Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.12.2005. Die Franzosen streiten weiter über die Intellektuellen: Ist Alain Finkielkraut ein Ikonoklast? Oder doch eher ein Neo-Reac?, fragen Le Point und der Nouvel Obs. Pascal Bruckner findet im Obs jedenfalls, dass Finkielkraut mit seinen Äußerungen zu den französischen Jugendunruhen einen Nerv getroffen hat. Der Spectator sieht Al Dschasira immer mehr als Teil des Establishments, die Nation dagegen als journalistisches Vorbild. Die New York Review of Books untersucht die Funktionstüchtigkeit amerikanischer Medien. Outlook India protestiert gegen die Fatwa-Epidemie in Indien. Der New Yorker zeichnet die Ausbildungsjahre Osama bin Ladens nach. Und Ozon fragt, ob Volker Schlöndorff wirklich die Geschichte der Solidarnosc verfilmen kann.

Point (Frankreich), 01.12.2005

Frankreich streitet heftig über die "vague iconoclaste" (so nannte sie Le Point letzte Woche) beziehungsweise die "neo-reacs", die Neokonservativen, wie der Nouvel Observateur sie diese Woche nennt. Gemeint sind Intellektuelle wie Alain Finkielkraut, Marcel Gauchet, Luc Ferry, Politiker und Aktivistengruppen, die mit ihren Äußerungen zu den Aufständen in den Pariser Banlieues und dem Islam in Frankreich die gut eingespielte Trennung zwischen Rechts und Links in Frage stellen. Die Debatte entzündet sich vor allem an dem Interview, dass Alain Finkielkraut noch im November der israelischen Zeitung Haaretz gegeben hatte. Darin hatte er auf einen "ethnisch-religösen" Charakter der Krawalle in den französischen Vororten abgehoben und einen allgemeinen "Hass auf den Westen" als Ursache dafür ausgemacht. Nachdem Le Monde auszugsweise aus diesem Interview zitiert hatte, brach ein Sturm der Empörung los und Finkielkraut wurde in vielen Medien scharf kritisiert und des Rassismus bezichtigt. In zwei Interviews machte Finkielkraut daraufhin den Versuch, sich vor allem von letzterem zu distanzieren. In Le Point fasst Elisabeth Levy Reaktionen von Kritikern und Verteidigern zusammen und verteidigt Finkielkraut: Viele Intellektuelle seien offenbar nicht mehr in der Lage, "zwischen der Kritik an einem Gedanken und einer Kriminalisierung jeder abweichenden Meinung zu unterscheiden".

In der gestrigen Ausgabe von Le Monde bezeichnet der französische Innenminister Nicolas Sarkozy Finkielkraut als einen Intellektuellen, der "Frankreichs Intelligenz alle Ehre" mache und möglicherweise deshalb so viel Kritik bekomme, weil er "richtige Dinge" sage. Und Robert Sole diskutiert die Kritik an der Präsentation des Interviews in Le Monde und dem - möglicherweise verkürzenden - Umgang mit den Auszügen daraus.

In seinen Bloc-notes singt Bernard-Henri Levy ein Loblied auf das Centre Andre-Malraux in Sarajevo und dessen Gründer und Leiter Francis Bueb.
Archiv: Point

Nouvel Observateur (Frankreich), 01.12.2005

Für den NouvelObs sind Finkielkraut und Kollegen einfach nur "neo-reacs". Nach Jahrzehnten der "Dominanz des Fortschritts" stünden diese "Intellektuellen einer neuen Rechten" für eine "Verschiebung" der aktuellen Mehrheitsmeinung und riskierten damit, die Spaltungen innerhalb der französischen Gesellschaft zu verschärfen. In seinem Einführungsartikel dekliniert Laurent Joffrin die Thesen und Argumente dieser Gruppierung durch. Seiner Ansicht nach sind "die neo-reacs wie die Neocons in den USA geistige Vorbereiter einer Politik sind, die ungleich schärfer ist als der Gallozentrismus eines Chirac oder Villepin."

Pascal Bruckner dagegen meint, dass Finkielkraut in einigen Passagen des Gesprächs über das Ziel hinausgeschossen sei, aber er konzediert ihm, einen richtigen Nerv getroffen zu haben und zieht seine Äußerungen der political correctness vor, die "seit zwanzig Jahren dem Front national in die Hände spielt". Wie Finkielkraut glaubt auch Bruckner nicht an die einfache Rassismus-These zur Erklärung der Jugendrevolte: "Ich dachte, jene Vision, die ein automatisch schuldiges Europa einem immer unschuldigen und unberührbaren Süden entgegenstellt, sei endgültig verfallen. Wenn nun heute erklärt wird, dass sich durch Frankreich eine 'koloniale Spaltung' zieht, ja, dass Frankreich eine Kolonialmacht auf dem eigenen Territorium bleibt und die Banlieues besetzt hält wie eine fremde Armee, dann bin ich sprachlos." Ganz anderes sieht es Claude Askolovitch: "Die Funktionäre des Front national lesen inzwischen Finkielkraut, und sie brüsten sich damit."

Express (Frankreich), 05.12.2005

Der französische Starjournalist Pierre Pean, der einst durch die Aufdeckung von Francois Mitterrands Vichy-Vergangenheit berühmt wurde, hat ein Buch über das Attentat auf den ruandischen Präsidenten Juvenal Habyarimana in Jahr 1994 geschrieben, in dessen Folge Hunderttausende Tutsi von Hutu abgeschlachtet wurden ("Noires Fureurs, Blancs menteurs"). Pean bestreitet, dass es sich dabei um einen Genozid gehandelt habe. Im Interview erklärt er: "Ich versichere Ihnen: Es hat keine Todesschwadronen gegeben, wie sie der Augenzeuge Janvier Afrika beschrieben hat und wie oft von den Anhängern der offiziellen Wahrheit behauptet wurde." Er sei nicht davon überzeugt, dass der Genozid geplant war: "Es hat auf beiden Seiten Todeslisten gegeben, das nenne ich nicht Planung." Auch die Mitverantwortung der französischen Armee bestreitet Pean: "Die französische Armee kann nicht der Komplizenschaft mit dem Genozid beschuldigt werden. Das ist eine schändliche Behauptung. Die Haltung Frankreichs war untadelig."
Archiv: Express

Spectator (UK), 03.12.2005

Die angeblich geplante Bombardierung des arabischen Nachrichtensenders Al-Dschasira beschäftigt den Spectator weiterhin. Richard Beeston hat nach einem Gespräch mit dem Direktor Wadah Khanfar das Gefühl, dass der Sender schon längst kein Störfaktor mehr ist, sondern immer mehr zu einem stabilisierenden Element der Region wird. "Al-Dschasira wird größer, reicher und immer mehr ein Teil des Establishments, dessen Autorität es einst mit Hingabe untergraben hat." Ergänzend erinnert Brendan O'Neill daran, dass die Bombardierung des serbischen Staatsfernsehens im Kosovo-Krieg fast niemanden hinter dem Ofen hervorgelockt hat.
Archiv: Spectator

The Nation (USA), 19.12.2005

Jeremy Scahill preist den arabischen Nachrichtensender Al-Dschasira, den die amerikanische Regierung angeblich bombardieren wollte, gar als journalistisches Vorbild. "Al-Dschasiras wahres Vergehen während des des 'Krieges gegen den Terror' war einfach seine Anwesenheit. Während er der Bush-Regierung und der US-Politik kritisch gegenüber steht, ist er nicht antiamerikanisch - er ist unabhängig. Tatsächlich hat der Sender fast jede arabische Regierung verärgert und wurde aus vielen arabischen Staaten vertrieben oder mit Sanktionen belegt. Er hat es geschafft, sowohl von Saddam als auch der neuen US-unterstützten Regierung verboten zu werden. Er war der erste arabische Sender, der Interviews mit israelischen Offiziellen gesendet hat. Er ist keineswegs das Sprachrohr von Al Qaida, wie uns die Regierung glauben machen wollte. Die wahre Bedrohung, die von Al-Dschasira ausgeht, ist sein uneingebetteter Journalismus - genau den brauchen wir jetzt auch um die Wahrheit über das Treffen zwischen Bush und Blair herauszufinden."
Archiv: The Nation

Outlook India (Indien), 12.12.2005

Die 19-jährige indische Tennisspielerin Sania Mirza ist Muslimin. Islamische Geistliche haben eine Fatwa gegen ihr Spieldress (Bild, Bild) erlassen. Sie sei ein "Nationalschatz", schreibt Vinod Mehta in ihrer (oder seiner?) wöchentlichen Kolumne, und man solle sie gefälligst in Ruhe lassen: "Statt sie über ihren schwachen zweiten Aufschlag oder ihre Probleme mit der Rückhand zu befragen, werden wir sie bald zu ihrer Meinung über die Fatwa gegen Rushdie interviewen, oder zur Frage, ob der Erzengel Gabriel ein muslimischer oder jüdischer Heiliger war, oder ob die Scharia die Scheidung per SMS erlaubt. Um Himmels willen, sie ist eine Tennisspielerin und kein Imam aus Deoband!""

Die Titelgeschichte widmet sich der Inflation der Fatwas in Indien: "Alle Muslime, mit denen Outlook sprach, waren unglücklich mit diesen lächerlichen Fatwas, auch wenn niemand die bürgerliche Freiheit und die Meinungsfreiheit ihrer Autoren einschränken will. Sie sagen alle, dass muslimische Institutionen eine Art Direktive erlassen sollten, um die Fatwa-Epidemie zu stoppen. Das Problem ist allerdings, dass nicht jeder Dorf-Mufti solche Direktiven anerkennt. Er ist eine unabhängige Instanz, die sich frei äußern darf."
Archiv: Outlook India

New York Review of Books (USA), 15.12.2005

Martin Filler begutachtet die neuesten Bauten von Santiago Calatrava in Valencia (mehr) und Milwaukee (mehr) und siedelt den katalanischen Architekten auf halbem Weg zwischen Walt Disney und Frank Gehry an. "In diesen Tagen werden die beiden Architekten oft in einem Atemzug genannt. Sie haben um die gleichen Jobs konkurriert (Gehry verlor den Auftrag für das Milwaukee Art Museum an Calatrava) und werden dies ohne Zweifel weiter tun. Viele sehen Ähnlichkeiten in den herabschießenden Linien und den schwellenden Bäuchen ihrer Architektur. Aber es gibt mehr bemerkenswerte Unterschiede, angefangen dabei, wie Calatravas geschäftige, aber im Grunde offensichtliche Bauten auf einen Blick verstanden werden können (was manche Leute beruhigend finden) , wohingegen Gehrys komplexe und doppelbödige Kompositionen mehr Zeit verlangen, um begriffen zu werden."

Weiteres: Michael Massing setzt seine Erforschung der Funktionstüchtigkeit amerikanischer Medien fort und stößt dabei auf "strukturelle Probleme, die die Presse davon abhalten, ihrer Verantwortung nachzukommen und als Zeuge für Ungerechtigkeit zu dienen, als Wachhund gegen die Mächtigen". Christopher Jencks bedankt sich noch einmal bei Bill Clinton dafür, die Zahl der Sozialhilfe-Empfänger von 4,8 auf 2,2 Millionen Familien gesenkt zu haben. Joseph Lelyveld liest die Erinnerungen "For God and Country" des Westpoint-Absolventen und Captain James Yee, der zehn Monate lang als muslimischer Kaplan in Guantanamo diente, um dann selbst inhaftiert zu werden.

Besprochen werden auch William T. Vollmanns Band mit Kurzgeschichten über Russland und Deutschland während des Zweiten Weltkriegs, "Europe Central" (mehr), und Ken Emersons Buch "Always Magic in the Air", das von den Anfängen des Pops im New Yorker Brill Building erzählt, allerdings ohne Krawalle und Orgien: "Hier geht es nicht um die Dionysischen Exzesse, sondern den adrenalin-getriebenen Rhythmus des Arbeitslebens."

Weltwoche (Schweiz), 05.12.2005

Mathias Plüss versucht im Gespräch mit dem Wiener Physik-Professor Anton Zeilinger herauszufinden, warum sich die Menschheit noch mindestens tausend Jahre in Geduld üben muss, bis das Beamen auch nur einer Kaffeetasse möglich sein wird. Zeilinger ist immerhin Weltmeister der Disziplin. "Letztes Jahr haben wir Lichtteilchen über eine Strecke von 600 Metern unter der Donau durchteleportiert - das ist zurzeit Weltrekord. Die theoretische Reichweite ist unendlich. Ich sage immer, wenn die Amerikaner ihre Mars-Mission wirklich starten, dann ist das Raumschiff 280 Tage unterwegs, und den Astronauten wird sicher furchtbar fad sein. Da könnten sie doch vielleicht zwischendurch ein paar Teleportationsexperimente machen, das wären dann hundert Millionen Kilometer oder so."

Das sind Reporterträume! Eugen Sorg ist den 4500 Kilometer langen Mekong hinabgereist. Im ersten Teil seiner verschwenderischen Reportage berichtet er aus Laos, wo er auf der Insel Don Khon auf einen entspannt fatalistischen Restaurantbesitzer trifft. "'Jedes Jahr werden vier bis fünf Menschen über die Fälle geschwemmt', sagt er, 'Laoten und Touristen. Es gibt tückische Unterströmungen, Wirbel und versteckte Höhlen. Für die Leute hier sind es Opfergaben. Letztes Jahr kam einer aus dem Norden, um Freunde zu besuchen. Plötzlich stand er auf vom Tisch, ging zu den Fällen und sprang über die Klippen. Der Geist hatte nach einem Opfer gerufen, sagten alle.'"

Außerdem stellen Christof Moser und Markus Schär fest, dass auch die Schweiz Probleme mit der Integration von Einwanderern hat.
Archiv: Weltwoche
Stichwörter: Integration, Mars, Weltwoche

Reportajes (Chile), 04.12.2005

Ein ziemlich ernüchterndes Bild der lateinamerikanischen Gegenwart entwirft Moises Naim, ehemaliger Weltbankdirektor und jetzt Chefredakteur der Zeitschrift Foreign Policy im Interview: "Man hat Lateinamerika immer als den 'Hinterhof' der USA bezeichnet. Aber seit den Attentaten vom 11. September ist dieser Hinterhof zu einem neuen Atlantis geworden, zu einem verlorenen Kontinent. In Washington und an der Wall Street interessiert sich kein Mensch mehr für Lateinamerika. Das Problem dieses Teils der Welt ist nicht die Globalisierung, sondern dass er immer mehr an den Rand gerät: Lateinamerika ist dabei sich zu 'entglobalisieren'. Womit keiner gerechnet hätte: Die einflussreichste Figur in Lateinamerika ist heute nicht Bush, sondern Fidel Castro."

Passend hierzu kommentiert Alvaro Vargas Llosa den laut jüngsten Umfragen kometenhaften Aufstieg des 'nationalpopulistischen' peruanischen Präsidentschaftskandidaten Ollanta Humala. Vargas Llosas Fazit könnte düsterer nicht sein: "Es mag noch zu früh für eine sichere Wahlvoraussage sein. Aber eins ist sicher: Peru setzt einmal mehr auf die Barbarei. Die selbstzufriedene Barbarei."

Vater Mario Vargas Llosa wiederum erinnert an den vor 75 Jahren erschienenen berühmten Essay "Der Aufstand der Massen" des spanischen Kulturphilosophen Jose Ortega y Gasset: "Ortega hätte die Krawalle dieser Tage in Frankreichs Vorstädten als genuine Bestätigung seines Begriffs von 'Masse' betrachtet."
Archiv: Reportajes

Foglio (Italien), 03.12.2005

Vorab: die italienische Tageszeitung il Foglio gibt es online zu lesen, allerdings nur als pdf. Nach dem begeisterten Lob im Spiegel letzte Woche, haben wir uns mal die Wochenendausgabe angeguckt und gleich was gefunden..

Die kommunistische Partei Italiens entfernt Hammer und Sichel aus der Parteifahne. Sergio Soave schreibt eine kleine Geschichte des Symbols, in der er auch darauf hinweist, dass der Realist Lenin nicht die nach außen hin vielbeschworene Allianz mit Arbeitern und Bauern im Sinn hatte, als er sie auf die sowjetische Fahne hievte. "Lenin, der ein exzellenter Propagandist war, hatte bemerkt, dass der stilisierte Hammer dem christlichen Kreuz und die Sichel dem islamischen Halbmond sehr ähnelten, also den Symbolen der beiden weitverbreitetsten Religionen des zaristischen Imperiums, das er zu erobern gedachte."
Archiv: Foglio

Guardian (UK), 03.12.2005

"Warum haben Journalisten so einen miesen Ruf? Weil sie so schlechte Presse haben", witzelt der Kolumnist Christopher Hitchens, der sich in einem hier nachgedruckten Vorwort zu Evelyn Waughs Fleet-Street-Roman "Scoop" wundert, wie schlecht die Schreiberlinge in der englischen Literatur wegkommen. "Einige Motive scheinen sich in der Art, wie Autoren unsere Journalisten behandeln, abzuzeichnen: reichlich Gin (oder Whisky, oder Port, oder was immer Sie wollen), Mittelmäßigkeit, Zynismus, Faulheit und geistige Armseligkeit. Ganz zu schweigen vor der größten aller deformations professionelles: schamlose und wichtigtuerische Erfindungen. Und beinahe hätte ich ganz vergessen, das Spesenrittertum zu erwähnen. Alle Berufe sind davon deformiert, natürlich, aber nur der Journalismus hat ein ganzes System daraus entwickelt."

Weiteres: Der Historiker Norman Davies hält Tony Judts Geschichte Europas nach 1945 "Postwar" für schlichtweg grandios in seinem Mut zu vereinfachen. Zum Buch der Woche gekürt wurde Vincent Carrettas Biografie des Sklaverei-Gegners Olaudah Equiano "Equiano the African".
Archiv: Guardian

Ozon (Polen), 01.12.2005

Seit bekannt wurde, dass Volker Schlöndorff einen Film basierend auf der Biografie der "Solidarnosc"-Mitbegründerin Anna Walentynowicz dreht, regen sich in der polnischen Presse immer wieder Stimmen, die vor einer falschen Darstellung polnischer Geschichte im Film warnen. "Eigentlich hätte man sich nichts Besseres erträumen können - ein weltberühmter Regisseur verfilmt die Geschichte einer Ikone der polnischen Opposition, und erinnert daran, dass der Fall des Kommunismus in Danzig und nicht in Berlin begann", meint Wojciech Duda-Dudkiewicz. Aber nicht nur Walentynowicz selbst, die vom Projekt aus der Presse erfahren hat, ist vom Drehbuch enttäuscht: "Voller Klischees und Unkenntnis der damaligen Realität, behaupten einige. Schade, dass ein solcher Film nicht in Polen entstanden ist. Stattdessen haben wir Kontroversen um die Vision eines ausländischen Autors."
Archiv: Ozon

Gazeta Wyborcza (Polen), 03.12.2005

Einer der größten Bestseller Spaniens in den letzten Jahre, "Soldaten von Salamis", wurde jetzt ins Polnische übersetzt. Der Autor Javier Cercas spricht im Interview über den spanischen Umgang mit der geteilten Geschichte und die neu entbrannte Diskussion über den Bürgerkrieg 1936-39. "Wir brauchen Distanz. Vielleicht wird sie uns, der Enkelgeneration, gelingen. Mein Buch handelt nicht vom Bürgerkrieg. Es geht um einen Vertreter meiner Generation, der sich vor diesem Thema geekelt hat und jetzt plötzlich die Wahrheit erfahren will. Jorge Semprun sprach zum Jahrestag des Kriegsendes davon, dass bald die Generation der Zeugen aussterben wird. Wer wird sie ersetzen? Die Schriftsteller. Literatur geht weiter als die Geschichte - sie benutzt die Fakten, um weiter zu gehen und über die moralische Wahrheit zu sprechen."

Seit Geena Davis in einer amerikanischen Serie ("Commander in Chief") die Präsidentin der Vereinigten Staaten spielt, fragen sich immer mehr Menschen, ob diese Vision schon bald Realität werden könnte - zumal Hillary Clinton und Condoleezza Rice als ernsthafte Kandidatinnen gehandelt werden. "Kann eine populäre Serie dazu beitragen? Ja", meint Marcin Gadzinski, "schließlich bezieht ein Viertel der jungen Wähler ihr politisches Wissen aus dem Fernsehen." Auch Organisationen wie "The White House Project" seien ein Indikator dafür, dass die Frauen es ernst meinen.
Archiv: Gazeta Wyborcza

Rivista dei Libri (Italien), 01.12.2005

Die italienische Ausgabe der New York Review of Books übernimmt nicht nur Artikel aus dem Mutterblatt, sondern hat auch eigene Beiträge. Lesen dürfen wir diesen Monat Sandro Barberas Besprechung zweier Neuerscheinungen über den deutschen Philosophen Paul Ree. Sowohl Hubert Treiber, der die Gesammelten Werke Rees herausgegeben hat, als auch Domenico Fazio in seiner Monografie versuchen Ree und seine Philosophie aus dem Schatten des Freundes Friedrich Nietzsche zu befreien. Der hat Ree auf seine eigene arrogante Art geschätzt. "Ree war für Nietzsche ein bevorzugter Gesprächspartner, vor allem mit der Isolation, in die er sich durch den Bruch mit den Wagners manövriert hatte. Was Nietzsche 1884 an seine Mutter Franziska schreib, beschreibt die Beziehung der beiden ziemlich genau: 'Du kannst Dir nicht vorstellen wie angenehm mir Prof. Ree in den vergangenen Jahren war - faute de mieux, natürlich.'"

Elet es Irodalom (Ungarn), 02.12.2005

Der Literaturkritiker Attila Balazs feiert den internationalen Erfolg des jungen Dramatikers Zoltan Egressy. Seine Figuren sehnen sich aus dem kleinen ungarischen Dorf nach Portugal wie einst die "Drei Schwestern" nach Moskau, aber "die Kneipe, das Bier, der schlechte Wein und ihre eigene Trägheit hält sie doch zurück. Schmachten, Strampeln, Zappeln ein ganzes Leben lang. Wie die Weinfliegen im Glas? ? Im Mittelpunkt des Universums stehen ein kaputter Umkleideraum, ein alter Zirkus und eine beseligende Kneipe, in der wir mit der erschreckenden Hoffnungslosigkeit unserer eigenen Erlösung konfrontiert werden - während die Pointen auf dem schmalen Grat zwischen Weinen und Lachen seiltanzen."

"Kann ein Buch widergeben, wie ein echter in Jeans schwitzender Po 1972 war? Und was kann die systematisierende und analysierende Geschichtswissenschaft über die abgerissenen Sandalen und das in einem wahnsinnigen Tempo herumhüpfende Individuum erzählen, das beim Anblick eines bewaffneten sowjetischen Soldaten ausspuckt und dann im Konzert fuchtelt, grinst und hofft?", fragt "dr. Marias", nachdem er die neue "Geschichte der ungarischen Rockmusik" gelesen hat.

Weiteres: Tamas Csapody schreibt eine Sammelrezension über Bücher, die sich Menschen widmen, die wegen Kriegsdienstverweigerung während der zwei Weltkriege in Arbeitslager deportiert wurden. Und Barbara Nagy singt eine Hymne auf Berlin als Kunst und Künstlerstadt.

New Yorker (USA), 12.12.2005

In einer unfangreichen Recherche zeichnet Steve Coll die Ausbildungsjahre des jungen Osama Bin Laden in der Al Thagher Model School im syrischen Jedda nach und beschreibt, wie er seine "ersten Lektionen im Dschihad" erhielt und "Radikalismus lernte". Coll hat dafür zahlreiche ehemalige Mitschüler aufgestöbert und interviewt. Einer von ihnen, der mit Bin Laden eine - nicht fundamentalistisch geprägte - außerschulische Islam-Studiengruppe für Eliteschüler besuchte, schildert ihn als einzelgängerischen und "grundehrlichen" Menschen. Irgendwann scheint sich bin Laden jedoch gelangweilt zu haben, er brach den Kurs ab. In der Folgezeit habe man beobachten können, wie er und einige andere "ganz offen Aussehen und Überzeugungen jugendlicher islamischer Aktivisten übernahmen. Sie ließen sich die Bärte wachsen, kürzten ihre Hosenbeine und lehnten es ab, ihre Hemden zu bügeln (angeblich um den Stil des Propheten zu imitieren). Und sie diskutierten mit anderen Schülern von Al Thager über die dringende Notwendigkeit, das reine islamische Recht in der gesamten arabischen Welt wiederherzustellen."

Elizabeth Colbert berichtet über eine weitere vertane Gelegenheit der Bush-Regierung, etwas gegen den Klimawandel zu unternehmen. Ben Ryder Howe beschreibt ein amerikanisches Thanksgiving mit einem irakischen General. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "La Conchita" von T.C. Boyle.

Besprochen wird der "gleichermaßen faszinierende und frustrierende" Roman über den Vaudeville-Pionier Bert Williams von Caryl Phillips ("Dancing in the Dark", Knopf), und die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem eine Anthologie der Kinderliteratur ("The Norton Anthology of Children?s Literature", Norton). Joan Acocella porträtiert die unterschiedlichen Werdegänge der Solotänzerinnen Sally Silvers und Anne Teresa De Keersmaeker. Und Anthony Lane sah im Kino das Liebesdrama "Brokeback Mountain? von Ang Lee und die C.S. Lewis-Verfilmung "The Chronicles of Narnia? von Andrew Adamson für Disney.

Nur in der Printausgabe: eine Bericht über die Suche nach den Auslösern von Alzheimer, Empfehlungen, wie man sein Schachspiel verbessern kann, ein nicht näher zu spezifierender Bericht über "hogs wild", in dem es möglicherweise um Wildschweine geht, und Lyrik von Grace Paley, C.K. Williams und Liz Rosenberg.
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 01.12.2005

In Europa sollen mehr europäische Filme gezeigt werden, fordert Claude Miller, Vorsitzender von Europa Cinemas im Interview: "Die europäischen Filmemacher diskutieren ab und zu, warum etwa achtzig Prozent aller in Europa gezeigten Kinofilme aus den USA stammen." Es sei Aufgabe der Politik, das Problem gesetzlich zu regulieren. "In Korea hat das auch funktioniert: Vor zehn Jahren stammten fünfundneunzig Prozent der dort gezeigten Filme aus den USA. Heute gibt es eine gesetzlich vorgeschriebene Quote von 50 Prozent. Koreanische Filme wurden plötzlich zu den beliebtesten Filmen nicht nur im eigenen Land, sondern auch in Japan und China, einige koreanische Filmemacher wurden sogar weltberühmt."
Archiv: Magyar Narancs
Stichwörter: Korea, Koreanischer Film

Folio (Schweiz), 05.12.2005

In der Duftnote schwärmt Luca Turin von herrlich bitteren Meilensteinen der Parfümkultur. "Neulich erhielt ich von einem Freund ein Pröbchen des originalen 'Sous le Vent'. Was für eine Offenbarung! Mit Cotys strengem 'Chypre' (1917) konfrontiert, gab Guerlain zunächst seiner üblichen Neigung nach und fügte ein wenig Pfirsich hinzu. Das Ergebnis war 'Mitsouko' (1919). Erst als er sich vierzehn Jahre später erneut mit dem Problem auseinandersetzte, trieb er den Gegensatz bis zum Äußersten, und heraus kam das bitterste, kompromissloseste Wunder. Man nehme zwei Tropfen davon auf ein Glas Gin und schlürfe das Ganze auf der Veranda."

Zum Ende des Jahres widmet sich das Magazin der NZZ all jenen Berühmtheiten, Skandalen, Erfindungen und Begebenheiten, die in der Öffentlichkeit einmal heiß diskutiert wurden, jetzt aber aus dem Rampenlicht verschwunden sind. In Dutzenden von kleinen Vignetten geht es um fast alles, von Udo Lindenberg bis zu der Maus mit dem angenähten Ohr. Hier die Übersicht.
Archiv: Folio

Espresso (Italien), 08.12.2005

Die treuen Woody-Allen-Fans in der Espresso-Redaktion können aufatmen. In London sei dem Meister aus New York mit "Match Point" ein Befreiungsschlag gelungen, meldet Lorenzo Soria globalerweise wiederum aus Los Angeles. "Nachdem 'Melinda und Melinda' gerade mal 3,8 Millionen Dollar in der Heimat und dreimal so viel im Ausland eingespielt hatte, wie übrigens alle seine jüngeren Filme, war wirklich niemand mehr in den USA bereit, zwanzig Millionen in eine schwarze Box reinzustecken, nur damit sich alles noch einmal wiederholt. Wenn britische Geldgeber, darunter die BBC, als einzige Bedingung verlangten, dass in Großbritannien gedreht werden müsse, hat Allen akzeptiert. Also das Exil. Aber er wusste es zu seinem Vorteil zu nutzen: er hat die Professionalität der englischen Crews schätzen, London und sein soziales Leben lieben und seinen grauen Himmel wie die Regengüsse zu akzeptieren gelernt."

Emilio Piervincenzi schildert ein Gespräch mit der englischen Fußballerlegende George Best, der kurz vor seinem Tod bei einem Glas Scotch in Montecarlo sein Leben resümierte. Monvia Maggi begeistert sich für die Ausstellung "100.000 Jahre Sex" im Japanischen Palais in Dresden.
Archiv: Espresso
Stichwörter: Allen, Woody, Best, George

New York Times (USA), 04.12.2005

In recht alarmierendem Ton schildert Peter Schneider den Lesern des New York Times Magazine die deutsche Debatte um "Ehrenmorde" und die muslimische Parallelgesellschaft aus der Hauptstadtperspektive. "In Berlin wächst eine neue Mauer empor. Um sie zu überschreiten muss man in die zentralen und nördlichen Bezirke der Stadt gehen - nach Kreuzberg, Neukölln und Wedding. Dort wird man sich in einer Welt wiederfinden, die der Mehrheit der Berliner unbekannt ist. Bis vor kurzem gaben sich die meisten Berliner der Illusion hin, dass das Zusammenleben mit 300.000 muslimischen Einwanderern und ihren Kindern im Grunde funktioniert."

Weitere Artikel: Deborah Solomon erfährt vom ehemaligen Demokraten und Schauspieler Ron Silver, der kürzlich von Bush in das Institute for Peace gewählt wurde, dass er sich nicht um einen Sitz im Parlament bewerben wird. "Ich fürchte, da würde ich das bisschen Einfluss verlieren, den ich jetzt habe." Im Titel erklärt Michael Lewis wie der geniale Trainer der Footballmannschaft Red Raiders der Texas Tech University, Mike Leach, die Begrenzungen von Raum und Zeit aufhebt. Walter Kirn zweifelt, ob das Shoppen der Zukunft noch Spaß bereiten wird. Auf den Funny Pages ist der zwölfte Teil von Elmore Leonards Erzählung "Comfort to the Enemy" zu lesen.

In der New York Times Book Review ist Bescherung. Die Redaktion stellt ihre zehn Favoriten des Jahres vor, darunter Ian McEwans "Saturday", Zadie Smiths "On Beauty" und Tony Judts "A History of Europe Since 1945". Weitere Geschenkempfehlungen gibt es für die Bereiche Fotografie, Entdeckung, Reise und Kochen.
Archiv: New York Times