Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Juli 2011

Neue, wilde, wirre Dinge

30.07.2011. Wer Henryk Broder für Utoeya verantwortlich macht, muss auch einknickenden Politikern für den Anschlag auf Kurt Westergaard die Schuld geben, meint Hamed Abdel Samad in der Welt. Und Clemens Setz feiert den Comic-Romancier David Mazzucchelli. In der FAZ beklagt Peer Steinbrück, was von Europa übrig ist: "Treffen von mehr oder wenigen alten Männern plus einer Frau." In der NZZ preist Bora Cosic das straflose Laster des Lesens. Die FR huldigt Giorgio Vasari, der uns die Lust an der Macht, dem Denken und der Schönheit zeigte. Und Nicolas Stemanns Salzburger "Faust"-Inszenierung macht die Kritiker ratlos, aber auch glücklich.

Europa, der Westen selbst

29.07.2011. Die Debatte um das norwegische Attentat geht weiter - mit unterschiedlichsten Standpunkten: Es ist falsch, dem Massaker überhaupt einen Sinn zuzuschreiben, meint Simon Jenkins im Guardian. David Gelernter weigert sich in der FAZ, Breivik als Geistesgestörten zu sehen. In der Welt erzählt der Historiker Timothy Snyder, wo die Bloodlands liegen. Die NZZ beobachtet postrevolutionäre Depression in Tunesien. Und der Economist erkennt dein Gesicht.

Zarte Archaik

28.07.2011. In der Welt staunen Monika Maron und Necla Kelek über die Behauptung, der Attentäter von Utoeya komme aus der "Mitte der Gesellschaft". In der FR macht Jostein Gaarder statt dessen die extreme Rechte für das Attentat verantwortlich. Jungle World wiegt sich im Rhythmus des neuesten Benefizsongs von One World: "Free Palestine!". Und in Life bewerben sich hundert schwarze Katzen auf eine Filmrolle neben Peter Lorre.

Regale, Labore, Handgestricktes, Videos und Schleim

27.07.2011. Die NZZ findet im  Programm des norwegischen Attentäters nicht nur Hass auf den Islam. Auch in allen anderen Zeitungen wird weiter über die Tat debattiert. Die einen ziehen eine Linie von der "Islamkritik" zum Massaker, die anderen warnen vor genau dieser "Kampfvokabel". Einigkeit besteht darin, dass der Täter nicht im Wahn handelte. Der Bayreuther "Tannhäuser" sorgt weithin für Befremdung: Schwer Verdauliches begibt sich hier.

Erlebte Gewalt

26.07.2011. Die SZ fühlt sich durch Breiviks Tat an skandinavische Krimis mit ihrer ausgemalten Mordlust und Verschwörungstheorien erinnert. Nicht bei bei ihm, sondern bei Mohammed Atta hat sich Breivik inspiriert, schreibt Henryk Broder (der in Breiviks Manifest zitiert wird) in der Welt.  Die taz ruft die Öffentlichkeit auf, sich von der "bedrohlich mittig gewordenen Islamophobie" zu distanzieren. Die FR publiziert die ungehaltene Salzburger Rede des Gaddafi-Preisträgers Jean Ziegler. Nachtkritik bringt eine erste Kritik des Bayreuther "Tannhäusers". Mit dem Duft von Biogas.

Extreme Grausamkeit

25.07.2011. War es die Tat eines Wahnsinnigen oder gerade nicht? SZ und FAZ sind sich in ihren ersten Kommentaren uneins. In der Welt bekennt der norwegische Dramatiker Jon Fosse seine Fassungslosigkeit. Berliner Zeitung und Spiegel Online haben das 1500-seitige Manifest Anders Breiviks gelesen. Alle Zeitungen bringen Nachrufe auf Amy Winehouse, die im Alter von 27 Jahren gestorben ist.

Von einem Punkt aus

23.07.2011. Über neunzig Tote: Die schockierenden Meldungen aus Norwegen überschatten alles. Wir bringen einige aktuelle Links zu Twitter und norwegischen Medien. Woran liegt es, dass die Deutschen noch keine Ebooks lesen, fragt die Welt: am geliebten Buch? Oder am ungeliebten Ebook? Die Berliner Zeitung schickt eine Reportage aus der stillen und höchst bizarren Diktatur Turkmenistan. Alle bringen Nachrufe auf Lucian Freud und feiern seine mystische Identifikation von Farbe und Fleisch.

Die Welt will ein Wagnerwunder

22.07.2011. Die NZZ diagnostiziert grundsätzliche Lesebereitschaft des Publikums trotz deutschsprachiger Avantgardelyrik. In der Berliner Zeitung wehrt sich der osteuropäische Schriftsteller Oleg Jurjew gegen falsche Verallgemeinerungen. Keine Experimente mehr: Google schließt Google Labs, meldet Slate. In der Welt dankt Sebastian Baumgarten den Bayreuther Möglichmachern. Die NYRB bringt eine lyrische Hommage John Updikes auf Lucian Freud.

Großartige Storys, die sich als falsch herausstellen

21.07.2011. Verbesserte der Hechtsprung von Murdochs Ehefrau Wendi Deng das Bild der chinesischen Frau?, fragen Medien und Leser in England und China. In der Schweiz bekommen Altersresidenzen ein Gesicht, berichtet die NZZ. Im Freitag unterbreitet Jean-Luc Godard einen Lösungsvorschlag für die Eurokrise. Aber auch er kommt nicht ohne Google aus. Alle widersprechen Frank Schirrmacher. Im Guardian gedenkt Douglas Coupland Marshall McLuhans. Und wie immer hip, hot and holy: Die Zeit.

Harte Glieder und gespannte Ruten

20.07.2011. In der Berliner Zeitung urteilt der Historiker Fritz Stern äußerst streng über die mangelnden Führungsqualitäten Merkels und Sarkozys im Moment der Euro-Krise. Ebenfalls in der Berliner Zeitung beklagt der Urbanist Klaus Brake die architektonische Fantasielosigkeit des Entwurfs für das Humboldt-Forum. In Frankreich schlägt die grüne Präsidentschaftskandidatin Eva Joly die Abschaffung der Militärparade zum 14. Juli vor. Frankreich echauffiert sich, aber zu Unrecht, findet rue89. Die Welt ist entsetzt über eine Jugend, die sich Casper zum Idol kürt. Die FAZ warnt vor der automatischen Gesichtserkennung.

Im Aschram seiner Tante Alice

19.07.2011. Die SZ  durchschreitet die drei Schluchten des Liao Yiwu und chilled out im Low Theory Club. Die taz interviewt den Historiker Christian Gerlach zu seinen Untersuchungen extrem gewalttätiger Gesellschaften. Und wenn wir schon unser Gedächtnis ans Internet ausliefern, so Frank Schirrmacher in der FAZ, dann sollten wir es wenigstens mit staatlich approbierten Maschinen durchsuchen. Peter Glaser ist aber in Spiegel Online ganz beschwingt von den mnemotechnischen Potenzialen des Netzes.

Mürbe Büsten Wiener Damen

18.07.2011. Der Künstler Nikos Veliotis  erklärt in der taz, wie man in Griechenland einen Job im öffentlichen Dienst bekommt. In der NZZ staunt der Iranist Iranist Reza Hajatpour: Wer hätte je gedacht, dass Achmadinedschad antiklerikale Kräfte um sich schart? Netzwertig fragt: Gibt es Leben auf Google Plus? Der Guardian hat schon mal ein paar Fragen für die Anhörung der Murdochs und Rebekah Brooks' vorbereitet. Die FAZ plädiert für Hans Makarts prächtige Salonkunst.

Simples Katalogsystem

16.07.2011. Kunst in Zeiten der Globalisierung - alles ein Einheitsbrei? In der FAZ untersucht das Tim Parks für die Literatur, die NZZ wirft einen Blick auf die Kunst- und Theaterszene. In der FR erklärt Liao Yiwu die Spielregeln im Gefängnis China. Die SZ staunt über die vorindustrielle Stadt, in der der Pharmakonzern Novartis künftig forschen will.

Gedenkhäufchen

15.07.2011. In einem Punkt ist sich Henryk Broder in der Welt mit Egon Flaig einig: Der Holocaust war nicht singulär. Rupert Mudoch wendet sich in seinem Wall Street Journal gegen "Lügen", und der Guardian meldet, dass das FBI wegen der Abhörung von Opfern des 11. September  Ermittlungen aufnimmt.  Springer-Manager Christoph Keese erklärt dem ZDF-Blogger Markus Hündgen, warum er kein Problem mit Videos bei bild.de hat. Und Mario Sixtus erklärt Christoph Keese, wie Creative Commons funktionieren. In der SZ fürchtet der tunesische Regisseur Fadhel Jaibi nach dem Regen die Traufe. In der taz protestiert Dieter Hoffmann-Axthelm gegen German Angst. 

Etwas explodiert

14.07.2011. Der Guardian feiert das Ende einer "revolutionären Woche". In poynter.org scheut Guardian-Redakteur Ian Katz nicht den Vergleich mit der Watergate-Affäre. Auch in Deutschland wird gegen die Boulevardpresse gekämpft: Die Berliner Zeitung meldet, dass die ARD angeblich eine heimliche Equipe zusammenstellt, um auf eine kommende Bild-Serie über die Anstalten zu antworten. Hintergrund: der Streit um die Tagesschau-App.  Fast alle Zeitungen feiern Asghar Farhadis Berlinale-Sieger "Nader und Simin" als Meisterwerk - nur die FR findet den Film ein wenig regimefreundlich.

Halbkriminell und verlogen

13.07.2011. Die FAZ erinnert an den Historikerstreit vor 25 Jahren und bringt eine wilde Polemik des Althistorikers Egon Flaig, der Habermas vorwirft, Zitate manipuliert zu haben, und überhaupt nicht einsieht, warum er den Holocaust "einzigartig" finden soll. Die New York Times bringt eine Verteidigung Rupert Murdochs und eine Verteidigung der Journalisten, die die Machenschaften seiner Medien bloßstellten. In der FR spricht Asghar Farhadi über Zensur im Iran und Wohlwollen im Westen.

Pathologie mit kritischem Potenzial

12.07.2011. Im Guardian fordert der Kapitalismuskritiker George Monbiot nach der Murdoch-Affäre einen hippokratischen Eid für Journalisten. Tina Brown fürchtet in The Daily Beast, dass der alte Fuchs zu schlau ist, um sich BSkyB noch abnehmen zu lassen. Aber vielleicht gibt er das Zeitungsbusiness auf, überlegt Jeff Jarvis. Die FR erzählt, wie die Banken amerikanische Zeitungen zerstören. In der Welt erzählt Liao Yiwu, wie er aus China herauskam: zu Fuß. Die taz laboriert an Future Fatigue. Die NZZ lauschte berndeutschen Vokalreihen in Leukerbad.

Verquickung und Verstrickung

11.07.2011. Der Bachmannpreis für Maja Haderlap löst geteilte Reaktionen aus: Rückwärtsgewandt findet die taz die Erzählung der 50-jährigen Autorin. Die Welt sieht's ähnlich. Die SZ winkt bei den Klagenfurter Texten mehr oder weniger ab, aber sie mag die Veranstaltung. Die FAZ fragt: Ist der New Yorker "Salvator Mundi"  tatsächlich von Leonardo da Vinci?

Rebellion gegen die gerade Linie

09.07.2011. Die NZZ genießt in den Wohnkugeln des Antti Lovag den Vorteil der Kurve. Die Welt betreibt mit Martin Walser Reliquienkult. Die FR stellt Günter Grass die Gegensystemfrage. In der taz erklärt Marina Abramovic, warum die Performance-Kunst blüht. In der FAZ erzählt Walter Kappacher, wie Samuel Beckett 1925 von einer Motorradwettfahrt mit seiner A.J.S. träumt.

Im Angesicht totaler Sinnlosigkeit

08.07.2011. Der chinesische Autor Liao Yiwu emigriert nach Deutschland. In Spiegel Online ruft er die deutschen Intellektuellen auf, sich für chinesische Dissidenten einzusetzen. Der Guardian-Chefredakteur Alan Rusbridger benennt den Helden der Stunde: Nick Davies, der in einem Buch zuerst die Abhörskandale in der britischen Presse aufdeckte. Jeff Jarvis notiert: Nicht ein Internet-, sondern ein Presseunternehmen ist verantwortlich für eine der übelsten Datenschutzverletzungen der Geschichte.  In der FR kritisiert Richard J. Evans die Studie "Das Amt". In der FAZ feiert Clemens J. Setz  "The Pale King", David Foster Wallaces nachgelassenen Roman.

Ständige künstlerische Provokation

07.07.2011. Verzettelt und verlinkt: Der Freitag feiert die Internetausgabe der Tagebücher von Erich Mühsam. In leistungsschutzrecht.info fragt der FDP-Politiker Jimmy Schulz: Wer soll noch Zeitung lesen, wenn man für Zitate zahlen muss? In der Welt fragen die Feministin Naomi Wolf und Henryk Broder : Schadet Pornografie dem männlichen Hirn? Die Zeit verordnet subventionierte Hochkultur. Dramaturg Bernd Stegemann verordnet in der Berliner Zeitung subventioniertes Stadttheater.

Wie weich und köstlich sie sind

06.07.2011. Der Bachmann-Wettbewerb wirft seine Schatten voraus: In der taz erfahren wir einiges über den Ablauf, in der Welt über das spaßige Drumherum. Meedia weiß, warum Auflagen und Werbeerlöse der Zeitungen sinken, aber die Einnahmen nicht. Die FAZ fragt: Hat sich der berühmte Historiker Karl Bosl die Taten eines Widerstandkämpfers zugeschrieben? Die NZZ erzählt die Kulturgeschichte des Kusses. Die SZ gründet eine neues Ressort der Human Studies: die Animal Studies. Zum Tod Cy Twomblys bringen wir einen Film der Tate Gallery.

Die Furien der Wirklichkeit

05.07.2011. Die Welt ist nicht froh über das Phänomen der Ebooks, die einfach ohne die Approbation der Verlage entstehen. Außerdem ist der Sammler Heiner Bastian entsetzt über die Berliner Kunstleistungsschau "Based in Berlin". Die NZZ berichtet über eine Initiative aus dem Umkreis des "Heidelberger Appells" gegen die DFG. In der taz fragt Micha Brumlik: Gibt es unter Christen mehr Rechtsextreme als unter Konfessionslosen? Die FAZ will ihr Haus nicht vermummen.

Containergerechtigkeit

04.07.2011. Die NZZ schlendert durch die Welthauptstadt des Designs und stellt Paola Ivana Suhonen und andere Newcomer vor. Die Welt fragt: sollen Amerikaner beschnitten werden? Die FAZ ist höchst beeindruckt von Messiaens Mysterienspiel "Saint Fracois d'Assise" in der Münchner Inszenierung Hermann Nitschs. In der taz schimpft Richard Stallman auf die Verwerterindustrien. Außerdem: Hoffnung für Eichborn.

Die Verführung der Witwe Anne

02.07.2011. In der NZZ bewundert  Abdelwahab Meddeb, die tunesischen Revolutionäre. Und Jürgen Habermas erinnert sich dankbar der jüdischen Heimkehrer, die Deutschland aus der drückenden Stimmung der Nachkriegszeit befreiten. In der Berliner Zeitung ärgert sich Petros Markaris über seine Landsleute und  ihre Sympathie zu den Deutschen. Die FR zweifelt an den Perspektiven des Islams. Die FAZ berichtet über eine neue Protestform in Weißrussland: Man geht schweigend durch die Städte und applaudiert. In der Welt erklärt die Lyrikerin Nora Gomringer den Unterschied zwischen "luschtig" und"interessant". 

Nur Freaks fühlen sich permanent untervernetzt

01.07.2011. SZ, FR und Welt verfolgten auf Schloss Elmau eine unter anderem mit Daniel Cohn-Bendit und Jürgen Habermas besetzte Tagung zur Frage des Antisemitismus in der deutschen 68er-Bewegung.  Die NZZ hat einen Dokumentarfilm von Nicolae Margineanu über die rumänischen Foltergefängnisse nach dem Krieg gesehen. Die taz glaubt nicht an Google Plus. Und die neueste Sensation: Der Prozess gegen Dominique Strauss-Kahn dürfte in sich zusammenbrechen, das Zimmermädchen hat gelogen, meldet die New York Times.