel und dem Hermann Gremliza seiner Zeit, Karl Kraus, die demnächst bei Wallstein dokumentiert wird. Besprochen werden unter anderem Frederick Kempes Studie "Berlin 61" über das Duell Kennedy / Chruschtschow und Richard Cobbs viel gefeiertes Buch über die "Leichen der Seine" (Leseprobe aus "Vorgeblättert")

SZ, 06.08.2011

In der Shakespeare-Übersetzung hat sich vieles verändert, dafür steht nicht zuletzt der Übersetzer Frank Günther. Am Blankvers wollte er aber nie drehen, erklärt er in einem sehr schönen ganzseitiges Interview: "Der Mehrwert des Blankverses besteht darin, dass die relative Formlosigkeit eines Prosasatzes eine musikalische Struktur bekommt. Es gibt mehr Möglichkeiten, den Sinn eines Satzes zu verstehen, wenn er über ein Metrum läuft. Denn der Sinn ist ja nicht nur eine rational-semantische Angelegenheit, die Klänge und Rhythmen der Sprache öffnen Deutungsmöglichkeiten für die emotionale Lage, für die Haltung einer Figur, für ihren subtextuellen Unterleib. Der Blankvers ist eine Trägerwelle, auf der ein Gedanke reitet."

War er's nun oder nicht? In der noch immer nicht bestätigten Causa IM Mahler winkt Willi Winkler ab und kommt nach einer Zusammenfassung von Horst Mahlers kurvenreicher Biografie zu dem Schluss: "Mahler war immer Extrem-Politiker, und schon deshalb kam eine Zuarbeit für die Staatssicherheit für ihn nicht in Frage."

Weitere Artikel: In Ägypten kann man sich Mubaraks bisherige spärliche Äußerungen vor Gericht als Klingelton aufs Handy laden, meldet Sonja Zekri. Khaled al-Khamissi wünscht sich, dass Mubarak einmal im Leben etwas Gutes tut, nämlich damit aufhört, vor der Kamera in der Nase zu bohren. Jonathan Fischer erzählt die Geschichte der vom Goethe-Institut Nairobi angestrengten kreativen Kollaborationen zwischen Berliner Techno-Produzenten und afrikanischen Lokalmusikern. Sarah Thornton skizziert infrastrukturelle Probleme des boomenden Kunstmarkts in China. Henning Klüver hat die italienische Kleinstadt Lamezia Terme besucht, wo das Literaturfestival "Trame" mit einem Mafia-Schwerpunkt auf zwei Mafiamorde im Mai diesen Jahres reagiert.

Burkhard Müller erinnert an den kurzlebigen, nur anhand von Briefmarken dokumentierten Partisanenstaat Valle Bormida auf norditalienischem Gebiet. Frank Nienhuysen schickt Nachrichten aus dem Moskauer Kulturleben. Die wegen Renovierungsarbeiten geschlossene Wiener Kunstkammer bringt zahlreiche Teile ihrer Sammlung in Mannheimer Museen unter, berichtet Hannah Lühmann. Reinhard Brembeck gratuliert dem Flamencogitarristen Manitas de Plata zum 90. Geburtstag. Eva-Elisabeth Fischer ruft der Theaterschauspielerin Jennifer Minetti nach.

In der SZ am Wochenende erinnert sich der Physiker Patrick Illinger daran, wie am CERN das World Wide Web ganz unspektakulär auf die Welt kam. In neun Kapiteln denkt Benjamin Henrichs über das "Schauerdrama vom Aufhören und Weitermachen" nach. Rebecca Casati freut sich tierisch auf ein Konzert des Metal-Urgesteins Judas Priest in Berlin. Alex Rühle unterhält sich mit Isabella Rossellini.

Besprochen werden eine CD mit Brahmsaufnahmen der Sopranistin Christine Schäfer, zwei Wiener Ausstellungen mit Bildern von Hans Makart im Unteren Belvedere und im Künstlerhaus sowie eine Ausstellung mit Bildern von Peter Piller im Kunstverein Braunschweig.

FAZ, 06.08.2011

Im Oktober ist Island Gastland der Frankfurter Buchmesse - ein Anlass für Sandra Kegel, die Insel und dort den populären Schriftsteller Huldar Breidfjörd für Bilder und Zeiten zu besuchen. In ihrem Porträt eines buchvernarrten Landes bringt sie auch stutzen machende Zahlen zum hohen Ansehen unter, das Schriftsteller in Island genießen: Nicht Ehrfurcht sei hierfür der Grund, "sondern innere Verbundenheit. Jeder zweite Isländer versteht sich ja selbst als Romanautor. Nur so lässt sich erklären, dass ein Land mit gerade einmal 320.000 Einwohnern, verteilt auf einer Fläche, die der gemeinsamen Größe von Bayern und Baden-Württemberg entspricht, 42 Verlagen eine Existenz ermöglicht, von denen 35 kommerziell erfolgreich sind."

Weitere Artikel: Nach anderthalb Jahren Umbau eröffnet eine Ausstellung mit Fotos von deutschen Schauspielern das Deutsche Filmmuseum in Frankfurt - die FAZ übernimmt die Hommage an Fotograf Jim Rakete aus dem Ausstellungskatalog. Xaver Oehmen unterhält sich mit dem klassisch ausgebildeten Techno-Produzenten Moritz von Oswald über Techno, Jazz und Klassik. Sonja Hartwig beobachtet, wie Vorpommern an einem Imagewandel arbeitet.

Im Feuilleton macht sich der Schriftsteller David Grossmann Gedanken zur aktuellen Protestbewegung in Israel (mehr), an die er große Hoffnung knüpft: Sie eröffne "mit all ihren Auswirkungen (...) die Chance einer Annäherung zwischen Teilen der Gesellschaft, die seit Generationen nicht mehr miteinander geredet haben - Religiöse und Säkulare, Araber und Juden, Angehörige unterschiedlicher Schichten, die einander fern sind."

Weitere Artikel: Karen Krüger porträtiert fünf tunesische Flüchtlinge in Paris und beschreibt ihr Verhältnis zu Europa. Der Futurologe und Transhumanist Ray Kurzweil lud in New York zum Großevent - und Mitstreiter samt Anhänger kamen zuhauf, berichtet Jordan Mejias: "Das Ereignis zielte auf Popularisierung ab, nicht auf die Enthüllung neuer Sensationen." Jürgen Dollase grübelt über identitäre Probleme von Gourmets und deren Folgen für die gehobene Gastronomie. Gerhard Stadelmaier hat den Nachruf auf die Theaterschauspielerin Jennifer Minetti verfasst. Zur Musik der deutschen Elektropioniere Popol Vuh, die in den Siebzigern mit ätherischen Klängen Filme von Werner Herzog vertonten, lässt es sich ganz ausgezeichnet auf Flokatis kiffen, befindet Rolf Thomas. Für das gerade erschienene CD-Set mit aktuellen Remixes des historischen Materials will er sich dennoch nicht recht erwärmen, deshalb gibt es in diesem Video von 1971 nur guten, reinen Stoff:



Besprochen werden die Filme "Der Albaner" (mehr) und "Die Vaterlosen" (mehr), einige CDs von Klassik bis Hip-Hop, sowie Bücher, darunter Simon Urbans "formidabler" Debütroman "Plan D", in dem die DDR 1990 nicht aufgehört hat zu existieren (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

In der Frankfurter Anthologie widmet sich Heinz Ludwig Arnold Heinrich Heines Gedicht "Auf den Wällen Salamankas":

"Auf den Wällen Salamankas
Sind die Lüfte lind und labend;
Dort, mit meiner holden Donna,
...
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