Heute in den Feuilletons

Schönheit herrscht in überwältigender Fülle

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
11.11.2010. Kulturpolitische Misere allüberall. Bonn spart. Halle schafft Theater ab (so der Freitag). In Berlin wird eine Kulturloge für Bedürftige gegründet (so die SZ).  Mit Flensburg geht's auch schon bergab: Die Zeit berichtet in einem Dossier. In Griechenland gewähren Milliardäre der Allgemeinheit (und der Berliner Zeitung)  immerhin Einblick in tennisplatzgroße Swimmingpools.

Berliner Zeitung, 11.11.2010

In Athen herrscht kulturpolitisch Misere, schreibt Harald Jähner in einer lesenswerten Reportage. Akzente gesetzt werden nur von den Stiftungen der Onassis und Niarchos und anderen Reichen, deren Gewohnheit, keine Steuern zu zahlen, irgendwie auch der Allgemeinheit zugutekommt. "Schönheit herrscht in überwältigender Fülle auf dem Anwesen von Prodromos Emfietzoglou. Der greise Bauunternehmer wohnt in seinem Museum der Gegenwart, dessen Säle fast bruchlos in die Privatbereiche übergehen. Es sind nur ein paar Schritte von der Kunst bis zum Swimmingpool von halber Tennisplatzgröße."

Freitag, 11.11.2010

Halle hat ein aufgelaufenes Defizit von 267 Millionen Euro. Es muss gespart werden, keine Frage. Aber was spart man in der Kultur? Ausgerechnet das von Annegret Hahn betreute avantgardistische Kindertheater Thalia, das flexible Strukturen hat und einen deutschlandweiten Ruf, der auch Drittmittelgeber überzeugt? Sieht ganz so aus, schreibt Christine Wahl in einer Reportage. An das neue theater, das die klassischen Aufgaben eines Stadttheaters hat, wagt sich niemand heran. "Zumal Christoph Werners Vorgänger [als Intendant des neuen theaters] Peter Sodann viele Schauspieler in den Unkündbarkeitsstatus gebracht hat, den es nach 15 Jahren festem Engagement gibt. So zeigt Halle exemplarisch eben auch die Gefährdung junger, flexibler Kräfte und Strukturen zugunsten einer alten Bewahrungsmentalität: Von Hahns 14 Schauspielern sind gerade mal drei unkündbar. Die anderen wird man durch 'Nichtverlängerung' ihrer Verträge im Nu los." (Hier Annegret Hahns Offener Brief zur drohenden Schließung als pdf, hier die Webseite der Protestbewegung Thalia21.)

Georg Seeßlen denkt über die Beliebtheit der Grünen nach. Kein Wunder, dass die anderen Parteien auf Distanz gehen: "So wie die SPD die Linke nicht akzeptieren kann, weil sie damit eine 'echte' sozialdemokratische Partei anerkennen würde, so können CDU und CSU die Grünen nicht anerkennen, weil sie damit eine 'echte' konservative Partei anerkennen würden. Und selbst die FDP bekam für kurze Zeit in der Piratenpartei eine Schattenpartei der 'echten' Liberalen."

TAZ, 11.11.2010

"Ein kleiner Schritt für die Menschheit, ein großer Schritt für das Jugo-Palaver", zitiert Doris Akrap den slowenischen Autor Drago Jancar zum Literaturfestival "Jugoslavija revisited", das am Wochenende in Wien stattfand, und berichtet: "Literaten als Beobachter und Deuter von Geschichte zu befragen, hat in diesem speziellen Fall auch etwas damit zu tun, dass Historiker des ehemaligen Jugoslawien, aber auch der Nachfolgestaaten nicht vertrauenswürdig sind... Der Mangel an wissenschaftlicher Geschichtsschreibung sei eines der größten Probleme, betonte auch die kroatische Schriftstellerin Slavenka Drakulic. Deshalb sei auch das Kriegsverbrechertribunal in Den Haag so wichtig. Sonst würde man noch heute daran zweifeln, dass es im bosnischen Srebrenica ein Massaker an 8.000 Zivilisten gegeben hat."

Weiteres: Cristina Nord unterhält sich mit Sofia Coppola über ihren neuen Film "Somewhere", Anke Leweke bespricht ihn. Jan Schepper besuchte eine Veranstaltung im Berliner Brecht-Haus, bei der Pop-Literat Thomas Meinecke und Musikwissenschaftler Peter Wicke über vier Jahrzehnte Pop im Osten plauderten. Rudolf Walther informiert über die Rede von Alfred Grosser bei der Veranstaltung zur Erinnerung an die Pogrome vom 9. November 1938 in der Frankfurter Paulskirche, die entgegen den Erwartungen keinen Eklat auslöste.

Und Tom.

FR, 11.11.2010

Stefan Keim beklagt drastische Sparpläne in der Kulturpolitik der Stadt Bonn. In Times mager lässt Christian Schlüter Alfred Grossers Paulskirchen-Rede zum 9. November Revue passieren, die nicht zum gefürchteten Eklat führte. Auf der Medienseite stellt Sebastian Moll die Promiwebsite TMZ mit Klatsch aus Hollywood vor.

Besprochen werden Filme, darunter die High School-Komödie "Einfach zu haben", Paul Westhoffs Film "Der letzte schöneHerbsttag", Yasmina Khadras neuer Roman (Leseprobe hier) "Die Schuld des Tages an die Nacht" (mehr hier), ein Frankfurter Konzert des Ensemble Modern mit Peter Eötvös und Piranesi-Ausstellungen in Mannheim und Venedig (Mannheim Kunsthalle, Venedig.

Welt, 11.11.2010

Im "deutschen Herbst" 1977 versammelte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt einige Autoren - darunter Max Frisch - um sich, um mit ihnen über die Ereignisse zu diskutieren. Jan Bürger, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Marbacher Literaturarchivs hat einiges über die näheren Umstände des Treffens heraus gefunden und liest Notizen Max Frischs zu dem Treffen. In der Leitglosse erklärt Elmar Krekeler, wie es kommt, dass Mario Vargas Llosas neuer Roman "Der Traum des Kelten" bei Rowohlt, und nicht, wie sonst, bei Suhrkamp erscheint. Rüdiger Sturm berichtet, dass die krisengeschüttelte Filmindustrie in Hollywood immer schlechtere Gagen für Regisseure zahlt. Hans-Joachim Müller war dabei, als Hubert Burda ein Buch über den "Iconic Turn" vorstellte und eine Schar von Intellektuellen dazu brachte, eifrig um ihn herum zu scharwenzeln. Johnny Erling erzählt neueste Episoden aus dem Drama um Ai Weiwei und die Stadt Schanghai, die sein Atelier abreißen lassen will.

Besprochen werden Ralf Westhoffs Film "Der letzte schöne Herbsttag" und Tony Scotts Actionfilm "Unstoppable - Außer Kontrolle" und ein von Patrice Chereau verantwortetes Wagner-Spektakel mit Waltraud Meier in den Hallen des Louvre.

Auf der Forumssseite stellt Günter Amendt klar, dass Gewalt in Familien keineswegs immer von Männern ausgeht, im Gegenteil: "Frauen schlagen häufiger."

Zeit, 11.11.2010

Braucht Flensburg ein Opernhaus? Im Dossier erzählt Konstantin Richter in einer sehr schönen Reportage vom bitteren Kampf um die Subventionen für städtische Bühnen: "Also Nabucco. Der neue Generalintendant hat sich das genau überlegt. Mit welcher Oper er einsteigt, ist wichtig. Ein große Produktion muss es sein, eine Produktion, die was hermacht. Kein Mozart, das wäre nicht groß genug. Auch nichts Modernes. Den Fehler hat der Generalintendant schon mal gemacht, Mitte der neunziger Jahre in Bremerhaven, als er gleich zwei Opern aus dem 20. Jahrhundert zeigte. Am Ende der Saison wurde das Stadttheater zum Opernhaus des Jahres nominiert und hatte 8000 Zuschauer weniger. So etwas kann sich der Generalintendant nicht mehr leisten."

Im Feuilleton ist ein Text von Siegfried Unseld abgedruckt, der ein Treffen von Bundeskanzler Helmut Schmidt mit Siegfried Lenz, Heinrich Böll, Max Frisch und ihm selbst im Herbst 1977 beschreibt. Nach langen Gesprächen über die Schleyer-Entführung und Landshut-Kaperung notiert Unseld: "Ich nahm in dieser Nacht Abschied von Vorstellungen, irgendwann einmal ein politisches Amt auszuüben. Ich möchte nicht Gewalt haben über das Leben von Menschen."

Weiteres: Boris Groys analysiert den Wahlkampf in den USA medientheoretisch, kunstphilosophisch und mit klarer Stoßrichtung: "Amerika scheint am Ende". Ijoma Mangold erkennt angesichts Martin Walsers neuer Ehrfurcht vor Ernst Jünger auf "weltumarmende Lekürefehlleistung". Jens Jessen geht im Streit zwischen Alice Schwarzer und Kristina Schröder auf Äquidistanz. Keine große Begeisterung weckt der Warschauer Chopin-Wettbewerbs bei Volker Hagedorn: Höchstens "Willen zur künstlerischen Formung" will er bei der Siegerin Julianna Awdejewa erkennen (hier ihr Konzert), beim zweitplatzierte Ingolf Wunder vermisst er bei aller Virtuosität Substanz (hier sein Konzert). Werner Hoffmann plädiert dafür die Aby-Warburg-Bibliothek nach Hamburg zurückzuholen. Hilal Sezgin läutet mit einem Besucht bei den Dreharbeiten eine neue Harry-Potter-Runde ein, nächste Woche kommt "Die Heiligtümer des Todes" in die Kinos.

Besprochen werden die große Doppelausstellung "Zeit und Gegenzeit" der feministischen Künstlerin Valie Export in Wien , Sofia Coppolas Hollywood-Film "Somewhere". Und Bücher, darunter Manfred Schneiders Geschichte des "Attentats" und Maureen Callahans Lady-Gaga-Biografie (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Im Chancen-Teil fragt Jan-Martin Wiarda, warum eigentlich junge Männer dafür bestraft werden, dass die immer noch in ihren Sesseln sitzenden alten Männer zu wenig Frauen eingestellt haben.

NZZ, 11.11.2010

Dirk Pilz wirft ein Schlaglicht auf Sebastian Hartmanns Centralheater in Leipzig, das gern alle Beteiligten überfordere. Besprochen werden eine opulente Ausstellung über den großen Impresario Serge Diaghilev und seine Ballets Russes im Londoner Victoria & Albert Museum und Haruki Murakamis neuer Monumentalroman "1Q84" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Auf der Filmseite bespricht Bettina Spoerri Sofia Coppolas Löwenprämierten Film "Somewhere". Michael Wenk erinnert zum hundertsten Geburtstag an den deutschen Komödienregisseur Kurt Hoffmann.

Tagesspiegel, 11.11.2010

Florian Mausbach, ehemals Präsident des Bundesamtes für Bauwesen und Raumordnung, plädiert für den Bau eines Bürgerforums unmittelbar neben dem zugigen Alexanderplatz, wo die SED einst Berlins Mitte wegrasierte: "Der Bau eines solchen Bürgerforums macht den Runden Tisch zur festen Institution und die kommunale Selbstverwaltung zum sichtbaren Dreiklang aus Abgeordnetenhaus, Rotem Rathaus und Bürgerforum. Alle drei Bauten aber bilden den Rahmen für einen großen Rathausplatz, als Markt- und Schauplatz der Bürgerschaft, zum Versammeln, zum Feiern und eines Tages zum Empfang des Deutschen Fußballmeisters! Erst dann ist Berlin wirklich Hauptstadt, Hauptstadt der Bürger."

SZ, 11.11.2010

Jens Bisky stellt die Arbeit der privaten Berliner Initiative "Kulturloge" vor, die Bedürftigen Eintritt zu Kulturveranstaltungen ermöglicht. Ein allzu "versöhnliches" Berliner Jazzfest vor dem Umbruch resümiert Ralf Dombrowski. Christine Dössel befürchtet für Bonn bei Umsetzung der jetzt verkündeten Sparpläne eine "Zukunft der Kultur- und Selbstvergessenheit". Jochen Arntz unterhält sich mit dem Kölner Historiker Carl Dietmar zur Karnevalseröffnung über "Frohsinn und Faschismus". Den Stand des Kunstfälschungsprozesses um angebliche Werke von Felix Nussbaum und Martin Kippenberger schildert kurz vor Prozessende Ute Eisenhardt. Joachim Käppner gratuliert dem Militärhistoriker Wolfram Wette zum Siebzigsten. Auf der Medienseite fragt Marc Felix Serrao nach den jüngsten Unruhen: Quo Vadis, Medienhaus Dumont?

Besprochen werden eine Einheits-"Tosca" in der Staatsoper im Schillertheater, die Kolonialismus-Ausstellung "Das Potosi-Prinzip" im Berliner Haus der Kulturen der WeltManoel de Oliveiras im Münchner Filmmuseum gezeigtes jüngstes Werk "The Strange Case of Angelica", neu anlaufende Filme, nämlich Rodrigo Cortes' Sargwerk "Buried", Tony Scotts Zugthriller "Unstoppable", Todd Philipps' Männerwitz "Stichtag" und Ralf Westhoffs Beziehungskomödie "Der letzte schöne Herbsttag", Ma und Bücher, darunter das linksradikalkommunale Manifest "Der kommende Aufstand" und Warlam Schalamows Erzählungen "Die dritte Schaufel" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

FAZ, 11.11.2010

In der Westsahara, der bis heute offiziell von Spanien verwalteten ehemaligen Kolonie, herrschen im Prinzip weiter koloniale Zustände. Marokko beutet das Land aus, Unabhängigkeitsbestrebungen werden im Keim erstickt, in Flüchtlingslagern in Algerien leben die Menschen seit Jahrzehnten in unwürdigen Bedingungen. Paul Ingendaay schildert die Versuche von Medien, Künstlern, der Öffentlichkeit, die Regierung zur Durchsetzung von UN-Beschlüssen zu bewegen: "Um an den ungelösten Konflikt zu erinnern, richten spanische Aktivisten jedes Frühjahr in einem saharauischen Flüchtlingslager ein Filmfestival aus. Fast alle wichtigen Schauspieler und Regisseure waren schon da, und vor einem halben Jahr brachte der Schauspieler und Oscar-Preisträger Javier Bardem persönlich 230.000 Unterschriften in den Moncloa-Palast von Madrid."

Weitere Artikel: In der Glosse kommt Lena Bopp auf die Idee, dass man die protestierenden Rentner von Stuttgart ja vielleicht als "flashmobartige und gehstockschwingende" Horde an andere Brennpunkte der Republik vermieten könnte. Frank Pergande fragt, wie lebendig das Werk des einst immens erfolgreichen Autors Fritz Reuter zu seinem 200. Geburtstag noch ist. Das heftig umstrittene Künstlerhaus in der im Westjordanland gelegenen Siedlerstadt Ariel ist nun, wie Joseph Croitoru berichtet, mit einer Aufführung des Musicals "Piaf" eröffnet worden. Gerhard Rohde schreibt zum Tod der Mezzosopranistin Shirley Verrett.

Auf der Kinoseite spricht Bert Rebhandl mit Lou Reed, der einen Dokumentarfilm über seine inzwischen 102jährige Cousine Shirley Novick gedreht hat, "eine polnische Jüdin, die als Immigrantin nach Amerika kommt und nach dem Krieg zu 'Red Shirley' wird, zu einer wichtigen Figur in der Gewerkschaft der Textilarbeiter". Andreas Platthaus fragt sich anlässlich eines aktuellen Falls, ob die Filmbewertungsstelle ihr für Fördergelder förderliches "Prädikat (besonders) wertvoll" verweigern darf, wenn ihr ein Film zwar künstlerisch gelungen, aber blasphemisch vorkommt. Hans-Jörg Rother berichtet vom Filmfest in Cottbus.

Besprochen werden Stephane Braunschweigs Inszenierung der Urfassung von Frank Wedekinds "Lulu" im Pariser Theatre de la Colline, ein Konzert von Ryan Bingham in München, die Ausstellung "Frank O. Gehry seit 1997" im Vitra Design Museum Weil, die CD-Einspielung "Live at the Village" des Lee Konitz New Quartet, das neue Posies-Album "Blood/Candy", Jens Schanzes Doku "Plug & Pray" (mehr) und Bücher, darunter die Autobiografie "Träume in Zeiten des Krieges" (Leseprobe hier) des an der Nobelpreisbörse in diesem Jahr hoch notierten Nguiwa Thiong'o (mehr dazu in der Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).