Magazinrundschau

Kontext von Liebe

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
25.08.2015. Der New Yorker begibt sich in die Banlieues von Paris und stellt fest: Auch Muslime wählen den Front National. In Les inrockuptibles beklagt Filmregisseur Gaspar Noé das Verschwinden der Sexszene. Die Macht der Kalifen ist verführerischer als ihr Glaube, vermutet Prospect. Das TLS probiert einen pouf à l'inoculation. Wired feiert die neuen Science-Fiction-Stars.

New Yorker (USA), 31.08.2015

Für eine ausführliche Reportage über die Situation von Muslimen in Frankreich begibt sich George Packer in die Banlieue von Paris, wo er die unterschiedlichsten Fraktionen kennenlernt. Darunter einen zum Islam konvertierten ex-katholischen Haitianer, der ihm erklärt, warum eine nicht unerhebliche Anzahl von Muslimen Sympathie für den Front National hat: Wegen des Antisemitismus und der dezidiert selbstbewussten Haltung: Frankreich den Franzosen. "Zwei oder drei Jahrzehnte lang war ein weicher Multikulturalismus die vorgegebene Politik der regierenden Linken, während Frankreichs stille Mehrheit, kulturell immer mehr verunsichert, nach rechts gewandert ist und die Banlieue dem Verfall preisgegeben wurde. Die Wähler des Front National und die radikalen Muslime fühlen sich gleichermaßen im Stich gelassen. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers Laurent Bouvet haben die Januar-Attacken [auf Charlie Hebdo und einen jüdischen Supermarkt] wie eine Unterwasserbombe all diese Trends an die Oberfläche gebracht. "Der Säkularismus ist unser gemeinsames Gut", sagt Bouvet. "Wenn es eine gemeinsame französische Identität gibt, dann ist es nicht die Identität der Wurzeln, es ist nicht eine christliche Identität, es sind nicht die Kathedralen und es ist nicht die weiße Hautfarbe. Es ist ein politisches Projekt." Und er fährt fort: "Wenn wir es dem Front National überlassen, die französische Identität zu definieren, dann geht es nach Rasse, Blut und Religion.""

Was gibt es aufregenderes, als in Rom eine U-Bahn zu bauen, wo alle drei Meter ein tausend Jahre alter Tempel auf seine Entdeckung wartet? Einen Tunnel unter dem Bosporus zu graben, berichtet Elif Batuman aus Istanbul und zählt auf, was dort schon gefunden wurde: eine byzantinische Kirche, 37 Schiffswracks und schließlich, als alles ausgegraben schien, die Überreste eines neolithischen Wohnhauses von 6000 vor Christus. Das war dann der Moment, an dem Präsident Erdogan die Nase voll hatte...
Archiv: New Yorker

Les inrockuptibles (Frankreich), 19.08.2015

Gaspar Noés Film "Love" ist wegen seiner expliziten Sexszenen in Frankreich erst ab 18 Jahren zugelassen worden. Diese Einstufung hat Debatten ausgelöst. In den Kinos hat sie zu mehr Besuchern geführt, aber in der Auswertung als DVD und im Fernsehen wird der Film leiden. In den Inrockuptibles reflektieren Noé und Virginie Despentes ("Baise-moi") über Sex im Kino und wie er sich verändert hat. Für Despentes ist die Zensur seines Films Ausdruck einer Tendenz: "Wenn du klein bist, wirst du zwangsläufig mit Gewaltbildern konfrontiert, ob du willst oder nicht. Porno ist im Netz allgegenwärtig, und ich glaube, der Film von Gaspard ist für einen Minderjährigen viel leichter zu verstehen und verarbeiten als brutale Pornoszenen ohne jede Erklärung. "Love" bringt den Sex zurück in einen Kontext von Liebe." Sexszenen, so Noé, werden im Kino kaum mehr gedreht. Und "es ist erstaunlich, dass das erotische Kino fast komplett verschwunden ist. Selbst "erotische" Magazine, die heute an die Kioske zurückkehren, wirken viel steriler als damals. Um Schamhaare zu sehen, musst du zum Flohmarkt gehen."

The Atlantic (USA), 21.08.2015

Adam Huttner-Koros beobachtet besorgt, dass die internationale Wissenschaft fast nur noch auf Englisch kommuniziert, publiziert und doziert. Das ganze Erfahrungswissen aus anderen Sprachen gehe verloren, meint er, Denken und Forschen würden immer stromlinienförmiger. Und: "Das wissenschaftliche Vokabular vieler Sprachen kann mit neuen Entwicklungen und Entdeckungen nicht mehr Schritt halten. In vielen Sprachen werden die Wörter Quark und Chromosom einfach aus dem Englischen übernommen. In einer Studie von 2007 beschrieb der Linguist Joe Lo Bianco von der Universität Melbourne das Phänomen als Verfall einer Domäne, als stetigen Verlust der Kompetenz, auf hohem Niveau zu sprechen. Mit anderen Worten: Wenn eine Sprache aufhört, sich in einem bestimmten Bereich an Veränderungen anzupassen, ist sie in bestimmten Kontexten bald überhaupt kein brauchbares Kommunikationsmittel mehr."

Während die meisten Bibliotheken froh sind, wenn sie ihre alten VHS-Kassetten loswerden, hat man die Universitätsbibliothek von Yale gerade 2700 Stück davon ins Archiv geholt, der größte Teil überdies Trash- und Exploitation-Movies. Und es gibt gute Gründe dafür, dass sich eine Universität solch gering geschätzter Filme auf einem obsoleten und als defizitär gebrandmarkten Trägermedium annimmt, wie David Gary versichert: "So schätzt man, dass etwa 40 bis 45 Prozent aller VHS-Veröffentlichungen den Sprung auf nachfolgende Digitalmedien nicht geschafft haben. Doch das Hauptaugenmerk dieser Sammlung liegt auf den haptischen Aspekten des Mediums und der Kultur, die es gewandelt und hervorgebracht hat. ... Die tangilen Qualitäten von VHS-Kassetten haben die Einzigartigkeit dieses Mediums und dessen Erbe nachhaltig geprägt. Als VHS sich im Bewusstsein der populären Kultur der 80er Jahre verankert hatte, entstand im Nu eine enorme Nachfrage. Um Tapes voneinander abzugrenzen und die Rentabilität zu garantieren, gaben die Vertriebe Covergestaltungen mit schockierenden, verführerischen und brutalen Darstellungen von Sex und Gewalt in Auftrag. Rasant etablierten sich große Hartboxen, die den ursprünglichen Einschubcover einige Quadratzentimeter zusätzlicher Fläche verschafften, um das Publikum anzulocken. Von den einfallsreichen Boxen von Firmen wie Image Entertainment mal ganz abgesehen, die reliefartige Cover mit Licht- und Soundeffekten herstellten."
Archiv: The Atlantic

Prospect (UK), 24.08.2015

Jason Burke bezweifelt, dass es Glaube und Gewalt sind, die so viele für die Propaganda des Islamischen Staats empfänglich machen. Vielmehr sehnten sich die perspektivlosen jungen Männer nach der historischen Größe der ersten Kalifate, den Dynastien der Umayyaden und Abbassiden: "Viel Aufmerksamkeit wurde dem apokalyptischen Ton der IS-Rhetorik gewidmet. Auch wenn der zweifellos allgegenwärtig scheint, so ist doch das historische Element genauso mächtig und vielleicht noch weiter verbreitet. Filme über Kriegshelden der frühen islamischen Zeit, der Schlachten von Yarmuk oder Hattin, erreichen oft eine halbe Million Zuschauer auf YouTube. Die Lektüre eines inhaftierten IS-Kämpfers aus Indien bestand aus dem Koran und Biografien von Saladin und Khalid bin Walid, einem legendären muslimischen General des 7. Jahrhunderts. Das ist typisch. Wie bei allen militanten islamischen Gruppen, wählen sich die Rekruten fast alle Namen von bedeutenden Persönlichkeiten aus den ersten Jahrzehnten des Glaubens."

In einem großen Porträt Ai Weiweis, dem Londons Royal Academy eine ihrer seltenen Einzelausstellungen widmet, stellt Isabel Hilton klar, dass dessen Bedeutung nicht allein aus seinem Status als Dissident herrührt, sondern aus seiner künstlerischen Größe.
Archiv: Prospect

Gentlemen's Quarterly (USA), 17.08.2015

Joel Lovell und Sebastian Kim zeichnen ein großes, wenn auch etwas langatmiges Porträt des amerikanischen Comedian Stephen Colbert, das dessen Katholizismus freilegt und immerhin diese schöne Passage bietet, die den Grundstein für Colberts Professionalismus beschreibt: "Du musst lernen, die Bombe zu lieben", wie ein Lehrer ihm einst empfahl. "Er habe sich selbst trainiert, sagt er, nicht nur auf der Bühne, sondern jeden Tag seines Lebens, sogar in seinen Träumen, auf die Angst zu- statt von ihr wegzusteuern. "Ich tue gern Dinge, die öffentlich peinlich sind", sagt er. "Ich will diese Peinlichkeit fühlen, einsinken und dann verschwinden lassen. Ich stelle mich gern in Aufzüge und singe zu laut in diesen kleinen Räumen. Das Gefühl, dass man dabei hat, ist beinahe wie ein Dampfschwaden. Unbehagen und der Wunsch, es möge vorbei sein, überkommen einen. Ich tue solche Dinge und atme sie ein." Er macht eine Pause, nimmt einen tiefen yogamäßigen Atemzug und schüttelt den Kopf: "Nö, bringt mich nicht um. Das bringt mich nicht um.""

Times Literary Supplement (UK), 24.08.2015

Mika Ross-Southall liest mehrere Bände zur Geschichte der Mode. In Kimberly Chrisman-Campbells "Fashion Victims" erfährt sie etwa, dass die Franzosen der Macht der Mode einfach nicht entkommen: "Als Louis XVI. 1774 gegen Pocken geimpft wurde, feierten die Modeverkäuferinnen das Ereignis mit einem pouf à l"inoculation, einem Kopfschmuck, der sowohl die aufgehende Sonne wie die Schlange des Äskulap symbolisierte. Hüte, die mit Miniaturschiffen verziert waren, feierten die französischen Siege zu See und bekundeten Patriotismus oder politische Verbundenheit. Kleidung war ein Mittel, um anderen zu zeigen, welche Stücke, welche Komponisten und welche Ideen man mochte. Ohne die Mode hätte sich die Aufklärung vielleicht nicht über Europa ausgebreitet, deutet Chrisman-Campbell. Marie-Antoinette hatte dagegen ein unziemliches Faible für die Mode. Dass sie sich lieber von der angesagtesten Modeverkäuferin von Paris einkleiden ließ statt von den Offiziellen in Versailles, verstieß gegen das höfische Protokoll. 1785 gab sie für ihre Kleidung 258.002 Livres aus. Ein Drittel davon ging an ihre Lieblingsverkäuferin Rose Bertin, deren Karriere durch die königliche Verbindung gemacht (und später zerstört) wurde: "Ungeheuer reich, dabei nicht annähernd aus gutem Hause, war Bertin eine wandelnde Bedrohung für die gesamte gesellschaftliche Ordnung.""

Außerdem: Henri Astier stellt eine Reihe von Büchern französischen Autoren zu Charlie Hebdo, den großen Demonstrationen und Debatten vor.

Wired (USA), 23.08.2015

Da sind "Dallas" und "Denver Clan" nichts dagegen: Amy Wallace berichtet in Wired von Intrigen und Frontbildungen in der Science-Ficton- und Fantasy-Fanszene rund um die Hugo Awards. Dieser jährlich von Fans im Wahlverfahren verliehene Preis zählt zu den weltweit wichtigsten Auszeichnungen im Genre. Für in Autoren- und Fanblogs heiß diskutierten Trubel (etwa hier, hier und hier) sorgte in diesem Jahr eine rechtskonservative Gruppe von Autoren und Fans: Die "Sad Puppies" sehen das traditionell eher weiß, männlich und amerikanisch besetzte Genre bedroht. Mit einer groß angelegten Kampagne haben sie offenbar dafür gesorgt, dass in zahlreichen Kategorien vor allem ihre Protegés platziert wurden: Denn "in den letzten Jahren, in denen Science Fiction soweit gewachsen ist, um auch Erzähler zu integrieren, die Frauen, schwul und lesbisch oder People of Color sind, haben sich auch die Hugos gewandelt. Zu den Göttern mit Raketen gesellten sich bei der jährlichen Auszeichnung im August zusehends auch Göttinnen und solche aus anderen Ethnien, Geschlechtern und sexuellen Orientierungen, von denen einige Geschichten erzählen wollen, die von mehr als bloß Raumschiffen handeln." Aufgegangen ist das Vorhaben der Traditionalisten im übrigen nicht.
Archiv: Wired

Eurozine (Österreich), 11.08.2015

Trotz der immer größeren Dominanz von Internetkonzernen, die die Ideen der Sharing Economy kommerzialisiert haben, hält Adrian Wooldridge an der Idee fest. Im Gespräch mit Lukasz Pawlowski von Kultura Liberalna (von Eurozine ins Englische übersetzt) betont der einstige Schumpeter-Kolumnist des Economist: "Ich denke nicht, dass die Sharing Economy zum Monopol tendiert. Was sie tut, ist, unbenutzte Ressourcen zu mobilisieren. Information ist ein wichtiger Faktor in diesem Prozess. Ein anderer ist aber schlicht Nähe zu den Produkten, die du tauschen willst. Wenn ich eine Plattform in meinem Dorf einrichte, um Gartengeräte zu tauschen, würde ich wohl kaum von einem Internetriesen gekauft. Ich sehe nicht ein, warum nicht auch lokale Unternehmen etwas aus solchen Informationen machen können, um Boden zu gewinnen und erfolgreich zu operieren."

In einem zweiten Artikel setzt der Islamforscher Olivier Roy seine Hoffnungen in einen entstehenden Säkularismus in muslimischen Ländern.
Archiv: Eurozine

New York Times (USA), 22.08.2015

Ein bisschen trocken und doch faszinierend liest sich in der New York Times Steven Johnsons Bestandsaufnahme der Kulturindustrien in Zeiten der Digitalisierung. Alle pessimistischen Prognosen wischt er vom Tisch - und benutzt dafür statistisches Material, etwa aus amerikanischen Ämtern. So gibt es mehr Musiker als vor zwanzig Jahren, und sie verdienen besser - während die Majors tatsächlich in die Knie gingen. Einer der Gründe dafür ist bekannt: Live-Musik bringt mehr Geld als vorher. Ein anderer Faktor ist ebenso wichtig: "Der größte Wandel ist vielleicht die Leichtigkeit, mit der Kunst heute gemacht und vertrieben werden kann. Die Kosten für den Konsum von Kunst mögen gesunken sein, wenn auch nicht so stark wie befürchtet. Aber die Kosten für die Produktion sind weit drastischer gesunken. Autoren können schreiben und ein Publikum erreichen, ohne dafür eine Druckerpresse oder internationale Agenten zu brauchen. Unabhängige Filmemacher, die für Luftaufnahmen früher einen Helikopter und Tausende Dollar gebraucht hätten, benutzen heute eine GoPro-Kamera und eine Drohne für weniger als tausend Dollar."
Archiv: New York Times