Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juli 2012

Wir befinden uns in einer vorrevolutionären Situation

31.07.2012. Die taz ist nicht unzufrieden mit der Documenta, sieht aber noch keine Erdbeeren in der Akademie. Laut FR möchte Heribert Prantl seine Beschreibung der Voßkuhlschen Küche als "gleichnishafte Zusammenfassung" verstanden wissen. In der Basler Zeitung erklärt der Feuilletonchef der NZZ, warum er sich keine Gedanken mehr über seine Zukunft macht, seit er 22 ist. In der SZ propagiert Clay Shirky Open-Source-Ideen für die Demokratie. In der FAZ plädieren Sahra Wagenknecht und Michael Hudson für die Entwertung aller Schulden. Auch Ihrer! Und zwei Videos von Chris Marker.

So voller abrufbarer Ideen

30.07.2012. In der Welt mahnt Karl Heinz Bohrer die Journalisten: Man sollte Selberdenken nicht mit dasselbe denken verwecheln. In der NZZ beklagt Slavenka Drakulic den Ausverkauf Venedigs an die Chinesen. In der Jungle World wendet sich Thomas von Osten-Sacken gegen ein Gesetz für Beschneidung. taz und heise.de sehen den neuen Entwurf für ein Leistungsschutzrecht als Klatsche für die Verleger. Im NYR Blog erklärt Emily Eakin, wie ausgerechnet die "Shades of Grey" zum Bestseller avancierten. Im Guardian erzählen Fotografen von Situationen, in denen sie fotografierten  - statt einzuschreiten. Und in Salzburg regiert der Prinz von Homburg.

Die Erwartung der großen Tirade

28.07.2012. Aktualisiert: Laut Spiegel Online liegt im Bundesjustizministerium ein erheblich abgeschwächter Entwurf für ein Leistungsschutzrecht vor. Die NZZ freut sich über eine Gesamtausgabe der Briefe Hemingways, die dieser nie wollte. Die taz erinnert daran, dass sich die Bayern 1972 als die eigentlichen Opfer des Münchner Terroranschlags empfanden. Der Tagesspiegel behauptet: SZ-Autor Heribert Prantl war nie bei Andreas Voßkuhle zum Essen eingeladen. Die SZ porträtiert den einst sehr populären afghanischen Sänger Aziz Ghaznavi, dem die Mullahs die Karriere vermasselten. Die FAZ guckt ins Gefrierfach von Richard Ford. 

Eisesbeherrschungsglut

27.07.2012. Die Debatte über Beschneidung geht weiter: Feridun Zaimoglu hat sie als eine idyllische Szene in Erinnerung, die er sich laut FAZ-Interview auch von der Aufklärung nicht vermiesen lassen will. Der Schwulenaktivist der Piraten, Ali Utlu, erzählt in der Siegessäule, was sie für seine Sexualität bedeutet: Er hat Orgasmusschwierigkeiten. Die SZ erkundet die afghanische Filmszene. Der Bayreuther "Holländer" hebt laut übereinstimmender Auskunft der Feuilletons nicht ab. Alle Feuilletons sind bestürzt über den Tod Susanne Lothars.

Die Aussage des Großajatollahs

26.07.2012. In der FAZ macht sich Robert Spaemann Gedanken über die Ausgestaltung eines Blasphemiegesetzes. Nicht die Beleidigung Gottes, sondern seiner Gefolgschaft will er unter Strafe stellen: Ob er auch den iranischen Musiker Shahin Najafi bestrafen würde, den die Zeit heute porträtiert, lässt er offen.  Saudi Arabien probt inzwischen die Gender Revolution und schickt zwei Sportlerinnen nach London, die auf Twitter aber schon als "Huren" beschimpft werden, berichtet das Blog Global Voices. Die SZ findet den Ökofeminismus der Documenta reaktionär. Auf Spiegel Online schreibt Matthias Matussek einen sehr persönlichen Nachruf auf Susanne Lothar.

Kritik und Selbstkritik an Krücken

25.07.2012. Die FAZ liest kurz vor Bayreuth aktuelle Auseinandersetzungen zum Thema Wagner. Die SZ fürchtet die Entortung Bayreuths durch die Kinoübertragungen - und mehr noch leere Sitze in Bayreuth selbst. In Libération erzählt Friedenspreisträger Boualem Sansal, wie ihm in Algerien zugesetzt wird, seitdem er eine Einladung nach Israel angenommen hat. LA Times und Wall Street Journal streiten über die Frage, wer das Internet erfand. In der taz beschreibt der Männerforscher Matthias Franz den eigentlichen Sinn der Beschneidung.

Etablierung eines Kreditverhältnisses

24.07.2012. Die taz plädiert gegen ein Schnellschussgesetz in Sachen Beschneidung. Wenn das IOC bei der Eröffnung der Olympischen Spiele schon keine Gedenkminute für die Opfer des Attentats in München 1972 abhalten will, dann könnten es doch die Fernsehsender tun, findet Commentary. Götz Aly erläutert in seiner Kolumne, dass die Idee der Vermögensabgabe keineswegs neu ist. Glaubt man der Welt, die über Timbuktu berichtet, dann ist der Islamismus die eigentliche Islamophobie: Sechzehn Mausoleen wollen die Gotteswütigen dort zerstören.

Tonlos, orgelnd und anti-emotional

23.07.2012. Das NYR Blog stellt ein Buch des Architekturhistorikers Jean-Louis Cohen vor, das zeigt, wie wohl sich Architekten der Moderne in totalitären Regimes fühlen konnten. Die SZ gibt einen Überblick über die afghanische Kunst- und Rockszene. Der Perlentaucher hat ein altes ZDF-Video gefunden, das Jean-Luc Godards hässlichsten Moment zeigt. Es wird weiter über Beschneidung diskutiert. Die FAZ veröffentlicht ein Manifest von 140 Ärzten, das die Politik auffordert, nicht vorschnell zu agieren. Der ehemalige FAZ-Feuilletonchef Patrick Bahners wittert in der Debatte einen "religionsfeindlichen Zeitgeist". Ähnlich sieht es die Achse des Guten.

Die Windmühlen der Globalisierung

21.07.2012. Gibt es ein Menschenrecht auf Vorhaut, fragt sich die taz. Die FR rechnet mit dem Dogma des Atheismus ab. Oliver Jens Schmitt sorgt sich in der NZZ, dass Albanien nicht von seiner kommunistischen Vergangenheit loskommt. Bernd Neumann hat eine neue Idee für die Gemäldegalerie, meldet der Tagesspiegel. Die SZ ist beeindruckt von der rasanten Entwicklung der syrischen Kunstszene. Und Frankreich führt einen aussichtslosen Kampf gegen den Import von deutschen Autos und englischen Wörtern, wie die Welt berichtet.

Schamanen der Wirbellosen

20.07.2012. Die FR interviewt den Affenforscher Volker Sommer, der gleichzeitig Theologe ist. GQ macht sich Sorgen um die wirtschaftliche Lage des Guardian. In Le Monde nimmt Thomas Ostermeier die Generation aufs Korn, die ihr Herz links und ihr Portemonnaie rechts trägt. Die FAZ schildert, wie das Putin-Regime die Opposition mit Blasphemievorwürfen unterdrückt.

Wo man nicht schon alles wissen muss

19.07.2012. In der Welt erklärt der Psychologe  Ahmad Mansour, warum er gegen Beschneidung ist. Michael Wolffsohn möchte das Recht auf Beschneidung bewahrt wissen, stellt sie im Deutschlandfunk als religiöse Notwendigkeit aber in Frage. NZZ und SZ machen sich Sorgen um das Treiben der Salafisten in Tunesien. In der Zeit geißelt Paul Auster unterdes den "amerikanischen Dschihadismus" der Tea Party. In der taz spricht Ilija Trojanow mit der nigerianischen Autorin Chika Unigwe über Menschenhandel. Außerdem fragt der Medienberater Thomas Koch in der FAZ: Wo ist der Warren Buffett unter den deutschen Verlegern?

Wie gebannt in einem Zauberkreis

18.07.2012. In der Welt erklärt Olga Martynova, wie angenehm es für Russen ist, in zwei Zeiten zu leben: Man fährt nach Mallorca und erzählt sich am Strand, wie nett es in der UdSSR war. Die FAZ erlag dem hölzernen Gesang der von Andras Schiff dargebrachten Schubertschen G-Dur-Sonate. FR und taz protestieren gegen die Schleifung der Berliner Gemäldegalerie. Überall wird immer noch über das Beschneidungsurteil diskutiert: Die Grüne Eva Quistorp attackiert im Perlentaucher die "postmoderne Religionspolitik" ihrer Parteiführung. Der Rechtsanwalt Thomas Stadler meint in seinem Blog, dass es schwierig werden dürfte, das Recht auf Beschneidung als Gesetz zu formulieren. Aber das soll bis Herbst geschehen, meldet die FAZ.

Unterernährt, gegängelt, gelangweilt und unglücklich

17.07.2012. In der FR erklärt der Kunsthistoriker Jeffrey Hamburger, warum er eine Petition gegen die Schleifung der Berliner Gemäldegalerie lancierte. Die Welt hat nichts dagegen, die alten Meister ins Depot wandern zu lassen: Denn Berlin ist eine Stadt der Moderne. The American Scholar hat mitgeschrieben, was Jorge Luis Borges in seinen späten Jahren über das Lesen sagte. Der Guardian besucht die Buchmesse in Hargeisa, Somaliland. In der FAZ schafft Thilo Sarrazin den Euro ab.

Die Jakobinermütze vom Kopf gezogen

16.07.2012. In der SZ sucht Richard Swartz nach einer Diagnose für Rumänien und erkennt auf "byzantinischen Postmodernismus". Die taz bringt einen Nachruf auf den Rocker als sozialromantische Projektionsfigur und erklärt Frankreichs neues Gesetz gegen Prostitution. In der Jungle World fürchtet Thomas Osten-Sacken, dass eine gesetzliche Verankerung der Beschneidung zu einem neuen Rechtsverständnis in Deutschland führt, nach dem fortan die Priester mitregieren. Edmund de Waal zeigt auf seiner Website seine hübschesten Netsuke, und Celeste Holm beweist ihre Grandezza in "High Society". Eric Schmidt meint in Techcrunch: Das einzig Doofe an selbstfahrenden Autos ist, dass sie sich ans Tempolimit halten.

Aus den Wutnetzen

14.07.2012. In der NZZ sucht Alfred Brendel den historischen Kompromiss zwischen Carl Philipp Emmanuel Bach und Denis Diderot. Die taz ist sich sicher: Dass die Muslime ihre Knaben weiter beschneiden dürfen, haben sie den Juden zu verdanken. Die New York Times bereitet die Meldung um syrische Massaker mit Hilfe sozialer Medien auf. Der ehemalige FAZ-Kunstkritiker Eduard Beaucamp ist entsetzt über die geplante Schleifung der Berliner Gemäldegalerie. Aber schließlich ist die neue Pinakothek ja auch marode.

In der Hand der Mehrheit

13.07.2012. In der FR erklärt Martha Nussbaum, warum sie Blasphemiegesetze ablehnt. Zeitungen sind oft auch deshalb wenig innovationsfreudig, weil ihre Chefs der Rente entgegendämmern, meint Raju Narisetti vom Wall Street Journal in themediabriefing.com. Die Deutschen werden die Griechen als Faulenzer am Strand beschimpfen, und die Griechen werden den Deutschen ihre Wirtschaftskrise vorwerfen - schrieb Arnulf Baring im Jahre 1997. Auch der Regisseur Charlie Kaufman finanziert seinen nächsten Film per Kickstarter, meldet Engadget. In NZZ und SZ wird weiter über das Kölner Beschneidungsurteil gestritten.

Pullover trag ich nur im Winter

12.07.2012. Jezebel lernt 99 Lektionen aus Jay-Z' Song "99 Problems" (naja, oder zumindest eine). Außerdem informiert das Blog: Facebook ist out. Letters of Note veröffentlicht den letzten Brief Marie-Antoinettes. Im Standard erklärt Boualem Sansal, warum der Nahostkonflikt kein Kolonialkrieg ist. In der taz erzählt Ingrid Caven, wie sie sich aus dem Banne RWFs befreite. In der FAZ verzichtet Kathrin Schmid auf ihr posthumes Urheberrecht. Die Zeit erklärt auf einer Seite sämtliche fünfzig Schattierungen von Grau zu Müll und wendet sich dem literarischen Kanon der vierziger Jahre zu.

An die Stelle des Kaisers trat die Partei

11.07.2012. Die FR liest Jonathan Littells große Reportage aus Syrien, die zuerst als Ebook herausgegeben wird. Wertvoll an der Beschneidung ist, dass sie auch künftige Atheisten zu Juden macht, findet Doron Rabinovici in der SZ. Der rumänische Präsident Traian Basescu wurde gekippt, weil er eine unabhängige Justiz wollte und die Regierung nicht, erklärt der in Bukarest lebende Autor Jan Koneffke in der taz. In der NZZ aber spricht Adolf Muschg: "In der Minderheit  verbirgt sich die Seele der Demokratie."

Riesiges Gratis-Angebot

10.07.2012. In der NZZ schlägt Mircea Cartarescu Alarm: In Rumänien schafft die Regierung gerade die Demokratie ab. In der FAZ erklärt der Sammler Heiner Pietzsch, warum in Berlin alles fließen soll: auch die Moderne in die Gemäldegalerie. Statt über Urheberrechtsfragen sollte die Gesellschaft über die exorbitanten Kosten wissenschaftlicher Zeitschriften diskutieren, meint der Medienrechtler Thomas Hoeren in Brandeins. Margaret Atwood erklärt im Guardian, wie sie ihre Angst vor Werwölfen überwand.

Ohne Zustimmung des Zensurapparats

09.07.2012. In der NZZ wünscht sich die ägyptische Autorin Mansura Eseddin echte revolutionäre Kunst: kühn, voranstürmend und überraschend. Das hätten sich auch die Beobachter des Bachmann-Wettbewerbs gewünscht. Der erste Preis für Olga Martynova ging aber okay. Die internationale Kunstszene in China lernt gerade die Bedeutung des Spruchs "Schlachte das Huhn, dann kreischen die Affen", informiert die Welt. Die FAZ porträtiert den Danziger Lyriker und Informatiker Piotr Czerski, der illegale Kopien als kulturelles Erbe des Samizdat versteht.

So ein wenig Zivilcourage

07.07.2012. Caravaggio in Mailand? Gelungene Kunstaktion, findet die FR. In der Welt sucht Ruth Klüger die Wahrheit bei Ingeborg Bachmann. Die NZZ fürchtet einen intellektuellen und kulturellen Kahlschlag in Rumänien. In der FAZ schwelgt Georg Stefan Troller in Erinnerungen an seine Buchbinder-Ausbildung. In der SZ gibt sich Willi Winkler der rohen Kraft der Rolling Stones hin, und Richard Beck fordert die Abschaffung der Ehe. Und Foreign Policy ist auf den Twitterstream zur amerikanischen Revolution gestoßen.

Der Sommer ist zu etwas Metaphorischem geworden

06.07.2012. Die FAZ liest den prüden Porno "Shades of Grey". Die Welt wundert sich über deutsche Literaten, die sich über Ruth Klüger wundern, weil sie ihre Rede beim Bachmann-Wettbewerb vom Ebook-Reader abliest. Außerdem lotet Peter Singer die Grenzen der Religionsfreiheit aus. Die taz fragt: Wie können sich Musiker im Zeitalter des Internets noch durchwurschteln. in der NZZ will der libysche Politiker Ahmed Shebani den Koran und den Säkularismus versöhnen.

Higgs!

05.07.2012. Die NZZ hat die Manifesta besucht, bei der es mal nicht um Kunst und Kohle, sondern um Kohle und Kunst ging. Netzpolitik feiert die Verhinderung des Acta-Abkommens, und die taz versichert an die Adresse von FAZ und SZ, dass Demokratie kein Shitstorm ist. In der Welt versichert der Chef der Berliner Nationalgalerie, dass er als Museumsdirektor schon alles richtig macht. In der Zeit besteht besteht der Philosoph Robert Spaemann auf die Freiheit der Eltern zur Beschneidung der Kinder. In der FR will der Grüne Omid Nouripour Aufklärung statt Verbot. Ach ja, und mit Leistungsschutzrecht wird das wohl nix mehr vor dem Sommer.

Künftig wird erst diskutiert

04.07.2012. In der taz erinnert sich Najem Wali an die erste Begegnung mit der Folter: Das war, als der Arzt ihm die Vorhaut abschnippelte. Es gibt keine empirischen Beweise für eine Traumatisierung durch Beschneidung, versichert der Theologe Thomas Lentes in der FR. In Wired erinnert Clay Shirky an das Versagen der Medienindustrie nach dem Internetcrash vor zehn Jahren. In der FAZ spricht Karl Heinz Bohrer über seine Jugend in den Dreißigern. Die SZ macht sich Sorgen um die Berliner Gemäldegalerie. Und in der NYRB beschwört Tim Parks den Geist Hamlets in der Literatur des letzten Jahrhunderts. 

Und die Ukrainer lächeln selten

03.07.2012. Die Welt stellt ein Videospiel vor, das seine Teilnehmer dazu bringt, sich für ihre Gräueltaten zu schämen. In der FR warnt Micha Brumlik: Wenn der deutsche Staat nicht einen rechtlichen Rahmen für die Beschneidung schafft, muss er zur Strafe laizistisch werden. In der SZ lehnt der Psychoanalytiker Wolfgang Schmidbauer Beschneidung dagegen ab. Die taz freut sich über die Wiederentdeckung Jean Gremillons. Und die FAZ zweifelt: Wie fest ist Martin Mosebachs Glaube?

Die armen Wagner-Regisseure

02.07.2012. In der NZZ meldet György Dalos: In Ungarn werden Freiheitsplätze jetzt nach Reichsverweser Horthy umbenannt. In der Welt führt Dalos seine Vorwürfe weiter aus. In der FR nennt Claus Leggewie die Forderung Martin Mosebachs nach Wiedereinführung einer religiösen Zensur frivol und schlägt statt dessen einen freiwilligen Verzicht auf böse Gedanken vor. Die FAZ hat einen Piraten gefunden, der in der Gema ist. Und der vierte Teil der "Ice Age"-Serie mit der Oma von Faultier Sid kommt besser an als der vierte Teil des Münchner "Rings" mit Hagens Callgirls.