Ein Japaner durchwandert systematisch die
Straßen japanischer Städte, stets vor sich und dicht am Körper: eine
Videokamera. Dabei schickt er keine touristischen Video-Postkarten, vielmehr führen seine Wege oft durch Hintergassen und wenig repräsentative Orte, manchmal ist es nachts und es regnet, gelegentlich hält er inne und verweilt an einem Ort. Man könnte sich sicher spannenderes vorstellen, um seine Abende mit solchen oft stundenlangen Videos zuzubringen. Und doch
verspürt Aaron Gilbreath in Zeiten der
Coronakrise, der
Isolation und des Home-Schoolings derzeit keinerlei Interesse an den vollgepackten Archiven der großen Streaming-Anbieter, sondern folgt in den abendlichen Stunden der Stille begierig den meditativen Videos dieses
Youtube-
Nutzers, der sich hinter dem Pseudonym
Rambalac verbirgt und von dem ansonsten so gut wie nichts bekannt ist. In einem melancholischen Essay umkreist Gilbreath dieses sonderbare Interesse an ereignisarmen Videos, die ihn immer wieder auf sich selbst zurückwerfen: "Wir Amerikaner hocken hinter unseren Türen und warten darauf, dass das Virus unsere Gemeinden so dezimiert wie zuvor die Italiens und dass die Leichen
Gräber füllen, die nur wenige ausheben wollen. Die aufreibende Erwartung macht einem zu schaffen, sie hinterlässt eine Leere im Magen, die sich mit Gartenarbeit und starken Cocktails kaum füllen lässt. Es gibt keine wirkliche Flucht vor der Realität. Ich sehne mich nach einer kurzen psychologischen Pause am Ende dieser langen Tage, die der Frühling lang und länger werden lässt. ... Ich betrachte diese Videos und merke mir Ecken in Tokios Wohngegenden, die ich wohl
nie besuchen werden. Ich studiere Karten mit Flüssen, deren Wasser ich wahrscheinlich nie berühren werde, einfach nur um wenigstens ein kleines bisschen zu begreifen, wie diese unglaubliche, wuselnde Stadt zusammengesetzt ist - dieses
Meisterwerk menschlicher Erfindungskraft, wie so viele anderen Städte auch, die nun zum Stillstand gekommen sind. Rambalac hat mir dabei geholfen, mein Bewusstsein zu erweitern, während Angst und Müdigkeit sich einfraßen. All diese Bewegungen, all
dieses Lernen belebte mich. Wie sich herausstellt, wollte ich nicht nur meinem Verstand eine Auszeit gönnen. Ich wollte weiterhin etwas über die Welt lernen, ihre Kulturen erfahren und mich unter Leuten bewegen, wenn auch nur in den
Korridoren meiner Einbildungskraft. Vielleicht ist es nicht totale Flucht, nach der ich mich verzehre, sondern Hilfe während einer Phase des Übergangs. Vielleicht brauchen wir, während wir uns der nervenaufreibenden Realität noch anpassen,
eine Brücke aus der alten Welt in die neue."
Hier Rambalacs Streifzug durchs verregnete Japan bei Nacht: