Magazinrundschau

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Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
19.11.2019. The Atlantic betrachtet von allen Seiten die Spaltung Amerikas. The Intercept beugt sich über iranische Geheimdokumente zum Irak und stellen fest: der Irakkrieg hat nur Teheran genützt. Die New York Review of Books feiert die Erhabenheit der Malerin Vija Celmins. In Eurozine beklagt John Palattella den Niedergang des amerikanischen Essays, dessen Versuchsform strikter Ideologietreue weichen musste. In Elet es Irodalom fragt sich der Rechtssoziologe Zoltán Fleck, was nach Orban kommen kann. Die New York Times berichtet über die systematische Verfolgung der Uiguren.

The Atlantic (USA), 19.11.2019

Amerika - wie ja eigentlich auch der Rest der Welt - ist zutiefst gespalten. The Atlantic spricht in seiner neuen Ausgabe von einem Bürgerkrieg. Ganz soweit ist es noch nicht, aber Yoni Appelbaum macht sich ernsthafte Sorgen. Einen der Hauptgründe für die Unversöhnlichkeit der politischen Lager sieht er im demografischen Wandel: Die Weißen werden in absehbarer Zeit nur noch eine Minderheit darstellen. Das ist vielen Weißen egal, aber vielen eben auch nicht: "Der Politikwissenschaftler Adam Przeworski hat erklärt, dass demokratische Institutionen, wollen sie überleben, 'allen relevanten politischen Kräften eine Chance geben müssen, von Zeit zu Zeit im Wettbewerb der Interessen und Werte zu gewinnen'. Aber, so fügt er hinzu, sie müssen noch etwas tun, das ebenso wichtig ist: 'Sie müssen selbst das Verlieren in einer Demokratie attraktiver machen als eine Zukunft mit undemokratischen Ergebnissen.' Dass Konservative - obwohl sie derzeit das Weiße Haus, den Senat und viele Regierungen der Bundesstaaten innehaben - den Glauben an ihre Fähigkeit verlieren, in Zukunft Wahlen gewinnen zu können, ist sehr schlecht für das reibungslose Funktionieren der amerikanischen Demokratie. Noch beunruhigender ist es, dass sie glauben, dass die Wahlverluste zu ihrer Zerstörung führen würden."

Ach was, die Zeiten waren schon mal viel gefährlicher, wischt Adam Sewer diese Befürchtungen vom Tisch. Er sieht eine ganz andere Gefahr: Dass die Angst vor Gewalt zu schwächlichen Kompromissen führt, unter denen dann Schwarze und Latinos zu leiden haben. Als Beispiel nennt er die Zeit nach dem amerikanischen Bürgerkrieg. Damals setzten die Demokraten (die damals auf der Seite der Sklavenhalter standen) alles daran, Schwarze weiter unter der Fuchtel zu halten. Die Republikaner hielten anfangs dagegen, gaben dann aber - um des lieben Friedens willen - in wesentlichen Punkten auf. "Die Kapitulation der Republikaner stellte die Zivilität zwischen den großen verfeindeten Parteien wieder her, aber der politische Burgfrieden verbarg einen entsetzlichen Anstieg der Gewalt gegen befreite Sklaven. 'Während sich die Parteien eindeutig aus der Konfrontation miteinander zurückziehen, gab es eine Entfesselung massiver suprematistischer weißer Gewalt im Süden gegen Afroamerikaner und eine systematische Kampagne ihrer Entrechtung im Süden', erklärte mir die Historikerin Manisha Sinha. 'Das ist eine Zeit, in der die weiße Vorherrschaft praktisch zu einer nationalen Ideologie wird.'"

Einen ganz anderen Punkt macht die aus ärmlichen ländlichen Verhältnissen stammende Historikerin Tara Westover im Interview: Die Spaltung der Menschen verläuft vor allem zwischen Stadt und Land. In den Städten hat die Digitalisierung neue Jobs und Reichtum geschaffen, auf dem Land wurden die alten Industrien demoliert, aber es entstand nichts Neues. "Das sieht man sogar auf der Ebene der Bundesstaaten. Nehmen wir die zwazig ärmsten Staaten, nach mittlerem Haushaltseinkommen, und Sie werden sehen, dass 18 von ihnen sich für Trump entschieden haben. Wenn Sie die 10 reichsten Staaten nehmen, gingen neun an Hillary Clinton. Unsere wirtschaftliche Spaltung verläuft nun fast perfekt entlang unserer politischen Spaltung." Es sei also "schwierig, die Idee zu verteidigen, dass die Demokraten im Allgemeinen die Stimme der wirtschaftlich Entrechteten sind. Vor kurzem haben das Brookings Institut und das Wall Street Journal festgestellt, dass in den Vereinigten Staaten die von Demokraten vertretenen Distrikte für zwei Drittel unseres nationalen BIP verantwortlich sind. Denken Sie einfach mal darüber nach. Es ist unbequem, aber es könnte an der Zeit sein zuzugeben, dass wir als Land einen Kampf zwischen den Besitzenden und den Habenichtsen führen und das viele von uns auf der linken Seite zu den Besitzenden gehören."
Archiv: The Atlantic

Magyar Narancs (Ungarn), 17.11.2019

Im Interview mit Tamas Soos setzt der Filmemacher und Theaterregisseur Szabolcs Hajdu ("Bibliotheque Pascal", 2010 und "It's not the time of my life", 2016) keine Hoffnungen mehr in das Filmfinanzierungssystem Ungarns: "Ohne Konsultation, arrogant zwang man uns ein System auf, so wie es gegenwärtig in allen Bereichen des Lebens hierzulande passiert. Später wollte sich der Filmfonds mäßigen, doch die Zerstörung der Autonomie der Branche und damit der Verlust der Würde der Mitwirkenden war irreparabel. (...) Es gab große Debatten, ob Gegenwehr eine Chance hätte. Ich denke, dass sie am Anfang sinnvoll gewesen wäre, denn es gab noch kein System, es gab eine Gemeinschaft, eine Art Kraft und eine kritische Masse, doch das drehte sich ziemlich schnell und alles zerstreute sich. Die meisten glitten wie Metallspäne zum Magnet. Heute denke ich, dass es vollkommen sinnlos ist, mit den Vertretern der Macht Armdrücken zu veranstalten. ... Wenn es keine Partner gibt, dann muss man es alleine machen. So sieht es jetzt aus. Wir machen unabhängigen Film und unabhängiges Theater."
Archiv: Magyar Narancs

Intercept (USA), 18.11.2019

James Risen, Tim Arango, Farnaz Fassihi, Murtaza Hussain und Ronen Bergman berichten in einem gemeinsam für The Intercept und die New York Times recherchierten Text über geleakte Geheimdokumente, die Teherans Aktivitäten im Irak aufdecken: "Das Material bietet einen detaillierten Einblick in Teherans aggressive Einmischung in irakische Belange und in die Rolle von Qassem Soleimani, dem Kommandeur der al-Quds-Einheit der Iranischen Revolutionsgarde. Es ist Teil eines Archivs von Telegrammen des iranischen Geheimdienstes... Die einzigartigen Dokumente zeigen Teherans Einfluss im Irak und beschreiben die jahrelange Kleinarbeit iranischer Agenten, die irakische Führung zu benutzen, für die USA tätige irakische Agenten umzudrehen und jeden Aspekt des politischen, wirtschaftlichen und religiösen Lebens im Irak zu infiltrieren. Viele der Dokumente beschreiben einen Spionagealltag, der sich wie ein Agententhriller liest. Treffen in dunklen Gassen, im Schutz von Geburtstagsfeiern oder Jagd-Gesellschaften. Informanten lauern am Bagdad Airport, schießen Fotos von US-Soldaten und registrieren Militärflüge der Koalition. Agenten fahren Umwege zu Treffen, um der Überwachung zu entgehen. Quellen werden mit kleinen Geschenken, Gewürzen und Parfum entlohnt, irakische Offizielle bestochen … Der Report zeigt erstmals das ganze Ausmaß der iranischen und amerikanischen Aktivitäten im Irak und beleuchtet die komplexe Innenpolitik des Irans, wo miteinander konkurrierende Fraktionen sich mit den gleichen Herausforderungen herumschlagen müssen wie die Amerikaner, die nach ihrem Einmarsch versuchten, den Irak zu stabilisieren. Schließlich zeigen die Dokumente, wie der Iran die USA im Kampf um Einfluss beständig übertrumpfte … Intercept hat über verschlüsselte Kanäle mit der Quelle der Dokumente kommuniziert, die ein Treffen mit Reportern ausschlug. Die Quelle erklärte, das Ziel der Veröffentlichung sei es, 'die Welt über die Aktivitäten des Iran in meiner irakischen Heimat in Kenntnis zu setzen.' ... In gewisser Weise bieten die geleakten iranischen Kabel eine abschließende Abrechnung der US-Invasion im Jahr 2003 im Irak. Die Vorstellung, dass die Amerikaner die Kontrolle über den Irak dem Iran übergaben, als sie dort einmarschierten, wird jetzt selbst vom US-Militär geteilt."
Archiv: Intercept

Respekt (Tschechien), 18.11.2019

Zum 30. Jahrestag der Samtenen Revolution sind wieder Hunderttausende von Tschechen auf die Straßen gegangen, um das Vermächtnis von 1989 heraufzubeschwören und für eine neue Politik zu demonstrieren. Die Organisation von "Eine Million Augenblicke" sei die erfolgreichste Bürgerbewegung seit 1989, erkennt Erik Tabery erfreut an, doch er mahnt: "Den Demonstrationen wird einmal der Atem ausgehen, wenn es nicht zur Phase zwei kommt. Und zwar zu einer Aktivität vonseiten politischer Parteien." Die Menschen, die die Politik von Babiš, Zeman und Konsorten ablehnten, lebten derzeit von der Vergangenheit. "Kraft verleiht ihnen das Ethos des November 1989, und sie bauen auf den Gedanken Václav Havels und seiner Weggefährten auf. (…) Jetzt stellt sich nur die Frage, wer uns in die Zukunft bringt." Mit anderen Worten, wer die populistischen Parteien und den Präsidenten bei den nächsten Wahlen besiegen kann, denn "einen anderen Weg, der zum Wechsel führt, gibt es nicht".
Archiv: Respekt

New York Review of Books (USA), 05.12.2019

Vija Celmins: Untitled (Ocean), 1970. Bild: Modern Art Museum of Fort Worth

Susan Tallman freut sich über den großen Auftritt, den das Met Breuer Museum in New York der 1938 in Riga geborenen amerikanischen Künstlerin Vija Celmins mit einer umfassenden Retrospektive bereitet. Celmins' Kunst ist im Grunde reine Bildlichkeit, meint Tallman, keine Theorie, sondern Sehen und Malen, und zwar eines ohne Fluchtpunkt und ohne Hierarchien: "Celmins wird seit mehr als fünfzig Jahren bewundert, doch fiel es den Kritikern meist nicht leicht, die Eindringlichkeit und anhaltende Kraft ihres Werks zu erklären. In einer Kunstwelt, die lautstarke Behauptungen und die energische Annexion von Wandfläche belohnt, sticht ihre durchdachte, bescheidene Schwarzweiß-Kunst hervor. Während ein Großteil der zeitgenössischen Kunst stolz auf die eigene Kompliziertheit, ja Undurchschaubarkeit ist, sind Celmins Bilder und Zeichnungen von Nachthimmeln und Ozeanen gefällig und auf angenehme Art großzügig, selbst wenn sie sich mit gewichtigen Fragen zu den Mechanismen und Folgen von Repräsentation beschäftigt. All dies macht ihre Arbeiten schwer fassbar in der gegenwärtigen Kunstsprache. Wenn man etwa ihre Paarung identischer Steine betrachtet, kommt einem nicht das Word Simulacrum in den Sinn, sondern Erhabenheit."

Weitere Artikel: Recht spöttisch bemerkt David Graeber, wie in der Ökonomie die Grundfesten der Theorie erschüttert werden, ohne dass sich Ökonomen davon beirren lassen: "Seit der Rezession von 2008 haben Zentralbanken wie verrückt Geld gedruckt, um Inflation zu erzeugen und die Reichen dazu zu bringen, etwas Sinnvolles mit ihrem Geld anzufangen. Mit beidem waren sie erfolglos. Wir leben jetzt in einem völlig anderen ökonomischen Universum als vor dem Crash. Sinkende Arbeitslosigkeit treibt nicht mehr die Löhne nach oben. Geld zu drucken verursacht keine Inflation. Doch die öffentliche Debatte und die Weisheiten der Lehrbücher bleiben nahezu unverändert." In einer herben Attacke auf Generationen von Architekten, die das New Yorker Moma immer planloser ins Megalomane ausbauten, erinnert Martin Filler an den Ursprungsbau von Philip L. Goodwin und Edward Durell Stone. Der sei zwar kein architektonisches Meisterwerk gewesen, gründete aber auf einer grandiosen Idee: Nach all den europäischen Königspalästen und der diesen nachempfundenen Nationalgalerie die Ausstellung von Kunst zu demokratisieren.

Eurozine (Österreich), 14.11.2019

In einem Beitrag des Magazins (auf Deutsch im Wespennest) macht sich John Palattella, Redakteur bei The Nation, Sorgen um die schöne Indifferenz des Essays. In unserer durchpolitisierten Zeit könnte der elegante Skeptizismus des Essays dem Zwang zur expliziten Positionierung weichen, fürchtet er: "Das Wort Essay ist bisher in den USA zwar noch keine Beleidigung, aber der Essay selber, wie Montaigne und Virginia Woolf ihn verstanden, ist in Verruf geraten. In der goldenen Zeit der Ich-Bekenntnisse und der sozialen Medien mag das seltsam klingen, aber die ubiquitäre subjektive Meinungsäußerung hat weniger mit dem Essay zu tun als mit dem Überleben in der Aufmerksamkeitsökonomie … Ein Essay offenbart, wo die Auseinandersetzung des Verfassers mit sich selbst oder einer brennenden Frage zu einem zeitweisen Stillstand kommt. 'Was weiß ich?', fragt Montaigne und richtet das Mikroskop auf sich selbst oder einen Teil seiner Welt. Weil Wissen immer ein Versuch ist, sind gute Essayisten nie lange glücklich mit ihrer eigenen Weisheit. Eine gesunde Dosis Skepsis, vor allem gegenüber politischen Fragen, wird heute allerdings von einigen als Pflicht betrachtet und als Grund, dem Essay gegenüber misstrauisch zu sein. Wie Jon Baskin und Anastasia Berg von The Point in einem aktuellen Artikel erklären, heben amerikanische Autoren der Linken seit der Wahl Trumps 2016 verstärkt die Bedeutung der Positionierung und der Ausrichtung des Denkens und Schreibens nach einem politischen Ziel hervor. Ein Autor sollte keine Widersprüchlichkeiten von sich geben oder öffentlich Ideen ausprobieren. Stattdessen soll der Autor die eigene öffentliche Äußerung im Sinn einer ideologischen Agenda gestalten und die Öffentlichkeit vor Ideen in Schutz nehmen, die nicht durch eine legitime politische Stoßrichtung definiert sind."
Archiv: Eurozine

New York Magazine (USA), 12.11.2019

In einem Artikel der aktuellen Ausgabe des Magazins gibt Lane Brown uns ein Update in Sachen Gesichtserkennung und die Folgen: "Dunkle Haut ist nicht das einzige Feature, mit dem Gesichtserkennungssoftware Schwierigkeiten hat. Ein Test des 'National Institute of Standards and Technology' (NIST) ergab, dass sogar die besten Algorithmen Probleme hatten, Fotos ein und derselben Person in verschiedenen Altersstadien zu identifizieren und oft nicht in der Lage waren, Zwillinge zu unterscheiden - selbst zweieiige gleichgeschlechtliche nicht. Außerdem hängt die Leistung der Programme stark von der Qualität der Fotos ab. NIST verglich vor allem HD-Fahndungsfotos miteinander, aber unter realen Bedingungen mit unscharfen Bildern von Überwachungskameras und ungünstigen Aufnahmewinkeln, dürften die Ergebnisse anders ausfallen. Auch eine Gesichtserkennung mit niedriger Fehlerquote kann im breiten Einsatz Probleme verursachen. Sechs neuere Tests der Londoner Polizei auf öffentlichen Straßen ergaben 42 Matches für gesuchte Personen, aber nur acht davon waren korrekt … Bei der Gesichtserkennung geht es um mehr als nur darum, wer wir sind, was wir einkaufen, welche Verbrechen wir begangen haben und dass unsere Ähnlichkeit mit einem Sexualstraftäter uns das Leben schwer macht - es geht auch darum, was wir fühlen, denn die Technik kann Gefühle erkennen [siehe dazu auch heute die NZZ]… Das Beunruhigendste aber ist vielleicht, wie leicht zugänglich die Gesichtserkennung ist. Nicht nur Regierungen und Unternehmen können sie nutzen, auch du und ich, unser Vermieter, der Perverse von nebenan, jeder mit einem Computer und einer Kamera und zu einem unerwartet günstigen Preis. Amazon bietet eine einjährige Probenutzung seiner Gesichtserkennungssoftware an: 5000 Bilder oder 1000 Minuten Video pro Monat."

Eldiario (Spanien), 12.11.2019

In der spanischen Tageszeitung eldiario.es - eine Art spanische taz, die jedoch seit ihrer Gründung ausschließlich online erscheint - legt der spanische Schriftsteller Isaac Rosain in seiner Kolumne den beiden führenden Politikern von PSOE und Podemos, Pedro Sánchez und Pablo Iglesias - beziehungsweise 'Peblo', wie sie schon seit Längerem auch gemeinsam, als Paar, genannt werden -, jetzt, wo sie endlich doch eine Regierungskoalition wagen wollen, die folgende flehentliche Bitte in den Mund: "Spanier, lasst uns nicht allein, lasst nicht zu, dass wir allein diese (Koalitions)Vereinbarung aushandeln, und lasst uns vor allem nicht allein regieren! Stärkt uns in unserer Schwäche und Angreifbarkeit, helft uns, die kritischen Augenblicke zu überstehen, die wir durchmachen werden, denn wir müssen ein Land in einer tiefen Krise regieren - in sozialer, politischer, territorialer, vielleicht demnächst auch wieder wirtschaftlicher Hinsicht. Wir werden schwierige Entscheidungen treffen müssen, wir werden euch enttäuschen, aber denkt daran: Dies ist unter diesen Umständennicht die beste, sondern die bestmögliche Regierung. Lasst uns nicht allein, dies ist ein Notfall. Lasst uns nicht allein, euch zuliebe. Denn wenn die Sache schief geht, scheitern nicht nur PSOE und PODEMOS, nicht nur Pedro und Pablo. Sondern auch ihr werdet scheitern, und wir alle werden teuer dafür bezahlen."
Archiv: Eldiario

Quietus (UK), 15.11.2019

Sorgt sich: Harvey Keitel in "Reservoir Dogs"


Alle feiern Martin Scorseses Film "The Irishman" für seine traumhafte Besetzung: Robert de Niro, Al Pacino, Joe Pesci - und Harvey Keitel ist einer kleineren Rolle auch dabei. Insbesondere die brüchige Karriere des letzteren findet Brogan Morris überaus interessant - zumal Keitel das ursprüngliche Alter Ego in Scorseses frühen Filmen gewesen ist, anders als De Niro darauf aber nie eine konsistente Laufbahn aufbauen konnte (oder eher wollte). Es mag damit zu tun haben, dass Keitel auf gebrochene, uneindeutige Figuren setzt: "Für einen Schauspieler, der so sehr mit coolem Harte-Kerle-Kino assoziiert wird, stützt Keitel seine Karriere paradoxerweise darauf, den insgeheim sensiblen, emotional durchgewalkten Typen zu spielen. ...  Selbst noch in Quentin Tarantinos nihilistischem Noir-Debür 'Reservoir Dogs' verleiht Keitel seinem mörderischen Bankräuber, der sich nach einem gescheiterten Raub um einen sterbenden Kameraden kümmert, eine überraschend mütterliche Qualität. Wenn sein Mr. White in den letzten Momenten des Films zu schluchzen beginnt, weil er den Verrat seines Freundes erkennt, wirkt Keitel auf unbehagliche Weise verletzlich. So qualvoll heult er auf, dass es fast unhöflich scheint, ihn dabei zu beobachten. Die meisten Schauspieler gieren nach unseren Augäpfeln, doch in seinen denkwürdigsten Momenten - wie er als Sport in 'Taxi Driver' zärtlich und langsam mit einer minderjährigen Prostituierten tanzt, wie er in 'Bad Lieutenant' nach Drogenkonsum mehrfach einen Zusammenbruch erleidet - fordert uns Keitel dazu heraus, den Blick von ihm abzuwenden. Wenn es zum Äußersten kommt - wenn er in 'Lieutenant' einen verabscheuungswürdigen Polizisten spielt oder einen sexuell angsteinflößenden Gangster in 'Fingers' -, dann wirkt Keitel so ausgestellt und korrupt, dass er eine eitrige Wunde zu sein scheint, obwohl der Schauspieler selbst noch in solchen Filmen eine schreckenerregende Sympathie für seine Figuren wecken kann. Reine Schurken hat Keitel nur selten gespielt, aber auch als Helden können seine Protagonisten kaum beschrieben werden. Keitel hat seine Karriere dem Vorhaben gewidmet, in unerlösbar scheinenden Figuren die Menschlichkeit zu suchen, und er tut dies, indem er sich standhaft weigert, sie einem allgemeinen Publikum schmackhaft zu machen."
Archiv: Quietus

Elet es Irodalom (Ungarn), 15.11.2019

Im Gespräch mit Péter N. Nagy denkt der Rechtssoziologe Zoltán Fleck über ein mögliches Ende der Orban-Regierung nach und über die Aufgaben und auf Konsens zielenden Diskussionen danach: Fortschritt ist undenkbar mit diesem von Orban geprägten System, meint er, weshalb es abgeschafft werden müsse. "Es ist aber auch nicht möglich, einfach zu der Verfassung der Wende zurückzukehren. Aber die historische Leistung, dass in Ungarn zwischen 1990 und 2010 Demokratie herrschte, muss anerkannt werden. Erneut werden die Juristen eine große Rolle spielen, denn es wird um rechtliche und institutionelle Umgestaltungen gehen. Dafür müssen wir uns à la Münchhausen an den eigenen Haaren aus der Kultur zerren, die unsere ist und in der wir uns wohlfühlen. Wir müssen unsere historischen Mentalitäten und Barrieren hinter uns lassen. Wir brauchen in der Tat eine Antwort auf die Frage, wer wir sind. Nicht ohne Grund taucht in Krisenzeiten die Frage auf 'Was ist ungarisch?', die wir uns in dieser Form nicht stellen müssen, sondern 'Warum wir so sind, wie wir sind? Was ist unsere eigene Rolle und was ist Determinierung?' Was heute herrscht, ist die Institutionalisierung des schlechtesten Ichs der ungarischen Gesellschaft. Doch wenn wir nicht erkennen, dass auch diese wir sind, können wir es auch nicht hinter uns lassen."
Stichwörter: Fleck, Zoltan, Ungarn

New York Times (USA), 16.11.2019

Der New York Times sind - offenbar von einem hohen Funktionär - einige Dokumente zugespielt worden, die zeigen, dass die Verfolgung der Uiguren in China auf allerhöchste Weisung von Parteichef Xi Jinping betrieben wird, berichten Austin Ramzy und Chris Buckley. Bei den Dokumenten handelt es sich unter anderem um einige interne Reden Xi Jinpings, die zwar keinen direkten Befehl zum Aufbau von Lagern, aber eine Art psychologische Diagnose des Aufstands der Uiguren enthalten. Xi reagierte auf einige sehr blutige Anschläge und stellt den Islamismus als eine Art Krankheit dar, die durch Umerziehung zu bekämpfen sei. In die Tat umgesetzt wurde das Umerziehungsprogramm von einigen eifrigen hohen Funktionären. Wer nicht funktionierte, wurde aussortiert, denn nebenbei funktioniert das Programm auch als parteiinterne Säuberung: "Tausende von Funktionären in Xinjiang wurden bestraft, weil sie die Unterdrückungsmaßnahmen nicht oder nicht mit ausreichendem Eifer durchführten. Uigurische Offizielle wurden beschuldigt, Mitbürger zu schützen, und  Gu Wensheng, Han-Chinese und Führer eines südlichen Distrikts, wurde ins Gefängnis gesteckt, weil er Gefangennahmen laut den Akten herauszögerte und uigurische Funktionäre geschützt hatte. Verdeckte Ermittler reisten durch die ganze Region, um jene zu identifizieren, die nicht aktiv genug waren. Im Jahr 2017 eröffnete die Partei mehr als 12.000 Ermittlungen gegen Parteimitglieder in Xinjiang wegen Verstößen im 'Kampf gegen den Separatismus', mehr als das Zwanzigfache des Vorjahres, so die offizielle Statistik."

Außerdem: Das Magazin der Times bietet ein superschick aufgemachtes Dossier zur Lage des Internets, das allerdings kaum neue Informationen unterhält. Sehenswert sind die Illustrationen, Videos und Fotos von Maurizio Cattelan und Pierpaolo Ferrari.
Archiv: New York Times