Magazinrundschau
Die Magazinrundschau
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.08.2006. Vanity Fair sieht die New York Times am Internet und Arthur Sulzberger jr. untergehen. In Elet es Irodalom fragt Rudolf Ungvary, warum Günter Grass nach seinen Erfahrungen im Dritten Reich schweigt, wenn der Iran Israel bedroht. Im Express sprechen Ornette Coleman und Bob Dylan über ihre Musik. Im Spiegel beschreibt Salman Rusdie die islamischen Terroristen als bourgeoise Abenteurer. Il Foglio empfielt UN-Soldaten im Libanon Rossinis "Die Italienerin in Algier" als Handbuch für Benehmen im Feindesland. Die Gazeta Wyborcza beobachtet den Aufbau einer nationalen ukrainischen Geschichtsversion. Prospect feiert den sowjetischen Schriftsteller Wassilij Grossman. In den Blättern für deutsche und internationale Politik erklärt der inhaftierte iranische Philosoph Ramin Jahanbegloo seinen Begriff des "weichen Universalismus". In Babelia wettert der holländische Architekt Felix Claus wider den Geniekult seiner Zunft. Wired erklärt den Erfolg des Internetmagazins Pitchfork.
Vanity Fair | New Yorker | Polityka | Babelia | Economist | Point | Wired | New York Times | Elet es Irodalom | Express | Spiegel | Foglio | Gazeta Wyborcza | Prospect | Blätter f. dt. u. int. Politik | Reportajes
Vanity Fair (USA), 01.09.2006

Elet es Irodalom (Ungarn), 25.08.2006

Unmittelbar vor dem 50. Jahrestag des ungarischen Aufstandes von 1956 erschien eine umstrittene Monografie von György Moldova über Janos Kadar, den Diktator des Gulaschkommunismus, der an der Niederschlagung des Aufstandes maßgeblich beteiligt war. Moldova feiert Kadar als eine bedeutende historische Persönlichkeit. Peter Esterhazy mag das Buch nicht verurteilen: "Wir wiederholen automatisch immer die gleichen Sätze: Kadar sei Verräter und Mörder gewesen. Auch wenn das stimmt, es bleibt ein Klischee, ein Alibi... All das resultiert auch aus einem tiefen Desinteresse: wenn wir uns für das Thema wirklich interessieren würden, dann würden wir uns nicht mit hervorgerülpsten Stereotypen zufrieden geben."
Express (Frankreich), 24.08.2006

In einem weiteren Interview gibt Bob Dylan ausführlich Auskunft über sein neues Album "Modern Times". Sein Stimmeinsatz darauf sei bewusst gedämpfter als gewohnt, nicht so nasal ausgefallen und er habe sich bei einigen Stücken um eine "Retroatmosphäre" bemüht. Auf die Frage nach den Gründen, antwortet er: "Die eigene Identität kann sich in der Musik auflösen. Ich meine damit: Man kann zum Beispiel glauben, man sei ein Bluesman oder ein Rocker oder ein Songwriter... Und trotzdem, wenn man wirklich aufmerksam eine andere Musik hört, entdeckt man, dass es noch andere Dinge in einem gibt. Man ist jemand, den man nicht mehr kennt. Es ist normal, dass mein Stil sich entwickelt: Der Großteil der Kompositionen auf diesem Album sind Bluesstücke, jazzige Balladen und natürlich Folksongs, langsam oder in einem Cowboy-Rhythmus. Das ist normal, weil ich mir meine Platten wie Filme vorstelle, die von der amerikanischen Identität erzählen. In Amerika will man uns immer glauben machen, wir seien Erfinder! Klar, aber Amerika vergisst oft, dass alles, was man erfindet Teil einer Vergangenheit, alter Einflüsse ist... Wenn meine persönlichen Einflüsse von Pete Seeger, Woody Guthrie, Allen Ginsberg und Jack Kerouac kommen, dann auch vom Jazz und vom Blues der Schwarzen!"
Spiegel (Deutschland), 28.08.2006

Alexander Smoltczyk erzählt eine moderne Tragödie "aus den dunklen Nischen der Weltpolitik" - die Geschichte Äquatorialguineas, dass sich binnen zehn Jahren von einem malariaverpesteten Schurkenstaat zum guten Freund der USA entwickelt hat: "Staatspräsident Teodoro Obiang Nguema Mbasogo ist ein hagerer Mensch. Er sei ein ausgezeichneter Tennisspieler und wird von Menschen, die ihn kennen und im Land bleiben wollen, als bescheiden und auskömmlich beschrieben. Menschrechtsorganisationen führen ihn in der Liga von Idi Amin und Pol Pot. Er gibt einige Möglichkeiten, von der US-Liste der Schurkenstaaten gestrichen zu werden. Regimewechsel, runde Tische, Verschrottung von Waffen und Folterbänken sind denkbar, aber der einfachste Weg, als ehrenwert zu gelten, ist, Öl zu finden. Viel Öl. Denn Autofahren wollen sie alle." (Die CIA ist da politisch korrekter als die Bush-Regierung.)
Foglio (Italien), 26.08.2006
Zur Standardausstattung der italienischen UN-Soldaten im Libanon sollte nach Überzeugung von Siegmund Ginzberg eine CD mit Gioacchino Rossinis Oper "Die Italienerin in Algier" (Handlung) sein, als Handbuch für Benehmen im Feindesland. "Im Titel ist von Algerien die Rede, aber vor dem geistigen Auge erscheinen Beirut und seine Umgebung. Die Hauptfigur ist eine Italienerin auf einer 'Mission impossible', die sich in der Höhle des Löwen wiederfindet, weniger versehentlich als mit Vorsatz. Alle Chancen stehen gegen sie. 'Ein Leckerbissen für Mustafa' (der an Nasrallah erinnert), wiederholt der Chor immer wieder. Am Anfang würde niemand einen Heller darauf setzen, dass sie es schafft."
Weiteres: Massimo Fini denkt sehr hart über die kulturelle Bedeutung von Frauenunterwäsche nach und kommt schließlich zu schwerwiegenden Ergebnissen. "Die Bombe und der Bikini, das sind die Symbole der modernen industriellen Zivilisation." Massimiliano Lenzi zeichnet mit Hilfe einer Studie von Jeffrey T. Schnapp die Entwicklung der Bildpropaganda des iranischen Regimes nach. Mariarosa Mancuso empfiehlt ehemalige Schriftstellerrefugien als Reiseziel für den Kulturtouristen.
Weiteres: Massimo Fini denkt sehr hart über die kulturelle Bedeutung von Frauenunterwäsche nach und kommt schließlich zu schwerwiegenden Ergebnissen. "Die Bombe und der Bikini, das sind die Symbole der modernen industriellen Zivilisation." Massimiliano Lenzi zeichnet mit Hilfe einer Studie von Jeffrey T. Schnapp die Entwicklung der Bildpropaganda des iranischen Regimes nach. Mariarosa Mancuso empfiehlt ehemalige Schriftstellerrefugien als Reiseziel für den Kulturtouristen.
Gazeta Wyborcza (Polen), 26.08.2006

Prospect (UK), 01.09.2006

Weitere Artikel: Peter Bergen untersucht Theorien über die Ursachen für den 11. September und unterteilt sie in "einleuchtende, aber fehlerhafte" und die "glaubwürdigsten". Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit - für Danny Kruger sind die drei Schlagwörter der Französischen Revolution der Horizont der britischen Politik. Doch während die Begriffe Freiheit und Gleichheit schon längst zu einer Art politisches Eigentum geworden sind (die Tories rufen "Freiheit" und Labour antwortet "Gleichheit"), scheint nun ein leidenschaftlicher Kampf darüber entbrannt zu sein, wer den Begriff der Brüderlichkeit besetzen wird. In seiner kurzen Geschichte der Klimaanlage schildert James Fergusson die andauernde Romanze der Amerikaner mit der gekühlten Luft. Das Symposium dreht sich um den Libanon-Krieg.
Nur in der Internet-Ausgabe zu lesen: Ein Dossier zur muslimischen Gemeinschaft in Großbritannien.
Blätter f. dt. u. int. Politik (Deutschland), 30.08.2006

Die Blätter veröffentlichen auch den Aufruf von hunderten internationalen Intellektuellen, die die Freilassung des Philosophen fordern. Eine kanadische Website informiert über den Kampf um Jahanbegloos Freilassung.
Reportajes (Chile), 27.08.2006

New Yorker (USA), 04.09.2006

Die Ausgabe hat eine Art Schulschwerpunkt. Dafür steuert Peter J. Boyer eine reichlich verwickelte Geschichte bei, in der es um einen Aufruhr an der Duke University geht, der sich an sexuellen Übergriffen, dem renommierten Lacrosse-Team (mehr zu diesem Sport hier), der Universität und der Frage, ob "Helmsportarten" zu Gewalt ermuntern, entzündet hat und die Institution in zwei Lager spaltet. Malcolm Galdwell untersucht Null-Toleranz-Programme an Schulen. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Kansas" von Antonya Nelson.
Louis Menand rezensiert einen Band mit Interviews mit Bob Dylan ("Bob Dylan: The Essential Interviews", Wenner). Die Kurzbesprechungen widmen sich unter anderem einem Buch über Leute, die erotische Kunst und Sexartikel sammeln ("Sex Collectors", Simon & Schuster). Und David Denby lobt Spike Lees Dokumentarfilm "When the Levees Broke: A Requiem in Four Acts" über New Orleans und den Hurrikan Katrina. "Lee stützt sich auf Datenmaterial, Nachrichten und Amateurfilme, aber auch auf Fotografien; einige von diesen fangen mit der verheerenden Kraft großer Dichtung oder Malerei das Leichenhaus aus Wasser ein, zu dem New Orleans wurde." Das B-Movie "Snakes on a Plane" findet Denby dagegen unsäglich; er wundert sich, dass Samuel L. Jackson mitspielt.
Nur im Print: die Fortsetzung des Schulschwerpunkts mit Artikeln über das Deep Springs College, Musikunterricht beziehungsweise die Rückkehr von Brahms ins Klassenzimmer, Versuche, das Essen an Schulen zu verbessern, eine Grundschule in der Wüste, die Bedeutung von Aufschlüssen aus der Baby-Hirnforschung und Lyrik.
Polityka (Polen), 26.08.2006

Der in Polen seit Jahren beliebte tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal wird langsam in Rest-Europa (wieder)entdeckt - freut sich Literaturkritiker und Hrabal-Übersetzer Aleksander Kaczorowski. "Großen Anteil daran hatte der tschechische Regisseur Jiri Menzel, dessen Verfilmung von "Reise nach Sondervorschrift, Zuglauf überwacht" den Oscar bekommen hat, und der jetzt an Hrabals "Ich habe den englischen König bedient" arbeitet (mit Julia Jentsch in der weiblichen Hauptrolle). Diese Verfilmung kam unter sehr abenteuerlichen Umständen zustande - u.a. hat Menzel den Produzenten Jiri Serotek öffentlich verprügelt - und ein Erfolg kann den Regisseur wieder nach ganz oben bringen. Währenddessen ist eines sicher: der Erfolg von Hrabal als Autor, der in immer mehr Sprachen übersetzt wird."
Außerdem: das polnische staatliche Fernsehen plant einen Themenkanal "Geschichte". Im Gespräch mit der Polityka beteuern die Macher: "Das Programm wird ein Ort von Debatten von Historikern sein. Eine unkritische Darstellung der von der Regierung lancierten Geschichtspolitik wollen wir nicht."
Babelia (Spanien), 26.08.2006

Den Mund durchaus voll nimmt der französische Komponist Michel Legrand, der u. a. für Jean-Luc Godard, Claude Lelouch, Louis Malle und Robert Altmann gearbeitet hat: "Heutzutage kann ich nirgendwo einen guten Filmkomponisten entdecken, es bleiben bloß noch John Williams und Ennio Morricone, obwohl ich den in der letzten Zeit manchmal langweilig finde. Die Musik der Avantgarde ist eine Sackgasse. Atonale, serielle, experimentelle Musik, das ist alles tot. Das Werk von Leuten wie Boulez oder Stockhausen kommt mir oft wie der reinste Betrug vor. Zum Glück merken wir allmählich, wie wir hier über den Tisch gezogen werden. Die Musik der Zukunft wird sich, glaube ich, derjenigen der großen Meister der Vergangenheit annähern."
Economist (UK), 25.08.2006

Auch der Economist legt den Finger auf die "Grassnarbe" und registriert bei der Lektüre von Günter Grass' Autobiografie verwundert, wie sehr sich die Schilderung der Kriegserlebnisse von der der Nachkriegserlebnisse unterscheidet. "Was auffällt ist, dass seine Kriegserinnerungen nicht überzeugend wirken. In der Tat ist dieser Teil des Buches farblos und voller Stereotypen. Viele der Szene könnten - und der Verdacht lässt sich nicht beseitigen, dass es auch so ist - genauso gut Grass' zahlreichen Kinobesuchen entsprungen sein. (?) Der Zweifel bleibt: Wie kann es sein, dass seine Erinnerung von diesen wenigen Monaten des Kampfes dem Leser so schwach vorkommt?"
Außerdem ist zu lesen, wie grandios Alaska sich darauf versteht, seine geografische Randlage in Regierungssubventionen umzusetzen, dass sich britische Arbeitgeber zu Recht über unqualifizierte Schulabgänger beklagen und - im Nachruf - wie sinnlich der kürzlich verstorbene General Alfredo Stroessner, Nachkomme deutscher Vorfahren und Diktator Paraguays von 1954 bis 1989, im einzigen Interview, das er je gab, das Wort "Ordnung" aussprach.
Point (Frankreich), 24.08.2006

Wired (USA), 01.09.2006
Mit der traditionellen Popkritik geht's bergab geht, aber das Internetmagazin Pitchfork feiert Riesenerfolge und ist seinerseits verantwortlich für den Erfolg einiger Indierock-Bands. Der Grund dafür: Pitchfork nimmt die Musik noch ernst, schreibt Dave Itzkoff: "Während die Website Hunderte von Kritiken über Indierockbands brachte, widmeten ihnen die Mainstream-Medien immer geringere Aufmerksamkeit. MTV war inzwischen bekannter als Reality-TV-Sender und sendete kaum noch Musik. Rolling Stone setzte Filmstars und Teenie-Pop-Performer auf seine Cover, während es die Musikkritiken drastisch kürzte - die meisten sind nur noch einen Absatz lang, und die größeren Kritiken haben gerade noch fünf Absätze. So öffnete sich für Pitchfork ein Weg, um das Vertrauen und die Verehrung einer rocksüchtigen Leserschaft auf der Suche nach zuverlässigen Filtern zu gewinnen."
New York Times (USA), 27.08.2006
Alaa Al Aswanys Roman "The Yacoubian Building" (Leseprobe), ein Gesellschaftsporträt des heutigen Kairo, ist in Ägypten ein Bestseller. Die Verfilmung rief die Zensur auf den Plan, und Lorraine Adams weiß auch, warum: "Das Buch wurde gefeiert wegen seiner tabubrechenden Beschreibung von Homosexualität. Aber schwule Protagonisten gab es schon in den Romanen von Machfus und in ägyptischen Filmen. Was den Erotizismus von Aswanys Roman so provozierend macht, ist vielleicht eher die Art wie er, vergleichbar mit Milan Kunderas 'Buch vom Lachen und Vergessen' die staatliche Tyrannei durch sexuelle Lust und Verzweiflung spiegelt. Aber wo Kundera eine selbstreflexive Erzählform sucht, die das Wesen der Literatur in Frage stellt, ist Aswany (der sein Geld als Zahnarzt verdient) ein sozialer Realist."
Der Fall von John Robert Lennons Roman "Happyland" lässt Rachel Donadio am Mumm der Verlage zweifeln. Lennons Buch über die Allmachtsfantasien einer millionenschweren Puppenfabrikantin wurde von mehreren Verlagen abgelehnt. Grund: Die Hauptfigur hat ein reales Vorbild. Unverständlich, meint Donadio: Nicht nur sei's "selten, dass eine nicht-öffentliche Figur eine solchen Fall gewinnt", die hier Betroffene habe gar keine Lust zu klagen. "Happyland" erscheint nun als Fortsetzungsgeschichte in Harper's Magazine.
Weitere Artikel: Meghan O?Rourke lobt Claire Messuds "The Emperor?s Children" (Leseprobe) als gänzlich unamerikanischen Roman über Amerika. Wyatt Mason vergleicht den zweiten (Leseprobe "Voyage Along the Horizon") mit dem jüngsten ("Your Face Tomorrow") Roman von Javier Marias. Und Adrian Desmond riecht den Bekehrungseifer in David Quammens Darwin-Biografie "The Reluctant Mr. Darwin": Hallo Kreationisten!
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