Heute in den Feuilletons

Ein wilder Watz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
23.11.2013. Wozu ein nationales Internet, wenn dann der BND schnüffelt, statt der NSA, fragt Mario Sixtus im Tagesspiegel. In der NZZ liest Gertrud Leutenegger in einem ihr besonders teuren Diebesgut. Die taz gräbt Schätze aus der Blütezeit des äthiopischen Jazz aus. Die Welt veröffentlicht einen Aufruf europäischer Intellektueller, die die Freilassung Nadeschda Tolokonnikowas und Marija Aljochinas fordern. Die FAZ reist zum Literaturfestival "Filit" ins ostrumänische Iaşi.

NZZ, 23.11.2013

Literatur und Kunst druckt ein "Nachtstück" von Gertrud Leutenegger, die ein Sommergewitter im Schatten des Monte Generoso auf ein Buch der Romantik lenkt: "Ein mir besonders teures Diebesgut, eine Dünndruck-Ausgabe mit dunkelblauem Lederrücken, einer frühen Liebe mit Raubtierinstinkt als das mir eigentlich Zugehörige entwendet und mit allem unwiederholbaren Zauber und aller Schuld jener Jahre getränkt: Novalis. Keine noch so tadellose Neuedition hätte mir die Aura dieses Buches ersetzt. Es überlebte alle Umzüge, ich hatte auch die Dreistigkeit, den Besitzernamen auszuradieren, unterlassen und nur einfach auf die zweite Seite meinen Namen hinzugesetzt, und so schaute mir jene Liebe beim Lesen über die Schulter, und ich ließ sie, als späte Abbitte, an meinen Erregungen teilnehmen."

Außerdem: Ludger Lütkehaus reflektiert anlässlich der "Liebes-, Lebens- und Sterbensgeschichte" von Novalis und seiner Braut Sophie von Kühn über das "Nachsterben". Marco Frei feiert den hundertsten Geburtstag des britischen Komponisten Benjamin Britten. Werner von Koppenfels schreibt zum dreihundertsten Geburtstag von Laurence Sterne, den "freiesten Schriftsteller aller Zeiten".

Im Feuilleton kritisiert der Berner Galerist Eberhard W. Kornfeld die "Medienhysterie" beim Münchner Kunstfund. Und er macht darauf aufmerksam, dass sich die vier Galeristen - Hildebrand Gurlitt, Ferdinand Möller, Karl Buchholz und Bernhard A. Böhmer) - die 1939/40 aus den Beständen "entarteter Kunst" kauften, auch verdient gemacht haben: "Alles, was nicht ins Ausland oder an die vier deutschen Kunsthändler und einzelne mutige Sammler verkauft werden konnte, wurde 1939 der Fama nach in einem Berliner Feuerwehrstützpunkt verbrannt und damit vernichtet. Ferdinand Möller ist heute in Deutschland der große Held. Er gilt als Retter von wichtigen Teilen des Bestandes 'entartete Kunst'. Hildebrand Gurlitt wird hingegen für die gleiche Tat verteufelt." (Ganz so positiv wird Möller - zum Beispiel in der Berliner Zeitung - nicht gesehen.)

Und: Joachim Güntner berichtet über den Sieg von Google Books vor Gericht.

Besprochen werden eine Balthus-Ausstellung im Metropolitan Museum in New York (Bild: Balthus, "Therese träumt", 1938), die Strauss-Oper "Frau ohne Schatten in München unter Kirill Petrenko ("Welche Farbenkunst herrscht in dieser Interpretation", ruft ein begeisterter Peter Hagmann) und Bücher, darunter Germán Kratochwils Roman "Río puro" (mehr in unserer Bücherschau heute ab 14 Uhr).

Spiegel Online, 23.11.2013

Günter Grass rät der SPD-Basis, gegen die große Koalition zu stimmen, meldet Spiegel Online mit dpa: "'Ich kann der SPD und ihren Mitgliedern nur raten, nicht in diese große Koalition zu gehen', sagte er. Eine große Koalition wäre übermächtig, für die Opposition bestünden praktisch keine Chancen mehr."

Tagesspiegel, 23.11.2013

Ein nationales Internet, wie es gerade in der FAZ vorgeschlagen wird? Ganz dumme Idee, findet Mario Sixtus. Davon würden nämlich nur zwei profitieren: die Telekom und der Innenminister. "In Wahrheit sind nämlich nicht die amerikanischen Geheimdienste das Problem, sondern Geheimdienste überhaupt - auch die deutschen. Denn der BND schnorchelt den deutschen Internetverkehr längst mit, und der Innenminister wünscht sich für seine Geheimdienste eine ähnliche Infrastruktur und ähnliche Befugnisse wie die NSA sie besitzt. In den Augen Friedrichs gibt es ein gutes Ausspionieren deutscher Bürger, nämlich durch deutsche Geheimdienste, und es gibt böses Ausspionieren durch ausländische Dienste."

Im Kulturteil berichtet Gregor Dotzauer über eine Diskussion ungarischer Schriftsteller in der Berliner Akademie der Künste. Besprochen wird u.a. Luc Bessons Mafiafilm "Malavita" mit Robert de Niro.

TAZ, 23.11.2013

Diedrich Diederichsen gräbt in den Re-Issues des französischen Plattenlabels Heavenly Sweetness nach Schätzen aus der Blütezeit des äthiopischen Jazz der frühen siebziger Jahre, als Künstler die Musik aus den westlichen Metropolen in ihre Heimat brachten und dort mit der eigenen, folkloristischen Musik amalgamisierten. Grandios findet er etwa ein namenlos gebliebenes Album von Getatchew Mekurya aus dem Jahr 1972: "Ein wilder Watz, dessen temperamentvolle Ausbrüche entlang äthiopischer Skalenlinien eher an Peter Brötzmann und Archie Sheep erinnern würden - wären da nicht diese eigentümlich stoisch durchgehaltenen Backing mit mysteriöser Orgel und prominenter Bassgitarre, die zudem noch meistens im Dreivierteltakt gespielt werden: aber nicht etwa jazzig-verwaschen, sondern walzerartig streng auf 'eins' betont." Eine Hörprobe auf Youtube:



Weiteres: Cristina Nord empfiehlt Claude Lanzmanns neuen Film "Le dernier des Injustes", der morgen im Kino Arsenal zum ersten Mal in Deutschland gezeigt wird. Melancholisch durchstreift Jens Uthoff die Berliner Clubszene, die sich langsam Richtung Mainstream und Tourismus verabschiedet. Brigitte Werneburg informiert sich bei Isabel Pfeiffer-Poensgen über Restitutionsarbeit. FAZ-Gastrokritiker Jürgen Dollase beklagt im ausführlichen Gespräch mit Peter Unfried die mangelnde Esskultur der Deutschen und plädiert für die Ausprägung eines raffinierten, ästhetischen Sensoriums. Auch Jörn Kabisch wünscht sich im beistehenden Text eine Wiederentdeckung des kulinarischen Genusses. Susanne Messmer spricht mit dem Autor Horst Evers. Petra Schellem führt durch das Programm der Nordischen Literaturtage in Hamburg. Außerdem bringt die taz eine Totensonntagsgeschichte von Helmut Klemm.

Besprochen werden die Ausstellung "Humanimal" im Tieranatomischen Theater Berlin, eine Ausstellung über die Kunstsammlung Charlottenburg in der Berliner Villa Oppenheim, eine Foto-Ausstellung von Fred Stein im Jüdischen Museum Berlin, eine Ausstellung mit Arbeiten des Bildhauers George Minne im Gerhard Marcks Haus in Bremen und Bücher, darunter Ian McEwans Roman "Honig" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Und Tom.

Weitere Medien, 23.11.2013

(Via Alan Rusbridger) Die NSA forderte bereits im letzten Jahr mehr Kompetenzen von der amerikanischen Regierung, meldet die New York Times unter Bezug auf ein internes Papier: "Written as an agency mission statement with broad goals, the five-page document said that existing American laws were not adequate to meet the needs of the N.S.A. to conduct broad surveillance in what it cited as 'the golden age of Sigint,' or signals intelligence. 'The interpretation and guidelines for applying our authorities, and in some cases the authorities themselves, have not kept pace with the complexity of the technology'..., the document concluded."

(Via Glenn Greenwald) Foreign Policy berichtet außerdem über die Kooperation von NSA und bestimmten Diensten des FBI, die amerikanische Bürger für den Auslandsgeheimdient abhören.

Welt, 23.11.2013

Die Welt veröffentlicht einen Aufruf europäischer Intellektueller, die die Freilassung der Pussy-Riot-Sängerinnen Nadja Tolokonnikowa und Marija Aljochina und andernfalls einen Boykott der Olympischen Winterspiele von Sotschi fordern: "Russland ist eine verfassungsmäßige Republik und permanentes Mitglied des UNO-Sicherheitsrates. Russland hat die internationalen Menschenrechtsvereinbarungen unterzeichnet, die das Grundrecht auf Freiheit beinhalten. Nun, da die Olympischen Spiele im nächsten Februar nahen, ist es Zeit, Russland daran zu erinnern." Unterzeichnet ist der Aufruf unter anderem von André Glucksman, Aleida Assmann und Juli Zeh.

In der Literarischen Welt fordert Clemens Meyer Respekt für Huren: "Das Prostitutionsgesetz von 2002 ist sicher nachzubessern. Aber es war ein Schritt, mehrere Schritte, in die richtige Richtung."

Richard Kämmerlings unterhält sich mit Karl Ove Knausgard über seinen monumentalen Romanzyklus "Mein Kampf' (Erste Frage: "Wie um Himmels Willen konnten Sie Ihr Buch nur 'Mein Kampf" nennen?") Peter Praschl bespricht den neuesten Band aus dem Zyklus, "Spielen". Mara Delius trifft Bob Silvers, den Herausgeber der New York Review of Books.

Besprochen werden unter anderen David Vogels wiedergefundener Roman "Eine Wiener Romanze", Nick Biltons Reportage über Twitter, zwei neue Bücher über Hitler-Gegner im Außenministerium und Jörg Tremplers Bildband über "Katastrophen".

Im Feuilleton unterhält sich Sascha Lehnartz mit Claude Lanzmann über seinen Film "Le Dernier des Injustes", der in Deutschland nicht in die Kino kommt - Lanzmann zeigt hier sein Gespräch mit dem "Judenrat" Benjamin Murmelstein, mit Material, das er in der Zeit seines "Shoah"-Films drehte. Kolja Reichert kommentiert die Ernennung Adam Szymczyks zum Kurator der nächsten Documenta. Marc Reichwein geht mit Götz von Berlichingen, Nachfahre in der 18. Generation, Wild aus eigener Jagd essen.

Besprochen wird Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" in München.

FAZ, 23.11.2013

Dirk Schümer berichtet vom ersten internationalen Literaturfestival "Filit" im ostrumänischen Iaşi, fast an der Grenze zu Moldawien: "Eine Veranstaltung von solcher Dimension und von derart europäischem Zuschnitt hat es in Rumänien noch nie gegeben. ... Und nun also, organisiert von prominenten Autoren, die allesamt aus dem mächtigen Schriftstellerverband ferngehalten werden, ein modernes Event mit Lesungen, Elektromusik, Fotoausstellungen und Gratisbussen aus dem ganzen riesigen Umland, die oft erst am frühen Morgen mit den Literaturliebhabern an Bord wieder in Suceava, Bukarest oder Chişinău eintrafen."

Weitere Artikel: In der Reihe Generationengespräche gibt es Interviews mit Patentochter und Patentante Louise von Wallmoden und Ruth Klüger. Auf der Medienseite stellt Patrick Bahners "Alpha House" vor, die erste Filmserie von Amazon.

Besprochen werden die Strauss-Oper "Frau ohne Schatten", dirigiert von Kirill Petrenko, inszeniert von Krzysztof Warlikowski in München (tolle Regie, tolle Sänger und in der Musik zeigt sich, dass "dieser Generalmusikdirektor ein Glücksfall ist für München", schwärmt Eleonore Büning), Luc Bessons Film "Malavita" und ein Konzert der Band Phoenix in Berlin.

In der Frankfurter Anthologie stellt Marcel Reich-Ranicki ein Gedicht von Erich Fried vor:

"Logos

Das Wort ist mein Schwert
und das Wort beschwert mich
Das Wort ist mein Schild
und das Wort schilt mich
..."

SZ, 23.11.2013

Thomas Kirchner fragt den Europa-Befürworter François Heisbourg, warum dieser für eine Abschaffung des Euro plädiert. Den Ruch des Elitären kann er dabei nicht gerade abschütteln: "Die Märkte sind derzeit ruhig. Das sollten wir nutzen für eine ernsthafte Diskussion über die Frage, wie der Euro aufgegeben werden kann - zunächst unter Experten, ohne die Regierungen... "

Außerdem: Unter den neuesten Veröffentlichungen aus dem Münchner Kunstfund befinden sich auch Grafiken von Edvard Munch, meldet Ira Mazzoni. Anke Sterneborg trifft sich mit Robert de Niro, der aktuell in Luc Bessons von Susan Vahabzadeh besprochener Komödie "Malavita" zu sehen. Die Literaturseite ist komplett dem Schriftsteller Laurence Sterne gewidmet, der vor 300 Jahren geboren wurde. Wolfgang Schreiber gratuliert dem Avantgarde-Komponist Krzysztof Penderecki zum 80. Geburtstag. Auf Youtube erforschen wir mit ihm die Dimensionen von Zeit und Schweigen:



Auf der Medienseite gratuliert Alexander Menden der BBC-Kult-SF-Serie "Doctor Who" zum (wenn auch mit einigen Jahren Unterbrechung) 50-jährigen Bestehen. Warum dies zwar dem britischen Google ein aufwändiges Doodle wert ist, aber nicht dem deutschen, erfährt man dabei auch: " In Deutschland war dem Doktor vergleichsweise geringer Erfolg beschieden. Das ZDF entschied sich 1968 gegen einen Ankauf, die Ausstrahlung der neueren Staffeln bei RTL und Pro Sieben machten kaum Quote."

Besprochen werden eine Isa Genzken gewidmete Retrospektive im MoMA, eine Aufführung von Richard Strauss' "Frau ohne Schatten" in München, Joshua Sobols "Ghetto" am Münchner Volkstheater und eine Ausstellung mit Fotografien von Hermann Landshoff im Münchner Stadtmuseum.

In der SZ am Wochenende beobachtet Birgit Schönau das bröckelnde System Berlusconi. Alex Rühle stellt Hasan Nuhanovic vor, der die niederländischen Blauhelme erfolgreich dafür juristisch belangen konnte, beim Massaker von Srebrenica nicht eingegriffen zu haben. Willi Winkler porträtiert die Wolfsburger Band Enemy Jack, die auch ohne Label im Rücken CDs veröffentlicht, Konzerte spielt und Shirts verkauft. Gabriela Herpell plaudert mit Donald Sutherland, der sich mächtig über soziale Ungerechtigkeiten in den USA ärgert.