Magazinrundschau

Skala von Hintergedanken

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
02.10.2018. Der New Yorker würdigt die toughen amerikanischen Malerinnen der Nachkriegszeit. Der Merkur verbeugt sich vor einem farcierten Truthahn mit Himbeeren und François-Pierre de La Varenne, dem Begründer der Haute Cuisine. Das TLS erinnert an das immer noch ungesühnte Blutbad von Tlatelolco 1968. In Longreads erklärt Tim Mohr, warum der SED die Punks unheimlich waren. In n+1 bringt Navtej Singh Dhillon seinen Vater aus London zum Sterben zurück in den Punjab.

New Yorker (USA), 08.10.2018

In einem Beitrag des neuen Hefts erzählt Claudia Roth Pierpont anhand eines Buches von Mary Gabriel ("Ninth Street Women"), wie New Yorks Nachkriegs-Künstlerinnen wie Joan MitchellLee Krasner, Grace Hartigan oder Helen Frankenthaler um Aufmerksamkeit kämpften: "Beim Kampf der Frauen, sich zu positionieren, ging es um Inspiration, aber, Gabriel legt es nahe, Zugang zur Macht und das Wissen, wie sie zu benutzen war, war wichtiger als man zugeben mag. Weil sie keine eigene Macht besaßen, lernten die Findigeren unter ihnen, mächtige Männer zu instrumentalisieren, als Türöffner, Beschützer, Promoter. Elaine de Kooning war bekannt dafür, ihre Liebhaber danach auszuwählen, ob sie der Karriere ihres Mannes dienlich waren, doch sie sorgte auch für sich selbst." Geschenkt wurde ihnen jedenfalls nichts - und sie schenkten sich auch selbst nichts. Ein ganz schön tougher Haufen, den Gabriel da beschreibt: "Joan Mitchell, deren Talente sich noch immer weiterentwickelten, aber alles andere als unterlegen waren - sie war wohl die begabteste von ihnen - hatte dennoch viele Probleme. Hartgesotten, strapazierfähig, streitsüchtig, sah sie sich als den Jungs völlig ebenbürtig und fühlte sich wie Hartigan anderen Frauen nicht besonders verbunden: Sie bezeichnete Frankenthaler mit ihren gesprenkelten Leinwänden als "diese Tamponmalerin". Ihre eigenen Bilder waren abstrakte Explosionen von Energie und Farbe, die der älteren New Yorker Generation verbunden waren, aber mit ausgeprägten Spuren von Lyrik und Gewalt. Obwohl ihre Arbeit gute Kritiken erhielt, hatte sie keine großen Unterstützer in Museen oder in der Presse (und keinen berühmten Ehemann, im guten wie im schlechten), was helfen könnte, ihre Ressentiments gegenüber denen zu erklären, die einen hatten. In ihrem Privatleben litt sie trotz ihrer Härte an den falschen Männern, anstatt die richtigen zu benutzen, und manchmal waren ihre Beziehungen so gewalttätig wie ihre Kunst."

Außerdem: Alice Gregory berichtet aus dem letzten Mädcheninternat der Schweiz, dem Institut Villa Pierrefeu, wo sich internationale Etikette lernen lässt. Jill Lepore porträtiert die Frauenrechtlerin und Beisitzende Richtern am Supreme Court Ruth Bader Ginsburg. Larissa MacFarquhar besucht auf nostalgisch getrimmte Heime für demente Menschen. Amanda Petrusich hört das neue Album von Cat Power. Dan Chiasson liest Lyrik von Max Ritvo. Hilton Als porträtiert den Kostümbildner und Drag-Performer Machine Dazzle. Und Anthony Lane sah im Kino "A Star is Born" mit Lady Gaga.
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 06.09.2018

Im Interview mit Bence Kránicz spricht der Dichter, Schriftsteller und Kritiker József Keresztesi über die von der Regierung angekündigten Änderungen im Kultursektor. "Dieser ganze sogenannte 'Kulturkampf', der gerade abläuft, wäre vollkommen lächerlich, wenn er nicht aus Machtpositionen heraus befeuert würde. Vielleicht sollten wir gar nicht diesen Namen verwenden, denn es gibt hier keine sich streitende Standpunkte, nur zerstörerische Absicht, reine Provokation. Andererseits muss man sehen, dass 'die Jungs' Abschussfreigaben erteilen. Hier sind gleichzeitig die Stimmung der fünfziger Jahre und ihre Parodie präsent. ... Literatur erträgt langfristig lachend jeden Versuch, sie mit der Schere zurecht zu schneiden. (...) Literatur kann von allen Künsten am besten mit Angriffen umgehen. Institutionen aber können ernsthaften Schaden erleiden und dann entsteht eine Situation, die sich auf allen Beteiligten des literarischen Lebens auswirkt."
Archiv: Magyar Narancs

Merkur (Deutschland), 01.10.2018

Anatol Schneider verbeugt sich vor dem Ahnherr der Sterneköche, vor François-Pierre de La Varenne, der 1651 mit seinem Kochbuch "Le Cuisinier français" die Haute Cuisine begründete. Dabei dürfe man sich die hohe Küche nicht einfach als Fortsetzung der höfischen Küche des Mittelalter oder der Renaissance vorstellen, erklärt Schneider, vielmehr verdanke sie sich der Rationalisierung der anbrechenden Neuzeit, der politischen Entmachtung des Adels, dem Buchdruck und der kolonialen Erschließung der Welt: "Was nun zeichnet diese neue Küche nach dem Ende der höfischen Bankettkultur des Spätmittelalters und der Renaissance aus? Da ist die Abkehr von den orientalischen Gewürzen, von denen zunächst nur wenige und in reduzierter und pointierter Verwendung überdauern - wie Zimt oder Nelke. An ihre Stelle treten in verstärktem Maß die auch heute noch gängigen Küchenkräuter, Petersilie, Thymian, Rosmarin und andere. Generell werden die dezentere Würzung und eine stärkere Hinwendung zum 'natürlichen Geschmack' favorisiert. Auch im Hinblick auf die Auswahl der Speisen ändert sich einiges - die großen Vögel verschwinden völlig, gleichzeitig nimmt die Differenziertheit bei der Verwendung von Schlachttieren zu. Das sind Entwicklungen, die sich auch in La Varennes Werk finden. Was ihn aber zum Ahnherrn der modernen Haute Cuisine macht, ist etwas anderes: Es ist die innere Organisation, die das neue Kochen auszeichnet - seine Modularität."

Außerdem verabschiedet jetzt auch der frühere Merkur-Herausgeber Karl Heinz Bohrer mit einem Nachruf seinen fremden Genossen Kurt Scheel, der nichts so verabscheute wie "Franzosenphilosophie" und französische Gedichte: "Auch dies entsprach seinem 'moralischen Pragmatismus': Roman-Sätze hörten sich 'wahr' an, wenn sie gut waren. Sie erfassten Menschen und ihre Wirklichkeit. Was in den französischen Gedichten stand, war ausgedacht, überkandidelt, zum Teil pompös, so sein Empfinden. Und pompöse Menschen, also eine ganze Reihe Intellektueller, mochte Kurt Scheel auch nicht."
Archiv: Merkur

Times Literary Supplement (UK), 01.10.2018

Das Blutbad von Tlatelolco, bei dem 1968 Hunderte von mexikanischen StudentInnen von Militärs getötet, entführt und gefoltert wurden, ist bis heute nicht einmal in Ansätzen aufgeklärt, erinnert Lorna Scott Fox. Das Entstehen einer Zivilgesellschaft wurde duch das Massaker nicht aufgehalten, aber die Kultur der Straflosigkeit prägt das Land bis heute: "Straflosigkeit bleibt Mexikos große Schande. Felix Gamundi hat auch die Zukunft im Blick, wenn er sagt, dass das Ziel des Comité del 68 nicht Rache für altes Unrecht sei, sondern Wahrheit und Gerechtigkeit zu ihrem Recht zu verhelfen: 'Wenn Straflosigkeit herrscht, ist Demokratie nicht möglich.' Die Regierungen setzen die Lügen fort, sie vertuschen weiter und präsentieren Sündenböcke. Nur ein Beispiel, inklusive vorgetäuschter Ermittlungen und falscher, unter Folter erzwungener Geständnisse, ist das immer noch ungeklärte Verschwinden der 43 Lehramtsstudenten vom berühmten radikalen Ayotzinapa College in Guerrero im Jahr 2014. Sie hatten Busse geordert, um am jährlichen Gedenkmarsch am 2. Oktober in Mexiko Stadt teilzunehmen - die Erinnerung an  Tlatelolco ist noch immer eine offene Wunde."
Stichwörter: Mexiko, Tlatelolco, Sündenbock, Folter

La regle du jeu (Frankreich), 28.09.2018

Jean-François Pigoullié liefert eine lange, keineswegs nur positive Exegese der Serie "The Handmaid's Tale" nach dem Bestseller von Margaret Atwood, einer Parabel auf ein steriles evangelikales Amerika, in dem die Hauptfigur June als Gebärsklavin für die unfruchtbaren Herren gehalten wird. Pigoulliés Text kulminiert in einer Hommage auf Elisabeth Moss: "Die Eröffnungsszene sagt alles über die Entschlossenheit der June: Wer ihrem inneren Monolog zuhört, versteht, dass sie sich in ihre Erinnerungen versenkt, um eine Form des Widerstands gegen ihre Unterdrückung zu finden. In einem totalitären Regime, das ihre kleinsten inneren Regungen ausspioniert, gibt der Zwang, ihre Gedanken zu verstecken, Elisabeth Moss die Chance, ihr ganzes Talent zu zeigen: Bemerkenswert, wie sie eine ganze Skala von Hintergedanken ausdrückt, die in kompletten Gegensatz zu dem stehen, was ihr Mund sagt. Die Kluft zwischen ihrem Blick und ihrem Mund ist das hervorstechendste Merkmal ihres Spiels."
Archiv: La regle du jeu

Longreads (USA), 25.09.2018

Tim Mohrs im vergangenen Jahr zuerst auf Deutsch erschienenes Buch "Stirb nicht im Warteraum der Zukunft" über die Punkszene der DDR erscheint jetzt unter dem Titel "Burning down the House" auch im englischsprachigen Raum. Will Hermes hat sich mit dem amerikanischen Journalisten und Übersetzer Mohr zum Gespräch an einen Tisch gesetzt. Insbesondere auf die Rolle der Punks im Widerstand gegen das SED-Regime kommt Mohr zu sprechen: "Ich denke, eine der größten Leistungen der Punks war es, die Widerstandskraft anderer Gruppen zu stärken. Die Punks verloren nämlich ihre Angst vor der Polizei und dem Sicherheitsapparat. Sie wurden so oft gegängelt und geschlagen. Viele von ihnen saßen ihre Zeit im Knast ab, wurden entlassen und kämpften weiter. Ich denke, das sortierte die Lage für viele andere Gruppen, die das beobachteten, neu. Und als sich der Unmut auf die Straße bewegte, standen die Punks in der ersten Reihe - aufs Neue, weil sie keine Angst mehr vor der Polizei hatten. Sie wussten, dass man sie schlagen würde. ... Ich denke, das ist etwas, was die Diktatur am meisten in Angst versetzte: Die Tatsache, dass sie immer repräsentativ für Protest standen. Andere Gruppierungen konnte man über Nacht ins Gefängnis werfen, danach würden sie wieder in der Gesellschaft aufgehen. Die Punks aber brachten ihre oppositionelle Haltung jederzeit zum Ausdruck, wenn sie auf der Straße waren."

Eine der wichtigeren Ostpunk-Bands war L'Attentat aus Leipzig, der es damals gelang, ein Album auf Kassette außer Landes zu schmuggeln. Bei X-Mist Records erschien es dann auf LP.

Archiv: Longreads
Stichwörter: Punk, SED, Kassetten, 1980er

Eurozine (Österreich), 25.09.2018

Auf den Seiten von Eurozine verrät der weißrussische Autor Viktor Martinowitsch etwas über das europäische Element in den Künsten in Weißrussland, das unter der Oberfläche des überkommenen sowjetischen Konservatismus rumort, Vorbote einer neuen weißrussischen Kultur, die bald schon international auftrumpfen wird, meint er: "Es mag paradox klingen, aber aufgrund meiner Beobachtung der gegenwärtigen Wirklichkeit, wage ich zu behaupten, dass das sowjetische Projekt in der weißrussischen Kultur die kommenden 20 Jahre nicht überleben wird. Dass heute in Weißrussland Künstler arbeiten, die die europäische Linie in der weißrussischen Kultur repräsentieren, ist das Ergebnis einer Desintegration früherer Mechanismen. Ein ähnlicher Prozess ist dafür verantwortlich, dass die Arbeit des sowjetischen und kirgisischen Autors Tschingis Aitmatow in andere Sprachen übersetzt wurde: Er war Teil des Sowjet-Kultur-Projekts, für das er eintrat. Das Gleiche gilt für Wassil Bykau, Uladzimir Karatkewitsch und weitere. Auf eine Art ist der wohlverdiente Nobelpreis für Swetlana Alexijewitsch das Resultat ihrer Beziehung zu sowjetischen Umständen und dem System. Bisher spricht die neue Generation von Schriftstellern durch ihre Kunst über Themen, die für Europäer noch fremd klingen. Doch die jüngste Geschichte der Ukrainischen Literatur mit Namen wie Juri Andruchowytsch und Serhij Zhadan hat bewiesen, dass der Zugang zu einem breiteren europäischen Publikum auch Autoren möglich ist, die nicht notwendigerweise in der späten Sowjetzeit geschrieben haben. Daher möchte ich mit einer optimistischen Prognose schließen: Es ist gut möglich, dass es tolle in Weißrussland geborene Künstler gibt, deren Schicksal es nicht sein wird, auswandern zu müssen."
Archiv: Eurozine

HVG (Ungarn), 19.09.2018

Der Publizist Sándor Révész betont den universalen Charakter des Holocaust und plädiert dafür, dass die Holocaust-Erinnerung in Ungarn nicht gänzlich zu einer Angelegenheit der jüdischen Gemeinden wird: "Es sollte auch nicht beklatscht werden, wenn die Scheinheiligen des Regierungslagers mit gespaltener Zunge bei allen möglichen Anlässen den Holocaust als Tragödie der ungarischen Nation deklarieren und betonen, dass es 'ungarische Staatsangehörige' waren, die 1944 in den Tod deportiert wurden. Als wären die aus den nicht ungarisch-sprachigen Gebieten verschleppten Deportierten keine Opfer. Als wären neunzig Prozent der Opfer des Holocaust ohne ungarische Staatsbürgerschaft weniger Opfer, als jene, die durch den ungarischen Staat und durch den von Viktor Orbán wiederholt angepriesenen Staatsmann, Miklós Horthy, an die Henker ausgeliefert wurden. Wer über die tragischen Erkenntnisse des Holocaust in Ungarn sprechen will, der sollte nicht die nationale Zugehörigkeit der Opfer betonen, sondern die Mitwirkung von Ungarn."
Archiv: HVG

El Pais Semanal (Spanien), 30.09.2018

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"Wie Gabriel García Márquez einmal eben schnell einen Verlag rettete (der gar nicht sein Verlag war)." Der spanische Journalist Juan Cruz rekapituliert die Geschichte des berühmten spanischen Verlags Tusquets Editores, der nächstes Jahr seinen fünfzigsten Geburtstag feiert und sich in seiner Bedeutung für die spanischsprachige Welt mit der des Hanser-Verlages hierzulande vergleichen lässt. Seit kurzem befindet Tusquets sich allerdings unter dem Dach der Planeta-Verlagsgruppe. "Als der Bankrott drohte, rief Beatriz de Moura, die den Verlag erst ein Jahr davor mit ihrem damaligen Mann, dem Architekten Oscar Tusquets gegründet hatte, García Márquez an, den sie im Nachtleben von Barcelona kennengelernt hatte, als er noch kein berühmter Schriftsteller war: 'Gabo (wie García Márquez' Spitzname lautete), du bist sehr reich, und Tusquets braucht Geld.' Worauf der eher wortkarge García Márquez, der sich bereits im Erfolg seines Romans 'Hundert Jahre Einsamkeit ' sonnte, erwiderte: 'Ich schenk dir was, das dich reich machen wird.' Dieses Geschenk waren die Rechte an der Jahre zuvor in der Zeitschrift El Espectador veröffentlichten Reportage Bericht eines Schiffbrüchigen, die in Buchform in über hundert Auflagen millionenfach verkauft wurde und Tusquets buchstäblich vor dem Schiffbruch rettete."
Archiv: El Pais Semanal

n+1 (USA), 02.10.2018

Navtej Singh Dhillon ist homosexuell, lebt in Amerika, hat einen Geliebten mit muslimisch-pakistanischem Hintergrund. Auch sein Vater lebt im Westen, doch als er an Krebs erkrankt, bittet er seinen Sohn, ihn nach Hause zu bringen, nach Indien. Für Singh - indischer Ursprung hin oder her - keine ganz leichte Übung, erzählt er: "Das war Punjab im Jahr 2013, wo in Dörfern wie Khanpur, sieben Autostunden von Delhi entfernt, der Feudalismus intakt geblieben ist. Die Dorfbewohner betrachten den ganzen Ort als Jagir meiner Familie, ein Landgeschenk, das wir in den frühen 1800er Jahren vom Maharadscha Ranjit Singh erhalten hatten. Damit stehen wir an der Spitze der Hierarchie. Bauern und Arbeiter nannten meinen Vater Sardar, ihren Herrn. Seit drei Generationen haben die Männer meine Familie hauptsächlich im Westen gelebt, aber sie waren gegen Ende ihres Lebens nach Khanpur zurückgekehrt.'Bring mich zurück nach Indien', hatte mein Vater an einem regnerischen Londoner Abend zu mir gesagt, als wir nach seinem letzten Arzttermin nach Hause fuhren ... Ich ärgerte mich über diese Störung meiner Karriere und meines Privatlebens. Ich machte mir vor allem Sorgen darüber, was die Krankheit meines Vaters über mich verraten könnte. Ich war 36 Jahre alt und unverheiratet. Jahrelang stand jedes Mal, wenn ich fortging, Nina in der Einfahrt - die Familienmagd aus Bihar, die rosa-grüne Armreifen an Händen trug, die wie die Rinde eines toten Baumes gehärtet sind - und bot mir ihren Enkel zur Adoption an. 'Dieses Haus', würde sie sagen und auf das Dach zeigen, 'hat noch keinen Tag der Freude erlebt.'"
Archiv: n+1
Stichwörter: Delhi, Adoption