Magazinrundschau
Wind aus dem Osten
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
20.10.2020. Die New York Times fragt sich, ob die Demokratie überleben kann, wenn Meinungsfreiheit auch Falschinformation umfasst. In Elet es Irodalom denkt der Dichter Csaba Báthori über verschiedene Formen des Übersetzens nach. Die London Review erklärt, warum viele Chinesen einen kompetenten Diktator einem inkompetenten, aber demokratisch gewählten Staatsoberhaupt vorziehen. Eurozine erkundet die ethno-linguistische Segregation in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Tablet fragt, warum selbst Medien wie die New York Times einen antisemitischen Hassprediger wie Louis Farrakhan hofieren. Der New Yorker trifft sich mit Moxie Marlinspike, Mitbegründer von Signal.
New York Times (USA), 20.10.2020

Auf den Technologieseiten der NYT erzählen Davey Alba und Jack Nicas was geschieht, wenn die Lokalzeitungen sterben: Sie werden ersetzt durch Webseiten, die wie journalistische Angebote aussehen, deren Artikel jedoch von Politikern oder PR-Firmen gekauft sind. Man nehme nur die "Maine Business Daily, die Teil eines schnellwachsenden Netzwerks von fast 1.300 Webseiten ist, das die Leere füllen will, die die verschwindenden Lokalzeitungen im Land hinterlassen haben. Doch das Netzwerk, jetzt in allen 50 Staaten verbreitet, ist nicht auf traditionellem Journalismus aufgebaut, sondern auf Propaganda, die von Dutzenden konservativen Think Tanks, Politikern, Geschäftsmännern und PR-Leuten angefordert wird, wie eine Recherche der Times herausfand. Die Seiten erscheinen als gewöhnliche Lokalnachrichten mit Namen wie Des Moines Sun, Ann Arbor Times und Empire State Today. Wie jede Lokalzeitung verwenden sie einfache Layouts und Artikel über lokale Politik, Gemeindeereignisse und manchmal nationale Themen. Aber hinter den Kulissen werden viele der Geschichten von politischen Gruppen und PR-Firmen inszeniert, um für einen republikanischen Kandidaten oder ein Unternehmen zu werben oder um ihre Rivalen zu verleumden."
New York Review of Books (USA), 05.11.2020

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.10.2020

London Review of Books (UK), 22.10.2020

Weiteres: James Meek fragt sich, warum Anhänger von Verschwörungstheorien eigentlich immer glauben, sie hätten das große Ganze erfasst, wenn sie doch auf jede Frage nur die Schrumpfversion einer Antwort haben. Anne Enright entziffert Marilynne Robinsons perfekte Paradoxe. Paul Keegan liest T.S. Eliots Briefe an Emily Hale.
Eurozine (Österreich), 12.10.2020

Tablet (USA), 14.10.2020

Die Publizistin Bari Weiss, die neulich die New York Times verließ und darüber einen deftigen Blog-Artikel verfasste (unser Resümee) warnt die Juden Amerikas vor einer Ideologie, die sie als tendenziell bis manifest antisemitisch ansieht, nämlich die auch hierzulande weitverbreiteten Ideen der akademischen Linken, die seit neuestem unter dem Begriff der "Social Justice Studies" zusammengefasst werden - dazu gehört die Critical Race Theory, deren Protagonisten wie Ibram X. Kendi (Coverboy bei GQ) Weiss besonders suspekt sind. Diese Ideologie, so Weiss, beherrsche nicht mehr nur die amerikanischen Unis, sondern auch Kulturinstitutionen, Modemagazine (die Vogue widmet der Farrakhan-Anhängerin Tamika Mallory eine Modestrecke) und sei sogar in Unternehmensleitungen angekommen. Am schwersten, so Weiss, haben es junge Juden, die es sich nicht nehmen lassen, Israel zu verteidigen: "Es spielt keine Rolle, wie fortschrittlich Sie sind, wie vegan oder schwul, wie sehr Sie für universelle Gesundheitsversorgung und Vorschulen sind und ein Ende des Drogenkrieges fordern. An die Existenzberechtigung des jüdischen Staates zu glauben, überhaupt an eine jüdische Besonderheit zu glauben, bedeutet, sich zum Feind dieser Bewegung zu machen. 'Es ist schwer zu übertreiben, wie erstickend diese Weltanschauung besonders für jüdische College-Studenten ist', schrieb mir kürzlich Blake Flayton, ein linker jüdischer Student an der George Washington University. 'Wir passen nicht in die Kategorien 'Unterdrücker' oder 'Unterdrückte'. Wir sind sowohl privilegiert als auch an den Rand gedrängt, werden von der Politik geschützt und dennoch von denselben rassistischen Verrückten ins Visier genommen wie People of Color. Der Hass, den wir auf dem Campus erleben, hat nichts mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu tun. Er kommt daher, dass Juden der antirassistischen Ideologie durch ihre bloße Existenz widersprechen."
Bari Weiss' Artikel steht im Kontext einer höchst beunruhigten Stimmung im Tabletmag, dessen Redaktion leider nur im Newsletter der Zeitschrift eine bittere Abrechnung mit der allgegenwärtigen Farrakhan-Idolatrie liefert. Louis Farrakhan, bekanntlich Chef der "Nation of Islam", ist durch zahllose antisemitische Äußerungen hervorgetreten und macht die Juden für die Sklaverei verantwortlich. Aber er hat immer noch viele Anhänger und auch Anhängerinnen (siehe oben), etwa den Rapper Ice Cube, der von Donald Trump hofiert wird. Aber "auch von den Redakteuren der New York Times wird diese vergiftete Fiktion verbreitet, die an diesem Wochenende einen zuckersüßen Kommentar über die Frauen hinter Farrakhans 'Million Man March' brachte, ohne dass seine offenen und abscheulichen Hassreden, die den verstorbenen John Lewis zum Boykott der Veranstaltung veranlassten, auch nur mit einem Hinweis bedacht wurden. Als jüdische Leser ihre Verärgerung über diese Schönfärberei zum Ausdruck brachten, forderte die Autorin des Artikels sie auf Twitter auf, sich nicht immer als Mittelpunkt zu betrachten. Können Sie sich vorstellen, dass ein Mitarbeiter der Times dies zu irgendeiner anderen Minderheitengruppe sagen würde, die Ziel von Gewalt ist? Und dies in dem selben Jahr, in dem es ein Attentat gegen Juden gab, dessen Täter von den Ideen Farrakhans inspiriert waren?"
Guardian (UK), 15.10.2020

The Ringer (USA), 06.10.2020
Kennen Sie den noch?
1990 war Vanilla Ice schlagartig ganz groß und genauso schlagartig wieder weg vom Fenster. Erst feierten alle den weißen Rapper, dann fanden ihn alle peinlich. Jeff Weiss hat nochmal aufgeschrieben, wie es dazu kam und man staunt: Im Grunde haben ein einziger Zeitungsartikel, der die (allerdings auch nur leicht) auffrisierte Biografie des Musikers zerlegte, und eine (zugegeben wirklich zum Schreien komische) Parodie des noch blutjungen Jim Carrey (siehe unten) Vanilla Ice binnen kürzester Zeit vom Thron geholt. "In den 30 Jahren seit der Veröffentlichung seines Debütalbums ist es zunehmend schwieriger geworden, jene Welt vor Augen zu haben, in dem sich all dies zutrug. Fragen nach kultureller Aneignung und künstlerischer Integrität bestimmen zwar heute noch den zeitgenössischen Diskurs, aber es ist fast schon nicht mehr möglich, sich eine eine kulturelle Landschaft vorzustellen, in der ein paar negative Artikel, ein Comedy-Sketch und ein ruppiges Gespräch bei einer Late Night Show den größten Künstler der Erde zur Implosion bringen. Man fürchtete damals, dass Ice eine Welt begünstigen würde, in der die drängenden Salven von Public Enemy und NWA niemals die Haushalte der Mittelschicht erreichen könnten. Aber beide haben heute ihren verdienten Ehrenplatz in der Rock & Roll Hall of Fame und letztere sogar ein Biopic, dass mehr als 200 Millionen Dollar umgesetzt hat und für einen Academy Award nominiert war. Nachdem Vanilla Ice und Marky Mark aus dem Rampenlicht getreten sind, wurde kein zweiter weißer Rapper berühmt bis Eminem acht Jahre später die Bühne betrat. Danach dauerte es weitere zehn Jahre bevor Macklemore all dieselben beunruhigenden Fragen aufwarf, die während der Amtszeit von George Bush dem Älteren erstmals gestellt wurden. Hip-Hop ist seitdem vom Pop-Mainstream so umfassend vereinnahmt und eingefasst worden, dass Rapper, viele von ihnen weiß, heute Arenen füllen können, ohne auch nur entfernt mit der Straßenkultur etwas zu tun zu haben."

Magyar Narancs (Ungarn), 17.09.2020

New Yorker (USA), 26.10.2020

Außerdem: Eyal Press schildert, wie Donald Trumps Arbeitsminister Eugene Scalia die Rechte von Arbeitnehmern immer mehr beschneidet. Alexis Okeowo porträtiert die afroamerikanische Kulturwissenschaftlerin Saidiya Hartman. Giles Harvey nimmt den neuen, autofiktionalen Roman von Martin Amis unter die Leselupe. Daniel Alarcon stellt die dominikanische Musikerin und Schriftstellerin Rita Indiana vor, die den pandemischen Augenblick in tanzbare Töne übersetzt. Alex Ross setzt sich dem sublimen Chaos der irischen Komponistin Jennifer Walshe aus. Adam Gopnik entdeckt das Enzyklopädische am Louvre. Und Anthony Lane sah im Kino Pietro Marcellos Verfilmung von Jack Londons Roman "Martin Eden".
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