Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.05.2003. Atlantic Monthly hat recherchiert, wer den palästinensischen Jungen Mohammed al-Dura erschoss. Outlook India dokumentiert eine Rede von Arundathi Roy, die in New York die Amerikaner zur Revolution aufgerufen hat. In Profil erklärt Marlene Streeruwitz die Demütigungsmaschinerie der staatlichen Kulturförderung. Das TLS widmet sich einer Geschichte der Masturbation und einer der Trepanation (Schuld und Sühne?). Im Espresso erklärt Amos Oz, warum Juden die wahren Europäer sind. Der Economist hofft auf einen demokratischen Irak. Norman Mailer erklärt im Interview mit dem Nouvel Obs die komplizierte Männlichkeit des weißen Amerika. Der Express findet eine Pariser Polizeiakte über Picasso. Die NYT Book Review prophezeit uns mit Martin Rees das Ende.

The Atlantic (USA), 01.06.2003

Im Netz zu lesen ist eine Geschichte von James Fallows, der den Tod des palästinensischen Jungen Mohammed al-Dura nachrecherchiert hat, der im September 2000 bei Auseinandersetzungen zwischen Palästinensern und israelischen Soldaten erschossen wurde. Das Bild des Jungen, wie er zusammengekauert in den Armen seines hilflosen Vaters stirbt, wurde zur Ikone in der gesamten arabische Welt, zu einer Art "Pieta". Nur: "Es scheint, dass der Junge nicht so gestorben sein kann, wie es die Medien weltweit berichtet haben, und wie es in der gesamten islamischen Welt inbrünstig geglaubt wird. Was auch immer ihm passiert ist, er wurde von keinem der israelischen Soldaten erschossen, die bekanntermaßen in die Kämpfe dieses Tages verwickelt waren. Die entlastenden Beweise kommen weder von Israels Regierung noch vom Militär, die ja ein offensichtliches Interesse daran hätten, ihre Soldaten von der Verantwortung freizusprechen, sondern aus anderen Quellen." Die Ermittlungen, so Fallows, wurden von einer Vielzahl von Akademikern, Ex-Soldaten und Web-Loggern geführt, die von dem Fall besessen sind und deren Beweise überprüft werden können. Alles weitere legt Fallows dann auf acht Seiten dar.

Weitere Artikel: Christopher Hitchens zerpflückt nach allen Regeln der Kunst Bob Woodwards Bestseller "Bush at War", das seiner Meinung den Tiefpunkt von Woodwards Karriere und des investigativen Journalismus darstellt: Es tauche keine einzige "zweite Quelle" auf. David Kipen erklärt, warum Baseball so langweilig geworden ist. Michelle Cottle fragt, was eigentlich passiert wäre, wenn am 11.September das Capitol getroffen worden wäre und die Vereinigten Staaten kein Parlament mehr gehabt hätten.

Mona Simpson empfiehlt die außergewöhnlichen Erinnerungen von Azar Nafisi "Reading Lolita in Tehran", die die iranische Revolution als Geschichte ihres universitären Lesezirkels erzählt. Philip Hensher zeigt sich enttäuscht über die neue englische Übersetzung von Stendhals "Le Rouge et le Noire". Zu lesen sind außerdem Lysley Tenorios Kurzgeschichte "Mosntress" und Gedichte von Teresa Cader, David Barber sowie Erica Funkhouser.

Nur im Print: In der Titelgeschichte schildert Bruce Hoffmann die Logik der Selbstmordattentate und wie sie dazu führen, dass die Welt von Tag zu ein Tag ein wenig mehr wie Israel wird: "Selbstmordattentäter sind billig und effektiv. Sie sind unkompliziert, verraten niemanden und garantieren Berichterstattung. Der Selbstmordattentäter ist die ultimative intelligente Bombe: Er reißt am Gewebe des Vertrauen, das die Gesellschaft zusammenhält." In einem weiteren Artikel fragt David Brookes, wie Saddam Hussein in Europa "populärer" werden konnte als George Bush. "Mehrheiten in Europa gaben in Umfragen an, dass Saddam keine größere Gefahr für den Frieden darstelle als George Bush. Zum Teil mag dies purer Antiamerikanismus sein. Zum Teil steckt dahinter eine starke, wenn auch heimliche Bewunderung für grausame Macht und unverhohlene Stärke."
Archiv: The Atlantic

Outlook India (Indien), 26.05.2003

Diese Woche auf dem Cover: Roy gegen das Empire. Outlook India dokumentiert eine lange Rede, die Arundhati Roy in der vergangenen Woche vor 3.000 Menschen im New Yorker Stadtteil Harlem gehalten hat. Es geht um die "Kriegslügen" Amerikas, um die unheilvolle Verflechtung von Politik und Wirtschaft, um Rassismus und die Gleichschaltung der Medien. Roys Ansprache endet mit einer emphatischen Aufforderung zum Widerstand - gerichtet an ihre amerikanischen Zuhörer: "Unsere Freiheiten wurden uns nicht von Regierungen eingeräumt. Wir haben sie ihnen abgerungen. Und haben wir sie erst einmal preisgegeben, dann wird der Kampf um ihre Rückgewinnung Revolution genannt. Es ist ein Kampf, der in allen Kontinenten und Ländern ausgefochten werden muss. Er darf vor nationalen Grenzen nicht halt machen, doch wenn er erfolgreich sein soll, dann muss er hier seinen Anfang nehmen. In Amerika. Die einzige Institution, die mächtiger ist als die amerikanische Regierung, ist die amerikanische Zivilgesellschaft. Wir anderen sind Untertanen von Sklavennationen. Wir sind keineswegs machtlos, aber ihr habt die Macht der Nähe. Ihr habt Zutritt zum kaiserlichen Palast und zu den Gemächern des Herrschers. Die Eroberungen des Imperiums werden in eurem Namen geführt, und ihr habt das Recht, euch zu weigern."

Harsh Kabra berichtet über einen geplanten Film des Oscar-Preisträgers Roland Joffe, "The Invaders", der schon vor Beginn der Dreharbeiten den Widerwillen von britischen Journalisten heraufbeschworen hat: "Schon wieder der Versuch eines Filmemachers, die Engländer als blutige und egoistische Konquistadoren zu porträtieren", zitiert Kabra Susan Bisset, die Filmkritikerin des Sunday Telegraph. Es geht in dem Film um eine Schlacht bei Wadgaon zwischen Marathas und Briten 1778, bei der sich die Engländer "eine blutige Nase" holten. Aber auch indische Historiker sind mit dem geplanten Film unzufrieden: Sie machen darauf aufmerksam, dass der Anführer der britischen Truppen, Lt James Stewart, in Wahrheit zwei Wochen vor der Schlacht starb. Und deshalb nicht - wie im Film - noch irgendwelche Heldentaten bei Wadgaon vollbringen konnte.

Weitere Artikel: Saibal Chatterjee macht sich Gedanken über die Rolle der Schauspielerin Aishwarya Rai in der Jury von Cannes, und P. Lal bespricht ein Buch über die "Muttergöttin" Kalkutta, in dem fünf Seiten ausgerechnet Günter Grass gewidmet sind.
Archiv: Outlook India

Profil (Österreich), 19.05.2003

Letzte Woche machte profil aufgrund der Subventionskürzungen eine "Ausweitung der Kampfzone" bei den Wiener Festwochen aus und die Kulturschaffenden sahen schwarz (mehr hier) ? Diese Woche erklärt uns die Schriftstellerin Marlene Streeruwitz im Interview, welchen Zweck Kulturförderung für Politiker heute noch hat. Budgets würden oft erst im letzten Augenblick bekannt: "Diese Streichung ist eigentlich die logische Konsequenz einer Kulturförderung als Demütigungsmaschinerie", damit Kulturschaffende immer wissen, dass sie Abhängige sind, erklärt die Streeruwitz.

Zu den Festwochen merkt sie kritisch an, dass diese vor allem auch eine "repräsentative Gelegenheit" seien, "die durch ihre Internationalität und ihre Kosten einem kritischen Zugriff entzogen sind. Altmodische Hochkultur halt. Wenn wir sagen könnten, die Festwochen sind der Ort einer demokratischen Form künstlerischen Forschens auf den Gebieten von Theater, Tanz, neuen Medien und allen Crossovers usw., dann würde man sich für sie einsetzen können. Aus formalen Gründen würde ich mich immer mit ihnen solidarisieren, aber aus inhaltlichen ergibt sich da nichts. Und ich habe es satt, von Intendanten in einem Quasikampf gegen Rechts in Geiselhaft genommen zu werden, während gleichzeitig die Kunst, die diese Intendanten machen, dem Mainstream des Angegriffenen entspricht."
Archiv: Profil

Times Literary Supplement (UK), 16.05.2003

Ebenso erschüttert wie begeistert ist Ronald Wright von Margaret Atwoods neuen Roman "Oryx and Crake", ein gelungenes Untergangsszenario, findet Wright, mit dem sich Atwood in eine Reihe mit Jonathan Swift, H.G. Wells und Aldous Huxley katapultiert habe. In dem Roman wird die Gentechnologie zum letzten Aufgebot , mit dem sich die Menschheit als gewaltige Konsumgesellschaft zu retten versucht. "Die Botschaft lässt wenig Hoffnung: Die Menschheit hat ihren evolutionären Gipfel erreicht, die aufgeschwollene Affenhirne sind eine ebenso fatale Spezialisierung wie einst die Säbelzahntiger. In Anlehnung an Huxley lässt sie nur eine Hobbes'sche Wahl: Wir müssen uns genetisch erneuern oder sterben. Margaret Atwood mag dabei ironisch sein. Andere sind schon im Labor an der Arbeit."

Weitere Artikel: Richard Davenport-Hines hat mit großem Vergnügen Thomas W. Laqueurs kluge und elegante Kulturgeschichte der Masturbation "Solitary Sex" gelesen, Jerry Fodor zeigt sich leicht enttäuscht von Matt Ridleys "Nature via Nurture", das zwar viel über die Gene und die Erziehung zu sagen habe, aber eigentlich nur noch mehr Verwirrung stifte. Und Andrew Scull weist auf eine offenbar sehr interessante Geschichte der "Trepanation" hin, der operativen Schädelöffnung (mehr zu diesem faszinierenden Thema hier).

Espresso (Italien), 22.05.2003

Alles neu macht der Mai! Der Espresso hat sich einen neuen Auftritt verpasst. Übersichtlicher, schneller und irgendwie seriöser. Fast deutsch also. Die Artikel bleiben (zum Glück) italienisch.

Der israelische Schriftsteller Amos Oz (Bücher) spricht mit Claudia Hassan lange, aber leider ohne jedwede Absätze, über sein neues Buch "Sipur al Ahava ve al Hoshekh" (Die Geschichte der Liebe und der Dunkelheit) und greift ganz nebenbei Europa scharf an. "Es ist eine Geschichte über eine enttäuschte, frustrierte Liebe. Meine Eltern wie auch meine Großeltern waren Europäer. So definierten sie sich. Sie glaubten an Europa. Unglücklicherweise sah sich zu diesen Zeiten niemand anderer als europäisch an. Es gab die italienischen Patrioten und die ungarischen, den pangermanischen Patrioten oder den panslawischen. Die einzigen Europäer, das waren vor 75 Jahren die Juden, wie meine Familie."

Weiteres: In der Titelgeschichte beklagt Sabina Minardi die neue Ästhetik des Vulgären: Die kaugummikauende Big-Brother-Gewinnerin Floriana ist die Ikone einer "Kultur des Ghettos", die im ganzen Land, im Kino und Fernsehen, in der Musik und im Design, in der Stadt und der Mode zur Referenz wird, seufzt Minardi. Roberto Cotroneo sieht den Irak-Krieg als Wendepunkt des Nachrichtenjournalismus. Schon jetzt, schreibt er, wirke der Krieg "wie ein Film oder ein Roman, ein Mix aus Realität und Fiktion". Alberto Dentice singt ein Hohelied auf die Bootleg-Kultur, die "digitale Revolution der Musikindustrie": Stücke werden unverzagt in ihre Bestandteile zerlegt und wieder zu neuen Kompositionen zusammengefügt. Zur Enttäuschung von Dentice ist die "absolut interessanteste" Sammlung von Bootleg-Kreationen "Too Many Dj's" in Italien leider immer noch nicht erhältlich (und bei Amazon vergriffen).
Archiv: Espresso

Economist (UK), 16.05.2003

Dass mit Saddams Sturz auch Al-Quaida außer Gefecht gesetzt sein würde, war von jeher unwahrscheinlich, meint der Economist. Dass dem tatsächlich nicht so ist, hätten die Attentate von Riad gezeigt. Doch der Wiederaufbau im Irak biete eine ausgezeichnete Möglichkeit den islamistischen Terrorismus zu untergraben. "Der Irak hat die menschlichen und die wirtschaftlichen Ressourcen, die er braucht, um eine florierende liberale Demokratie zu werden. Ihn dahin zu führen, und ihn dann in Frieden zu verlassen, reicht nicht aus, um Amerika vor weiteren Angriffen von unerbittlichen Jihadis zu schützen. Doch allein die Existenz eines demokratischen Iraks könnte dazu beitragen, Millionen von Muslimen davon zu überzeugen, dass die Alternative zu einer sekulären Diktatur keine islamistische Diktatur sein muss - oder überhaupt irgendeine Art von Diktatur."

In einem interessanten Artikel erfahren wir, dass George Bush und der sozialkonservativ ausgerichtete Teil seiner Partei eine schwierige Ehe führen: "Man denke an Richard Burtons Beziehung mit Elizabeth Taylor (ohne die Juwelen), dann hat man einen guten Eindruck gewonnen", denn was Abtreibung und Homosexualität angeht, verstehen die Sozialkonservativen keinen Spaß.

Weitere Artikel: Der Economist äußert sich zufrieden über die sich anbahnende Schuldenpolitik in Sachen Irak. Ein Schuldenerlass sei ganz sicher die richtige Lösung, doch sei es heikel, dass gerade die USA diesen Erlass verlangen, wo doch Frankreich und Russland die größten Geldgeber sind. Wie wirkt sich ein Hochstapler-Skandal bei einer Zeitung aus, die für seriöse Berichterstattung stehen will?, fragt sich der Economist anlässlich des Aufruhrs um einen Star-Journalisten der New York Times. In Bruce Allen Murphys Biografie "Wild Bill: The Legend and Life of William O. Douglas" und Sandra Day O'Connors "The Majesty of the Law: Reflections of a Supreme Court Justice" hat der Economist zwei Visionen von Rechtsprechung vorgefunden, die unterschiedlicher nicht sein können. Außerdem befasst sich der Economist mit dem weltweiten Fälschungsmarkt. Und schließlich: Neues vom zweiten AIDS-Virus HIV-2 und ein Nachruf auf die malende Nonne Barbara Vernon Bailey.
Archiv: Economist

Nouvel Observateur (Frankreich), 15.05.2003

In einem Debattenbeitrag erläutert Norman Mailer den eigentlichen Sinn und Zweck des Irakkriegs, der darin bestanden habe "die weißen Amerikaner in ihrer Männlichkeit zu bestärken." Nach seiner Analyse habe man "einen Krieg gebraucht: Die amerikanische Wirtschaft war am Boden, die Märkte im freien Fall, die Zukunft sah düster aus, und einige traditionelle Bastionen des amerikanischen Glaubens (die Unversehrtheit der großen Wirtschaftsunternehmen, das FBI und die katholische Kirche, um nur drei zu nennen) litten aus unterschiedlichen Gründen unter einem schrecklichen Verlust ihrer Glaubwürdigkeit. Und weil unsere Regierenden keinen einzigen Lösungsvorschlag für diese Probleme hatte, war es nur natürlich, dass sie ihr Engagement einem höchst ambitionierten Unternehmen zuwandten: sich auf den ehrenvollen Kriegspfad zu wagen!"

Vorgestellt werden die Erinnerungen von Lesley Blanch, der Ehefrau von Romain Gary, der er in seinen Roman "Lady L." widmete ("Voyage au coeur de l?esprit", Denoel). Und in einem kleinen Interview gibt Haruki Murakami (mehr hier) Auskünfte über sein Buch "Les Amants du Spoutnik" und verrät mehr über sein nächstes Projekt mit dem Titel "Kafka am Meer". Ansonsten steht das Heft ganz im Zeichen der Filmfestspiele von Cannes, in mehr oder weniger umfangreichen Texten werden Beiträge im und außerhalb des Wettbewerbs vorgestellt, darunter "Dogville" von Lars von Trier (hier), "Va-et-vient" von Joao Cesar Monteiro (hier), "Ce jour-la" von Raoul Ruiz (hier) und Filme von Wim Wenders (hier), Andre Techine (hier) und Pupi Avati (hier).

Das Titeldossier beschäftigt sich in dieser Woche einmal mehr mit dem Thema Kopftuch, das vor allem junge Musliminnen vermehrt tragen und tragen wollen. Das laizistische Frankreich hat damit besondere Probleme. Texte erläutern die Rechtslage und die Vorschriften des Koran, zu Wort kommen junge Gläubige und Gegner des Kopftuchs, und der Soziologe Farhad Khosrokhavar erklärt im Interview die identitätsstiftende Funktion des Tuchs und relativiert gleichzeitig dessen als "bedrohlich" empfundene religiöse Aussage.

New Yorker (USA), 26.05.2003

Sehr lehrreich, aber durchaus speziell, ist ein Artikel von Jeffrey Toobin, der über die Kämpfe um die Ernennung von Richtern durch den Präsidenten informiert. "Stärker noch als Ronald Reagan versprach George W. Bush in seinem Wahlkampf eine ideologische Umformung der Bundesjustiz, die 665 Bezirksrichter, 179 Appellationsrichter und neun Richter am Obersten Bundesgericht umfasst, die alle eine Lebensstellung haben. (...) Im vergangenen Jahr sagte er (Bush) öffentlich: 'Wir müssen gute, konservative Richter in die Gerichte berufen, die vom Senat der Vereinigten Staaten anerkannt sind."

Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Cryptology" von Leonard Michaels und eine ziemlich atemlose Glosse über Rauchen (besser: Nichtrauchen) in New York. Hendrik Hertzberg kommentiert die Querelen in der "Times" als Folgen des Fälschungsskandals.

James Wood lobt eine Studie über die Entstehungsgeschichte der englischen King James Bibel im frühen 17. Jahrhundert, deren Texte noch heute Bestandteil der englischen Liturgie sind. "Adam Nicolsons wunderbares Buch 'God's Secretaries' (HarperCollins) ist auf eine Weise populärwissenschaftlich wie populärwissenschaftliche Bücher eben sind: eher spielerisch als gelehrt, aber gleichwohl gebildet, elegant geschrieben, leidenschaftlich und erfrischend fußnotenfrei. Es ist auch mit Liebe für die Sprache der King James Bibel geschrieben. Nicolson ist geradezu entzückt von ihrer Wortgewalt - 'Englands Entsprechung zu der großen Barockkathedrale, die es niemals gebaut hat' - wie er es nennt. Und seine Begeisterung ist ansteckend." Außerdem gibt es Kurzbesprechungen, darunter eines Romans von Frederick Turner über den Kornettisten und Jazz-Komponisten Bix Beiderbecke ("1929", Counterpoint), in dem auch Al Capone, Bing Crosby, Maurice Ravel und Paul Whiteman auftauchen.

John Lahr sah die zwei neuen Einakter "Writer's Block" von Woody Allen und "Cavedweller" von Kate Moira Ryan. Über Allen schreibt er: "In den Achtzigern und Neunzigern beschrieb Allen als Spezialist für den Zusammenbruch ein überdrehtes Amerika; jetzt, wie er in 'Writer?s Block' verstohlen eingesteht, ist auch die Erschöpfung ein Thema für ihn geworden." Nancy Franklin erklärt, warum die Dokumentarfilmserie "Independent Lens" ein gutes Beispiel dafür ist, was "Fernsehen wertvoll" macht. Und Anthony Lane bespricht die Filme "Down with Love" von Peyton Reed mit Renee Zellweger und Ewan McGregor und eine restaurierte Fassung von Jean-Luc Godards (mehr hier) "Eine Frau ist eine Frau" von 1960.

Nur in der Printausgabe: ein "Letter from India", der über gewaltbereite nationalistische Hindus informiert, ein Porträt von Roger Ailes, dem Chef von Fox News (mehr hier), ein Erlebnisbericht über eine Autofahrt, eine Glosse über Spams (sprich: Mailmüll) und Lyrik von Charles Wright und Jayanta Mahapatra.
Archiv: New Yorker

Express (Frankreich), 15.05.2003

Pablo Picasso lebte seit 1901 bis zu seinem Tode im Jahr 1973 in Paris. L'Express enthüllt in seiner jüngsten Ausgabe, dass die Pariser Polizei von Anfang an eine Akte über ihn führte - die im Krieg von den Nazis entführt wurde und dann von Berlin in die Keller des KGB verschwand. Erst jetzt kommen diese Papiere der französischen Fremdenpolizei nach Paris zurück. Unter anderem erfährt man, dass der damals schon berühmte Picasso 1940, noch vor dem Einmarsch der Nazis, die französische Staatsbürgerschaft beantragte. Es gab zwei Gutachten, ein positives und ein negatives. "Letztlich erhielt Picasso niemals eine Antwort auf seinen Antrag, was nach den Bräuchen der Verwaltung einer Ablehnung gleichkommt."

Detailliert werden im Kulturteil französische Pleiten in Hollywood nacherzählt: "Rund 30 Milliarden Francs haben französische Unternehmer in Los Angeles gelassen, wenn man die Debakel von Francis Bouyges mit Ciby 2000 im Jahr 1990, die Blamage des Credit Lyonnais, der wenig später in die MGM-Falle trat und die Niederlage des Senders Canal Plus mit seinem Minimajor Carolco zusammenzählt. Ohne die Fortsetzungsgeschichte um Vivendi Universal zu vergessen, dessen amerikanisches Abenteuer zur Karambolage zu werden droht." Man kann also wirklich nicht behaupten, dass die Franzosen Amerika nicht lieben!
Archiv: Express

Spiegel (Deutschland), 19.05.2003

Nicht nur der Titel - zu den jüngsten desaströsen Wirtschaftsdaten - zeigt die Welt diesmal ganz in schwarz-weiß.

Im Interview (leider nur im Print) spricht Norman Mailer über die Stimmung in seinem Land und erklärt, warum er die Anschläge vom 11. September nicht persönlich genommen hat: "Weil es natürlich kein Anschlag auf Amerika war, sondern in gewisser Hinsicht ein Anschlag auf die amerikanische Oberschicht."

Lars Olav-Beier und Romain Leick haben bei den Filmfestspielen in Cannes eine Fortsetzung der Differenz zwischen Amerika und Europa mit anderen Mitteln entdeckt haben. Während die Amerikaner mit Technikbegeisterung aufwarteten, "die das Sensorium des Menschen durch die Maschine zu erweitern sucht", sei da, auf der anderen Seite, "dieser Däne, der keineswegs glaubt, dass die Zukunft des Kinos allein in der Technik liegt. Aus jedem neuen Werk macht Trier ein formales Experiment. 'Dogville', der um 1930 in den Rocky Mountains spielt, ist eine neue Kunstform, eine Verschmelzung von Film, Theater und Literatur."

Weitere Artikel: Peter Wensierski berichtet von abstoßenden Praktiken zahlreicher Erziehungsanstalten, die von katholischen Orden geführt wurden: "So wurden Kinder im 'St. Joseph-Haus' in Seligenstadt noch 1992 blutig geschlagen. Und im katholischen Stift zu Eisingen bei Würzburg wurden sie noch im Jahr 1995 beispielsweise zur Strafe in Badewannen mit kaltem Wasser gesteckt." Marco Evers glaubt, dass Apple mit seinem neuen Online-Musikshop eine gute Kompromisslösung gefunden hat. Dass die Qualität beim neuen Dienst, wie Apple behauptet, dank eines neuen Dateiformats "noch besser als bei MP3" ist - das, so Evers, "halten Soundtester allerdings für übertrieben."

Nur im Print: ein Interview mit Serbiens Premierminister Zoran Zivkovic "über den Kampf gegen das organisierte Verbrechen", ein Interview mit "Pink-Floyd-Veteran" Roger Waters. Berichte über das "erste literarische Werk von Popstar Madonna", über den "grandiosen" Erweiterungsbau des Deutschen Historischen Museums in Berlin. Und es gibt Näheres über den Texaner Michael Dell - den Mann, der weltweit am meisten Computer verkauft. Besprochen werden Tim Parks literarische Einblicke in die Abgründe sexuellen "Doppellebens" und "Matrix Reloaded".
Archiv: Spiegel

New York Times (USA), 18.05.2003

Apokalypse now! Unsere Chancen, die nächsten 100 Jahre zu erleben, stehen 50:50, wenn man Martin Rees glauben darf. In "Our Final Hour" beschreibt der britische Astronom und Cambridgeprofessor, was da alles noch kommen mag. Die Besprechung von Dennis Overbye liest sich dann auch wie die Beschreibung der gesammelten Prophezeiungen einer Endzeitsekte, erschreckenderweise aber auf hohem seriösen wissenschaftlichen Niveau. "Es gibt viele Dinge, über die wir uns Sorgen machen müssen, manche sind altbekannt: globale Erwärmung, Asteroideneinschläge und der alte Schrecken eines Nuklearkriegs", referiert Overbye. Aber "andere sind neu": Hochentwickelte Nanopartikel "könnten uns und alles Lebe nauf der Erde verschlingen", und "gewisse physikalische Experimente könnten die Raumzeit selbst stören." Rees' "Antwort liegt im Weltall. Wenn wir erst einmal Kolonien auf verschiedenen Planeten errichtet haben, ist die Chance geringer, dass eine Katastrophe uns alle erwischt."

Nur weil es so gut dazu passt: Margaret Atwood (weitere Werke) lässt ihren neuen Roman "Oryx and Crake" (erstes Kapitel) in einer post-apokalyptischen Urszenerie" spielen, in den Resten der heutigen Welt "nach einer wenn auch etwas schwachen Apokalypse". Sven Birkert verreißt das Buch trotzdem. Science Fiction überhaupt und Atwoods Geschichte Besonderen "wird nie Literatur mit einem großen 'L' werden, weil sie immer eher von den Umständen als von den Charakteren ausgeht."

Aus den weiteren Besprechungen: Robert Dallek begrüßt "The Clinton Wars", die umfassenden Memoiren des Clinton-Beraters Sydney Blumenthal, als "willkommene Bereicherung der Literatur über die tumultreiche zweite Amtszeit des Präsidenten". Das Buch biete "eine starke und generell überzeugende Verteidigung von Bill, Hillary und Blumenthal" in der Zeit von Lewinksy-Affäre und Impeachment-Verfahren. Nicht ganz zufrieden hört sich dagegen Jennifer Schüssler nach der Lektüre von Cristina Garcias chinesisch-kubanischer Familienchronik "Monkey Hunting" (erstes Kapitel) an. "Ein ehrenwerter Versuch, alte Erinnerungen zu retten. Aber all die Blüten und Beschwörungen und Tränen schaffen es nicht, diese Vorfahren wieder lebendig zu machen". Wer Kinder kennt, die Englisch können, oder selbst eines ist, kann außerdem einen Blick in die 29 Kinderbuchbesprechungen werfen.
Archiv: New York Times