Magazinrundschau

Wir alle haben bei ihnen studiert

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
06.04.2010. Die Weltwoche schildert den Nervenkrieg zwischen  Adolf Muschg und Peter von Matt um Max Frisch. The Nation erklärt, warum Raul Hilberg so verbittert über Hannah Arendt war. In Nepszabadsag erklärt Agnes Heller den Ungarn, die diese Woche wählen werden: Wir dürfen uns nicht vor den Rechten ducken. In der LRB betrachtet Colm Toibin eine Fliege auf dem Halstuch des Giovanni Agostino della Torre. In Telerama singt Claire Denis ein kleines Liebeslied auf die Fremdenlegionäre. Tygodnik meint: Die Mexikaner verstehen Kapuscinski viel besser als die Polen. Die New York Times fragt: Kann man Tiere schwul oder lesbisch nennen?

The Nation (USA), 19.04.2010

Bei der Lektüre dieses faszinierenden Essays von Nathaniel Popper fällt's einem wie Schuppen von den Augen: Hannah Arendts berühmtes Buch "Eichmann in Jeruslam" basierte auf den Erkenntnissen Raul Hilbergs aus "The Destruction of the European Jews" - einem Buch also, das damals so gut wie unbekannt war und das erst gut zwanzig Jahre später Anerkennung erlangte. Nathaniel Popper macht diese komplexe geistesgeschichtliche Konstellation lebendig, die Hilberg zutiefst verbitterte. Man erfährt, dass Arendt Hilbergs Studie bereits als Typoskript kannte und der Princeton University Press von der Veröffentlichung abriet - was Hilberg wusste. Als Arendts Reportage in Buchform erschien, wies sie durchaus (wenn auch in Klammern) auf die epochale Bedeutung von Hilbergs Studie hin. Aus kleinen Verfehlungen und großen Verdiensten konstruiert Popper das jetzt erst komplette Gesamtbild: "So wie Arendt nicht genug auf Hilbergs Verdienste verwies, so unfähig war Hilberg, ihre Einsichten anzuerkennen. In ihrer Schrift über Eichmann hatte sie eine kühne neue Sicht darüber entwickelt, wie gewöhnliche Deutsche in die Maschinerie der Zerstörung gezogen wurden, eine Thematik, die Hilberg vermieden hatte. Auch wenn sich Arendt einige Freiheiten mit Hilbergs Fakten nahm, war sie doch eine wichtige Übersetzerin seiner Forschungsergebnisse und verhalf einem Buch zu Sichtbarkeit, das leicht ins akademische Abseits hätte fallen können."
Archiv: The Nation

Weltwoche (Schweiz), 30.03.2010

Instruktive, aber nicht ganz unpikante Details aus dem Schweizer Literaturleben bringt Pia Reinacher in einem längeren Essay zu den Wirren um Max Frischs nachgelassene "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch", die erst in zwei Wochen erscheinen, aber im Schweizer Teil der Zeit (von dessen Existenz wir erst jetzt erfuhren) unter Brechung der Sperrfrist schon am 18. März besprochen wurden. Der Artikel ist im Netz nicht mehr zu finden ("Fehler 404"). Die Autoren Julian Schütt und Peer Teuwsen wenden sich darin laut Reinacher gegen die Veröffentlichung und nehmen Argumente Adolf Muschgs auf, der ebenfalls in einem Gutachten abgeraten hatte. Reinacher schildert es als Episode in der facettenreichen Rivalität der Schweizer Literaturgranden Muschg und seines Widerparts Peter von Matt, des Herausgebers der "Entwürfe": "Beide haben ein lustbetontes Verhältnis zur Macht. Beide sind nicht ohne Eitelkeit. Gerne profilieren sie sich bei jeder Gelegenheit als Instanzen und haben inzwischen zu so etwas wie Ratgebern der Öffentlichkeit in allen Lebenslagen mutiert. Beide lieben die Freundschaft von Politikern und lassen gerne durchblicken, wann welcher Bundesrat sie zum Essen eingeladen hat. Beide pflegen ihr gesellschaftliches Beziehungsportfolio mit dem eiskalten Kalkül eines Anlageberaters, um die eigenen Aktien zu optimieren. Beide verfügen in der Medienszene über ein getreues Stoßtrüppchen von ehemaligen Schülern - wir alle haben bei ihnen studiert und promoviert..."
Archiv: Weltwoche

Nepszabadsag (Ungarn), 03.04.2010

In Ungarn stehen Wahlen bevor, es droht ein Triumph der extremen Rechten. "Der wirtschaftliche Bankrott ist Ungarn erspart geblieben. Kann aber der politische Bankrott noch abgewendet werden?", fragt sich die Philosophin Agnes Heller angesichts des Phänomens "Jobbik", der rechtsradikalen Partei, die sich vor allem unter Jugendlichen enormer Popularität (bei etwa 15 Prozent) erfreut. Sie fordert Zivilcourage von den Ungarn: "Wir müssen uns trauen, unserem Nachbarn zu sagen, dass er bestimmt selbst nicht versteht, was er da sagt, wir müssen rassistische Parolen Grölende in der Straßenbahn zurechtweisen. Wir, die stille Mehrheit, dürfen uns nicht ducken, sondern müssen uns offen dazu bekennen, dass wir all jene, die unsere Demokratie gefährden, satt haben."
Archiv: Nepszabadsag
Stichwörter: Heller, Agnes, Zivilcourage

Babelia (Spanien), 27.03.2010

Hector Abad spricht - beziehungsweise schreibt - im Interview übers Interviewtwerden: "Während ich spreche, kann ich nicht denken. Darum habe ich ein Heft dabei: Ich werde dir jedesmal sofort schriftlich antworten." Nach einer Schreibpause geht es weiter (Abad hält dem Interviewer sein Heft hin): "Beim Sprechen lasse ich mich viel zu sehr ablenken, auch von Gesicht und Blick meines Gegenüber. Ich muss so vieles gleichzeitig unter Kontrolle haben: Meine Stimme, was um mich herum vorgeht... Beim Schreiben dagegen verschwindet die Welt wie von Zauberhand und es gibt bloß noch drei Finger, die einen Kugelschreiber halten, der sich über ein Blatt Papier bewegt, oder einen Computerbildschirm. Ich war schon immer der Meinung - und die, die mich kennen, wissen das -, dass ich zwei Persönlichkeiten besitze: eine schriftliche, und eine, die spricht. Beim Sprechen bin ich außerdem viel zu versöhnlich und gebe dem anderen viel zu schnell recht. So bin ich, aber so bin ich auch erzogen worden: Widersprechen galt als schlechtes Benehmen. Wir Lateinamerikaner sind unglaublich höflich, unsere Gedanken verpacken wir immer in guten Manieren. Außerdem bin ich inmitten von lauter Frauen aufgewachsen, die viel besser sprachen als ich. Das tun Frauen immer: Sie sprechen schneller, witziger, ihnen fällt einfach mehr ein."
Archiv: Babelia
Stichwörter: Abad, Hector, Lateinamerika

Commentary (USA), 05.04.2010

Anne Bayefsky vom Hudson Institute kritisiert die Menschenrechtspolitik der Obama-Regierung, die sich nicht aus dem UN-Menschenrechtsrat zurückzieht. Und sie resümiert noch einmal den Verfall dieser Institution, die sie heute dominiert sieht von der Organisation der Islamischen Konferenz. Seit Jahren konzentriert sich der UN-Menschenrechtsrat vor allem auf Israel: "Die anderen 187 Staaten auf diesem Planeten bekommen einen Freifahrtschein des Rats, trotz der in Nigeria ermordeten Christen, der Geschlechterapartheid in Saudi Arabien, der systematischen Folter in Ägypten, Chinas eiserner Faust, des Genozids im Sudan und der ermordeten Menschenrechtskämpfer in Russland. Alles in allem richteten sich in der vierjährigen Geschichte des neuen Rats mehr als die Hälfte aller einen Staat betreffenden Resolutionen und Entscheidungen gegen Israel."
Archiv: Commentary

Elet es Irodalom (Ungarn), 02.04.2010

Der Dokumentarfilm ist, trotz des überraschend starken Wettbewerbsprogramms während des ungarischen Filmfestivals im Februar, immer noch das Stiefkind der ungarischen Filmindustrie, schreibt der Filmkritiker Lorant Stöhr: "Dabei hätte in der ungarischen Kultur durchaus auch der Dokumentarfilm eine Funktion. Die radikalen Reaktionen, die vereinfachenden Argumentationen, die primitive Suche nach dem Sündenbock, die Verbreitung historischer Illusionen weisen darauf hin, dass die ungarische Gesellschaft weder sich selbst noch ihre Nachbarn kennt, und dass sie in ihren hitzigen Meinungsäußerungen von der unterhaltenden und vereinfachenden Rhetorik der Medienindustrie geleitet wird. Wo sonst könnte dem Dokumentarfilm eine wichtigere Rolle zukommen, als im Aufdecken der gesellschaftlichen Prozesse und der historischen Ereignisse, in deren nach Vielseitigkeit strebenden Interpretation und lebendiger Darstellung? Die mangelnde Selbstkenntnis der ungarischen Gesellschaft ist unter anderem auch dem Umstand zu verdanken, dass der Dokumentarfilm an die Peripherie gedrängt wurde."

London Review of Books (UK), 08.04.2010

Der irische Schriftsteller Colm Toibin schreibt über den Renaissancemaler Lorenzo Lotto, den er spürbar außerordentlich schätzt. Er konzentriert sich dabei auf das Gemälde "Giovanni Agostino della Torre und Sein Sohn, Niccolo". Sehen kann man es hier. Toibins intensive und genaue Deutung des Gemäldes rückt das Bildnis spekulativ in die Nähe der unmittelbar bevorstehenden Reformation - ist aber auch voller sehr schöner Einzelbeobachtungen und Thesen: "Ich weigere mich, die Fliege, die auf dem Halstuch des Vaters gelandet ist, als Symbol von irgendetwas zu sehen. Das ist eine Fliege und sie ist mit großer Feinheit gemalt. Sie ist da, sich ausruhend vom Flug. Sie ist ein Witz - wie die Eidechsen, Eichhörnchen und Katzen als Amüsements zur Ablenkung des Auges auf anderen Lotto-Gemälden erscheinen. Sie gibt dem Gemälde eine andere Art Leben, ebenso wie die Tinte, die um das Tintenfass kleckst, genauso die Art, wie die Bücher gestapelt sind und die Art, wie die Papiere auf dem Schreibtisch liegen. Möglicherweise braucht das Gemälde all das wegen der Bewegungslosigkeit der Zentralfigur. Die Fliege stört den Eindruck, dies Porträt stelle keinen in der Zeit Lebenden dar, den Eindruck, dass der Vater, anstatt von diesem Gemälde im Leben erfasst zu sein, von ihm in ein Reich anderer Art verbracht worden sei."

Telerama (Frankreich), 04.04.2010

Telerama hat ein ausführliches und mit vielen Filmausschnitten garniertes Interview mit der großen Claire Denis geführt. Sie erinnert sich unter anderem an ihren Film "Beau Travail" über die Fremdenlegion, der auch eine politisch gar nicht korrekte Feier der Schönheit männlicher Körper war: "Wenn man die gravitätischen Märsche der Legionäre sieht, dann sieht man die Legion, bevor man die Soldaten sieht. Diese Zugehörigkeit trennt sie und vereinigt sie zugleich. Selbst wenn mir die Legion einige Drehgenehmigungen versagt hat, weil man erklärte, dass man mit den 'Schwuchteln' aus meinen Film nichts zu tun haben wollte, habe ich einige Legionäre weinend aus meinem Film gehen sehen... Ich selbst muss manchmal noch ein bisschen weinen, wenn ich Denis Lavants Tanz am Ende des Films sehe. Ich verstehe, dass ein Mann, der zur Legion gehört hat und dann ausgeschlossen wird, Lust hat zu sterben. Wer ein solches Leben kennen gelernt hat, will nicht mehr anders leben."
Archiv: Telerama
Stichwörter: Denis, Claire

Tygodnik Powszechny (Polen), 04.04.2010

Die Debatte um die Kapuscinski-Biografie wurde in Polen zu provinziell geführt, meint Maciej Wisniewski. Zum Beispiel lohne ein Blick auf Lateinamerika, wo der Reporter anders wahrgenommen wurde: "Die Lesart seiner Werke sagt viel über die Lesenden aus und die Zeit, in der sie leben. Man kann schwerlich dagegen argumentieren, dass 'König der Könige' die regierenden Kommunisten beschreibt, aber dass dies ständig wiederholt wird, zeigt unser intellektuelles Klima, das durch späte Abrechnungen mit dem Kommunismus dominiert wird. Das zeigt sich nicht nur durch das Aufspüren aller Verbindungen zum alten System (auch an der Person 'Kapus'), sondern auch durch Ausschluss aller politischen Projekte, die gegen den neoliberalen common sense argumentieren. Vielleicht liegt darin die Antwort auf die Frage, warum Kapuscinski, dessen Einstellung zu diesen Fragen so sehr von der Stimmung im Lande abwich, so gerne ins Ausland fuhr, und die Workshops in Lateinamerika geführt hat. Vielleicht konnte er sich dort 'ohne Fußnoten' verständigen, ohne erklären zu müssen, dass der Kampf um eine bessere Welt nichts mit dem Realsozialismus zu tun hat. Ich habe den Eindruck, dass die Mexikaner da viel weiter sind als wir."

Lange galt der Sarmatismus in Polen als Grund für den Niedergang des Landes im 18. Jahrhundert. Aus Anlass einer Krakauer Ausstellung plädiert die Architekturhistorikerin Marta A. Urbanska dafür, die polnische Adelskultur neu zu bewerten: "Nach den Erfahrungen der Teilung, der Nationalismen, der Totalitarismen des 20. Jahrhunderts fällt es uns schwer, uns vorzustellen, was die Republik beider Nationen war. Auch, weil man die Nation damals politisch und nicht ethnisch begriff. (...) Der Sarmatismus war eine Sprache, die Ost und West verband, und dies stellt seinen größten Wert dar. Wir hatten zu der Zeit die Fähigkeit, unterschiedliche, auch gegensätzliche Kulturelemente aufzunehmen - von Paris bis Afghanistan - so dass sie zu einem originellen Ganzen verschmolzen. Deswegen ist der Sarmatismus mehr (und anders) als eine polnische, provinzielle Version des gegenreformatorischen Barocks".

Andrzej Brzeziecki will nicht mehr und nicht weniger als die Geschichte Europas neu schreiben lassen: "Ich kann nicht für alle Menschen des Westens sprechen, aber es ist beschämend, dass Polen vergessen hat, was es dem östlichen Erbe verdankt. Wir haben uns die Überzeugung aufstülpen lassen, dass die Zivilisation und die Kultur nur in West-Ost-Richtung gingen". Die Übernahme der westlichen Meistererzählung war eine Strategie, um während und nach dem Kommunismus Anschluss zu finden, doch generierte dies nur Komplexe. "Vielleicht sind diese Ergebnis von Phantomschmerzen nach dem Verlust der östlichen Dimension unserer Identität. Die Heilung könnte in der Aufwertung der slawisch-byzantinischen Anteile in Polen und Europa bestehen", schreibt der Publizist und Chefredakteur von Nowa Europa Wschodnia.

New Statesman (UK), 01.04.2010

Der britische Autor und Vatikan-Spezialist John Cornwell versucht sich die verharmlosenden Reaktion des Papstes auf den Kindesmissbrauch durch katholische Priester zu erklären und kommt zu dem Schluss, dass für den Papst Kindesmissbrauch eher einen Verstoß gegen geistliche Gebote als ein weltliches Verbrechen darstellt. "Benedikts Initiativen gegen die pädophilen Priester zielen denn auch eher auf übernatürliche denn auf menschliche Abhilfe. Er hat dekretiert, dass Hostien (von denen Katholiken glauben, sie seien 'Körper, Blut, Seele und Göttlichkeit Jesu Christi) in Hunderten von Kirchen in Irland zur Anbetung ausgestellt werden sollen. Er hat gelobt, Geistliche ins Land zu schicken, um die Seminare, Klöster, Gemeinden und Diözesen zu überprüfen. Diese spirituellen Stoßtruppen werden das Evangelium neu verkünden, um die irischen Priester und Nonnen zu beschämen. Sie werden Gebete anführen, Homilien halten und Beichten hören. Im selben Brief gibt der Papst geistlichen Fehlinterpretationen der Reformen des zweiten Vatikanischen Konzils die Schuld. Mit anderen Worten: katholische Liberale haben letztlich irischer Geistliche verführt und von ihrer priesterlicher Frömmigkeit abgebracht."

Außerdem denkt Terry Eagleton über das Böse nach, das erst mit Freud und schließlich mit der Postmoderne ein wenig aus der Mode gekommen ist: "Im Großen und Ganzen können postmoderne Gesellschaften trotz ihres Faibles für Monster und Vampire mit dem Bösen wenig anfangen. Vielleicht liegt das daran, dass dem postmodernen Menschen - cool, nicht festgelegt, gelassen und dezentriert - die Tiefe fehlt, die wahre Zerstörungslust braucht. Im Postmodernismus muss nichts erlöst werden. Für die großen Modernen wie Franz Kafka, Samuel Beckett oder den jungen T.S. Eliot gab es noch sehr wohl etwas, das gerettet werden musste, es war nur unmöglich geworden zu sagen was. Becketts verlassene, verwüstete Landschaften erscheinen wie eine einzige nach Erlösung schreiende Welt. Aber Rettung setzt Verlorenheit voraus, Becketts nichtsnutzige, bedeutungslose menschliche Figuren sind zu versunken in Apathie und Trägheit, um auch nur milde unmoralisch sein. Sie bringen nicht die Kraft auf, sich selbst zu hängen, schon gar nicht, ein ganzes Dorf voller unschuldiger Menschen in Brand zu stecken."
Archiv: New Statesman

Magyar Narancs (Ungarn), 25.03.2010

Der ungarische Schriftsteller György Dalos hat am 17. März für sein Buch "Der Vorhang geht auf - Das Ende der Diktaturen in Osteuropa" den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2010 erhalten. Agnes Szabo fragte den Preisträger, weshalb bislang noch kein ähnliches, zusammenfassendes Werk über die Wende erschienen ist. Dalos fürchtet, dass die Wende bereits "in Vergessenheit geraten ist. [...] Auch die aktiven Teilnehmer waren ziemlich bald enttäuscht, es kam anders, als sie es sich gewünscht hatten: Sie wollten keine Sowjetunion und keine Abhängigkeit, sie wollten demokratische Institutionen - die Frage aber, ob wir einen Sozialismus oder einen Kapitalismus wollen, hat damals niemand gestellt. Die Presse und die Welt diskutierten Theorien über einen 'dritten Weg'. Inzwischen sind zwanzig Jahre vergangen, wir denken nicht mehr in Ideologien, sondern in den Kategorien 'besser' und 'schlechter'. Während '89 für viele den Aufstieg bedeutete, mussten andere Gruppen, und nicht zwangsläufig die früheren Eliten, einen Abstieg erleben. Daraus wuchsen Enttäuschungen, soziale und politische Spannungen. Zudem brachte das alte System neben den tatsächlichen Freiheitsbeschränkungen auch eine subjektive Abhängigkeit vom Staat hervor: Die Bevölkerung ging davon aus, dass der Staat für alles Verantwortung trägt. Ein Nebenprodukt des Freiheitsmangels war ein Verantwortungsmangel. Wir waren keine richtigen Bürger, keine unabhängigen Individuen eines demokratischen Systems, die fähig sind, über ihr eigenes Schicksal zu entscheiden und dann die Verantwortung dafür zu tragen."
Archiv: Magyar Narancs

New York Times (USA), 04.04.2010

Das Titelbild des New York Times Magazines zeigt zwei entzückende weiße Kaninchen, fotografiert von Jeff Koons. Die Frage, die in Regenbogenfarben darüber liegt, lautet: Sind sie schwul? Jon Mooallem hat Wissenschaftler besucht, die gleichgeschlechtliche Handlungen bei Tieren untersuchen. Bei 450 Arten wurden man bisher fündig. Diese Untersuchungen, erklärt er, haben auch einen großen Einfluss auf die Vorstellung von menschlicher Sexualität. "In der viktorianischen Ära wurden Beobachtungen gleichgeschlechtlicher Handlungen zwischen Schwänen oder Insekten als Beweis dafür angesehen, dass Homosexualität bei Menschen unmoralisch ist. Denn zu Beginn der Industrialisierung und des Darwinismus glaubten die Menschen, sie seien zivilisierter als die 'niederen Tiere'. Robert Mugabe und die Nazis haben dieselben Argumente benutzt, ebenso die Antischwulen-Aktivistin aus den Siebzigern, Anita Bryant, die, wie der Biologe Bruce Bagemihl [in seinem 1999 erschienenen Buch 'Biological Exuberance'] notiert hat, in einem Interview behauptete, 'nicht einmal Farmtiere tun, was Homosexuelle tun'. Sie blieb unbeeindruckt, als der Interviewer ihr erklärte, was tatsächlich auf einem Bauernhof alles geschieht. Auf der anderen Seite hat eine australische Drag Queen, bekannt als Dr. Gertrud Glossip, Bagemihls Buch benutzt, um eine feierliche Schwule-Tiere-Tour für schwule und lesbische Touristen durch den Zoo von Adelaide zu gestalten. Bagemihls Buch wurde auch zitiert in einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs 2003, die das Sodomieverbot in Texas abschaffte, und es wurde zitiert in einer britischen Parlamentsdebatte um ein neues Gesetz."
Archiv: New York Times