Magazinrundschau
Ich weiß nicht, wer Essays liest
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
25.05.2010. In der NYRB wendet sich gegen die Privatisierung des Netzes durch Steve Jobs. Die NYT langweilt sich in den Applecrest Estates eh schon: zu spießig. In Eurozine zeichnet Sven Egil Omdal ausführlich die Krise der norwegischen Presse nach. In Walrus erklärt die Hure Jamie Lee Hamilton, warum sie sich von niemandem bekehren lässt. Elet es Irodalom warnt: ungarischer Nationalismus stärkt slowakischen Nationalismus. Im Espresso erklärt Umberto Eco, warum er Gianni Vattimo nicht boykottiert.
New York Review of Books (USA), 10.06.2010
Schön ironisch findet Sue Halpern, dass ausgerechnet Steve Jobs, der noch vor zwei Jahren verkündet hatte, dass "die Leute nicht mehr lesen", nun mit seinem Ipad sich und den Verlagen das große Geschäft mit elektronischen Büchern verspricht. In ihren Augen kann das Ipad aber nicht mit ihrem Favoriten, dem Nook von Barnes and Nobles, mithalten, das man erstens auch in der Sonne lesen kann und das zweitens auf einem freien Format basiert: "Die Open Source und Creative Commons Bewegung entstammen beide der essentiellen Freiheit des Internets, die Designern und Filmemachern, Sängern und Handwerkern, Schriftsteller, Aktivisten, Politikern, Künstlern und Unternehmen, vielen von ihnen Unternehmer, erlaubt, ihre Ideen zu entwickeln und zu verbreiten. Wie würden das Internet - und unser Leben - aussehen, wenn Marc Andreessen und Eric Bina nach Erfindung ihres Mosaic-Browsers den Nutzern nicht nur abverlangt hätten, diesen zu kaufen, sondern auch noch für jeden einzelnen Klick, Download oder Page-View zu zahlen. Versuchen Sie sich vorzustellen, wie sich ein privatisiertes, kostenpflichtiges Internet entwickelt hätte. Sie werden es nicht können, denn seine Evolution wäre ganz anders verlaufen. Apples Ipad-Apps mögen genial sein. Sie mögen lustig und unterhaltsam sein. Vielleicht sogar nützlich. Was sie nicht sein können, ist frei von Apples Kontrolle."
Peter Beinart wirft den jüdischen Organisationen in den USA vor, sich an ein Israel-Bild zu klammern, das nichts mehr mit den Realitäten zu tun hat: "In der Theorie vertritt der Mainstream der amerikanisch-jüdischen Organisationenen einen liberalen Zionismus. Auf ihren Webseiten feiert AIPAC Israels Verpflichtung zu 'Redefreiheit und Minderheitenrechten'. Die Conferenz of Presidents erklärt, dass 'Israel und die Vereinigten Staaten politische, moralische und intellektuelle Werte wie Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Frieden teilen'. Diese Gruppen würden niemals sagen, wie einige in Netanjahus Koalition, dass israelische Araber nicht die vollen Bürgerrechte verdienen und den Palästinensern der Westbank nicht die Menschenrechte zustehen. Aber indem diese Gruppen nahezu alles verteidigen, was die israelische Regierung tut, machen sie sich in der Praxis zu intellektuellen Bodyguards für israelische Politiker, die genau die liberalen Werte bedrohen, die diese Organisationen hochzuhalten vorgeben."
Weiteres: Robert Gottlieb liest einen ganzen Stapel neuer und älterer Charles-Dickens-Biografien. Michael Pollan sieht eine neue Bewegung entstehen, die verschiedenste Gebiete der gesunden Ernährung unter einen Hut zu bringen versucht: von der Schulspeisung über Tierrechte bis zur ökologischen Lebensmittelproduktion.
Peter Beinart wirft den jüdischen Organisationen in den USA vor, sich an ein Israel-Bild zu klammern, das nichts mehr mit den Realitäten zu tun hat: "In der Theorie vertritt der Mainstream der amerikanisch-jüdischen Organisationenen einen liberalen Zionismus. Auf ihren Webseiten feiert AIPAC Israels Verpflichtung zu 'Redefreiheit und Minderheitenrechten'. Die Conferenz of Presidents erklärt, dass 'Israel und die Vereinigten Staaten politische, moralische und intellektuelle Werte wie Demokratie, Freiheit, Sicherheit und Frieden teilen'. Diese Gruppen würden niemals sagen, wie einige in Netanjahus Koalition, dass israelische Araber nicht die vollen Bürgerrechte verdienen und den Palästinensern der Westbank nicht die Menschenrechte zustehen. Aber indem diese Gruppen nahezu alles verteidigen, was die israelische Regierung tut, machen sie sich in der Praxis zu intellektuellen Bodyguards für israelische Politiker, die genau die liberalen Werte bedrohen, die diese Organisationen hochzuhalten vorgeben."
Weiteres: Robert Gottlieb liest einen ganzen Stapel neuer und älterer Charles-Dickens-Biografien. Michael Pollan sieht eine neue Bewegung entstehen, die verschiedenste Gebiete der gesunden Ernährung unter einen Hut zu bringen versucht: von der Schulspeisung über Tierrechte bis zur ökologischen Lebensmittelproduktion.
Eurozine (Österreich), 18.05.2010

Walrus Magazine (Kanada), 01.06.2010

Elet es Irodalom (Ungarn), 21.05.2010

Espresso (Italien), 20.05.2010

La vie des idees (Frankreich), 17.05.2010
Der Soziologe Paul Schor erzählt in seinem Buch "Comter et classer" eine Geschichte der amerikanischen Volkszählungen in den USA. Das Sujet mag ein wenig akademisch klingen, aber es wirft laut Daniel Sabbagh Licht auf den Rassismus und sein Fortleben (etwa als Multikulturalismus) bis heute: "Einerseits haben die Volkszählungen zur Institutionalisierung der Rasse als sozialer Kategorie beigetragen, also auch an seiner Nachhaltigkeit als Begriff trotz Verschwindens seiner historischen Matrix (der Sklaverei) und ihrer theoretischen Grundlegung (Rassismus als Pseudowissenschaft mit rechtfertigendem Charakter). Andererseits haben sie zu einer Verinnerlichung gewisser Normen der Klassifizierung geführt. Sie wird vor allem belegt durch den Mangel an Widerstand, nachdem die Bürger 1970 zur Selbstklassifizierung angehalten wurden."
London Review of Books (UK), 27.05.2010

Weitere Artikel: In einer großen Reportage schildert Adam Shatz den maroden Zustand des Mubarak-Regimes - und er erklärt auch, dass angesichts der US-Furcht vor einer islamistischen Revolution wenig Hoffnung auf Demokratisierung oder einen Wahlsieg für den Aspiranten Mohammed el-Baradei besteht. David Runciman fragt sich, ob der Wahlausgang das Ende der großbritannischen Union bedeuten könnte. Christopher Tayler bespricht Chris Morris' zurückgenommene Filmkomödie "Four Lions", in deren Zentrum nicht gerade professionell auftretende islamistische Terroristen stehen (hier der Trailer).
Tygodnik Powszechny (Polen), 17.05.2010

"Ich schreibe nicht für mich, aber ich stelle mir vor, dass ich mich an jemanden Vertrauten wende", sagt die amerikanische Essayistin Anne Fadiman auf die Frage nach dem Leser. "Ich weiß nicht, wer Essays liest. Es drängt sich die Antwort auf, dass ein durchschnittlicher Essayleser gebildeter ist als ein Leser von Liebesromanen, aber das ist nur ein Bruchteil seiner Identität. Menschen, die Essays mögen, mögen meistens das Spiel mit den Worten. Ich denke, eine große Gruppe teilt die Faszination für Essays, Scrabble und Kreuzworträtsel."
Grzegorz Jankowicz skizziert die Geschichte des Verhältnisses zwischen Text und Bild am Beispiel der Fotografie. Ausführlich widmet er sich den Bildern Andre Kerteszs, die lesende Personen darstellten. "Wenn wir sie anschauen, kommt gleich die Frage: Was lesen sie denn? Somit verwandelt sich das Bild in Text, und der Betrachter in einen Leser. Der Kreis schließt sich."
Point (Frankreich), 20.05.2010

New York Times (USA), 23.05.2010

Ganz begeistert schreibt Lloyd Grove über Sarah Ellisons Buch "War at the Wall Street Journal", das die Übernahme des Wall Street Journal durch Rupert Murdoch und die Niederlage der bis dahin regierenden Bancroft-Familie "filmreif" nacherzählt. Nur mit dem Titel ist er nicht ganz einverstanden: "Vielleicht ist Krieg - als eine Auseinandersetzung zwischen annähernd gleichen Gegnern - gar nicht das richtige Wort. Denn Murdochs Überlegenheit stand wie seinerzeit, als die UdSSR über Ungarn herfiel, in keinem Moment in Frage." (Na, dann hoffen wir mal, dass für die New York Times nicht das gleiche gilt!)
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