Magazinrundschau

Wind aus dem Osten

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
20.10.2020. Die New York Times fragt sich, ob die Demokratie überleben kann, wenn Meinungsfreiheit auch Falschinformation umfasst. In Elet es Irodalom denkt der Dichter Csaba Báthori über verschiedene Formen des Übersetzens nach. Die London Review erklärt, warum viele Chinesen einen kompetenten Diktator einem inkompetenten, aber demokratisch gewählten Staatsoberhaupt vorziehen. Eurozine erkundet die ethno-linguistische Segregation in der estnischen Hauptstadt Tallinn. Tablet fragt, warum selbst Medien wie die New York Times einen antisemitischen Hassprediger wie Louis Farrakhan hofieren. Der New Yorker trifft sich mit Moxie Marlinspike, Mitbegründer von Signal.

New York Times (USA), 20.10.2020

Im Sommer machte das Gerücht die Runde, die Demokraten planten einen Coup, falls sie die Präsidentschaftswahl verlieren. Es war ein absurdes Gerücht, das von Trump und seinen Anhängern jedoch mit Genuss verbreitet wurde, berichtet Emily Bazelon im Wochenendmagazin der New York Times. Inzwischen fragen sich nicht nur Juristen, ob die Meinungsfreiheit in den USA wirklich auch Hassrede und vorsätzliche Falschinformationen umfassen muss. "Die Vereinigten Staaten befinden sich mitten in einer katastrophalen Krise des öffentlichen Gesundheitswesens, die durch die Ausbreitung des Coronavirus verursacht wird. Sie befinden sich aber auch mitten in einer Informationskrise, die durch die Ausbreitung viraler Desinformation verursacht und definiert wird als Unwahrheiten zur Erreichung eines politischen Ziels. (...) Die Verschwörungstheorien, die Lügen, die Verzerrungen, die überwältigende Menge an Informationen, die darin verpackte Wut - das alles dient dazu, Chaos und Verwirrung zu stiften und die Menschen, auch Nicht-Parteiische, erschöpft, skeptisch und zynisch gegenüber der Politik zu machen. Das Ausspucken von Unwahrheiten dient nicht dazu, eine Schlacht der Ideen zu gewinnen. Ihr Ziel ist es, diese Schlacht zu verhindern, indem sie uns dazu bringt, einfach aufzugeben. Und das Problem ist nicht nur das Internet. Ein Anfang dieses Monats veröffentlichtes Arbeitspapier des Berkman-Klein-Centers für Internet und Gesellschaft in Harvard stellte fest, dass effektive Desinformationskampagnen oft ein 'elitegesteuerter, von Massenmedien geführter Prozess' sind, in dem 'soziale Medien nur eine untergeordnete und unterstützende Rolle' spielten. Trumps Wahl versetzte ihn in die Lage, direkt über Fox News und andere konservative Medien wie Rush Limbaughs Talk-Radio-Show zu agieren, die inzwischen 'in der Tat als Parteipresse' funktionieren, fanden die Harvard-Forscher heraus."

Auf den Technologieseiten der NYT erzählen Davey Alba und Jack Nicas was geschieht, wenn die Lokalzeitungen sterben: Sie werden ersetzt durch Webseiten, die wie journalistische Angebote aussehen, deren Artikel jedoch von Politikern oder PR-Firmen gekauft sind. Man nehme nur die "Maine Business Daily, die Teil eines schnellwachsenden Netzwerks von fast 1.300 Webseiten ist, das die Leere füllen will, die die verschwindenden Lokalzeitungen im Land hinterlassen haben. Doch das Netzwerk, jetzt in allen 50 Staaten verbreitet, ist nicht auf traditionellem Journalismus aufgebaut, sondern auf Propaganda, die von Dutzenden konservativen Think Tanks, Politikern, Geschäftsmännern und PR-Leuten angefordert wird, wie eine Recherche der Times herausfand. Die Seiten erscheinen als gewöhnliche Lokalnachrichten mit Namen wie Des Moines Sun, Ann Arbor Times und Empire State Today. Wie jede Lokalzeitung verwenden sie einfache Layouts und Artikel über lokale Politik, Gemeindeereignisse und manchmal nationale Themen. Aber hinter den Kulissen werden viele der Geschichten von politischen Gruppen und PR-Firmen inszeniert, um für einen republikanischen Kandidaten oder ein Unternehmen zu werben oder um ihre Rivalen zu verleumden."
Archiv: New York Times

New York Review of Books (USA), 05.11.2020

Dass der amerikanische Justizminister William Barr Falschmeldungen Donald Trumps - etwa über angeblich massenhaften Wählerbetrug durch Briefwahl - unterstützt, wundert Fintan O'Toole überhaupt nicht. Denn Barr glaubt nicht an das Recht, er glaubt an die Macht, meint der irische Journalist in einem großen Porträt Barrs. "Seit Beginn seiner politischen Karriere in der Regierung von George H.W. Bush, in der er als Mitarbeiter des Generalstaatsanwalts, stellvertretender Generalstaatsanwalt und schließlich als Generalstaatsanwalt tätig war, war es Barrs größtes Anliegen, die Rechte einer quasi päpstlichen Präsidentschaft durchzusetzen. In einem für das Protokoll bestimmten Interview mit dem Miller Center der Universität von Virginia erinnerte Barr daran, dass er in die Regierung geholt wurde, um das Büro des Rechtsberaters zu leiten, weil der Leiter von Bushs Übergangsteam, Boyden Gray, 'darauf bedacht war, jemanden in diese Position zu bringen, der an die Exekutivgewalt glaubte'. 'Glaubte an' ist hier entscheidend. Barrs Verständnis von exekutiver Autorität ist ebenso wenig ein Ergebnis verfassungsrechtlicher Argumentation wie die Annahme der Unfehlbarkeit des Papstes durch einen eifrigen Katholiken das Ergebnis einer kühlen biblischen Analyse ist. Es ist eine Frage des Glaubens. Barr erklärte in diesem UVA-Interview, warum er glaubte, dass Bush das Recht habe, nach dem Einmarsch in Kuwait einen Krieg gegen den Irak zu führen, ohne die Zustimmung des Kongresses einzuholen: 'Erstens glaubte ich, dass der Präsident keine Genehmigung des Kongresses benötigte und er verfassungsmäßig befugt war, einen Angriff gegen die Iraker zu starten. Aber ich wusste auch, dass es keine große Rolle spielte, was ich dachte, denn das war es, was er tun würde. Er glaubte, er habe die Autorität dazu, und das ist letztlich wichtiger als das, was ich glaube.' Was Barr damit sagen will, ist, dass, selbst wenn er geglaubt hätte, dass Bush allein keinen Krieg erklären konnte, das keine Rolle gespielt hätte. Entscheidend ist, was der Präsident glaubt. Wenn er Vertrauen in seine eigene Autorität hat, ist es die Aufgabe seiner Anwälte, dieses Vertrauen nicht in Frage zu stellen, sondern zu verteidigen. Das ist es, was Barr zum perfekten Wegbereiter des Autoritarismus macht. In seinen Augen schränkt das Gesetz den Willen des Präsidenten nicht ein, sondern dient ihm vielmehr."

Elet es Irodalom (Ungarn), 16.10.2020

Der Schriftsteller, Dichter und Übersetzer Csaba Báthori hat unter anderen den ungarischen Dichter Attila József in Deutsche übersetzt. Im Interview mit Benedek Várkonyi spricht er über die Vor- und Nachteile der muttersprachlichen beziehungsweise nicht muttersprachlichen Übersetzungen: "Ich bin in Mohács aufgewachsen, auf einem geräumigen Gehöft, auf dem viele Nationalitäten zusammenlebten. Ich hatte eine Großmutter, die Schweitzer hieß, in erster Linie lernte ich von ihr Deutsch. So hatte ich sehr starke, jedoch ruhende Deutschkenntnisse in mir. Heutzutage scheint die Ansicht vorzuherrschen, dass der Mensch sich literarisch am besten in seiner Muttersprache ausdrücken könne. Ich weiß seit langer Zeit: das angeeignete, übernommene Wissen kann eine ebenso überwältigende Wirkung haben wie das angeborene oder vererbte Wissen. Auch Texte von muttersprachlichen Übersetzern können gut oder schlecht sein. Das sage ich auch über mich. Wenn jemand in seine Muttersprache übersetzt, bedeutet es noch lange nicht, dass er ein guter Übersetzer ist. Auch Originaltexte wurden nicht immer in der Muttersprache geschrieben, siehe Beckett, Panait Istrati oder Joseph Conrad. (...) Ich kenne jene Personen sehr gut, die ungarische Literatur ins Deutsche übersetzen. Das deutsche Sprachgebiet ist riesig, vielfarbig und es gibt kaum eine einheitliche deutsche Sprache. Und die Gruppe der Übersetzer? Es gibt geborene Ungarn, es gibt welche die früh oder spät ausgewandert sind, es gibt welche, die in Deutschland geboren wurden, es gibt die 'Konvertierten' und noch vieles mehr, was vorstellbar ist."

London Review of Books (UK), 22.10.2020

In Wuhan werden schon wieder Massen-Pool-Partys gefeiert, der letzte Corona-Fall liegt Monate zurück, berichtet die wie immer bestens informierte Wang Xiuying aus dem China nach Covid-19. Die Meinungskämpfer haben jetzt - ganz wie die Luxusläden - wieder Oberwasser, und Wang Xiuying macht vor allem zwei Debattenlinien aus: Unter dem selbstironischen Schlagwort 'ruguan xue' (Die Barbaren vor den Toren) wird diskutiert, wann die Chinesen die USA übernehmen, und unter 'gongye dang', ob Ingenieure ein Land besser regieren als Juristen: "Hier heißt es jetzt, dass wir unseren kompetenten Diktator dem inkompetenten Möchtegern-Autokraten in den USA vorziehen. Chinas Betonung von Ordnung, Stabilität, Verdienst, Kompetenz, Effizienz und Zweckmäßigkeit sieht dem westlichen Pakte weit überlegen aus. Wahlen, freie Märkte, Justiz, Gesundheitssysteme und Bildung werden von allen Seiten angezweifelt und beginnen, ihren Glanz zu verlieren. China hat ein eigenes Geschichtsbewusstsein, es betrachtet die Historie als einen Kreislauf, in dem Weltreiche und Dynastien zerfallen und untergehen, bevor sie sich wiedervereinen. Der Wind kam lange aus dem Westen, jetzt ist es Zeit für Wind aus dem Osten. Die Anhänger konfuzianischer Lehren haben sich in letzter Zeit aus den Diskussionen herausgehalten. Vielleicht weil 'ruguan xue' nicht passt zu ihren hochstehenden Ansichten der Han-Kultur, die allen Barbaren überlegen ist. 'Gongye dang' scheint aber auch keinen moralischen Mehrwert abzuwerfen. Aber weder 'ruguan xue' noch 'gongye dang' sind ernsthafte ideologische Auseinandersetzungen mit dem Westen, da ihre Vertreter davon ausgehen, dass der Westen die Bedingungen festlegt. Konfuzianer verfolgen in der Regel universalistische Ziele, sie predigen Wohlwollen, Integrität, Loyalität, natürliche Ordnung und das Konzept  'zhongyong' - Mäßigung, das Moderate, nicht die Extreme. Der Mittelweg ist nicht sonderlich attraktiv in einer Zeit, in der man im QAnon-Maßstab verrückt sein muss, um Aufmerksamkeit zu bekommen."

Weiteres: James Meek fragt sich, warum Anhänger von Verschwörungstheorien eigentlich immer glauben, sie hätten das große Ganze erfasst, wenn sie doch auf jede Frage nur die Schrumpfversion einer Antwort haben. Anne Enright entziffert Marilynne Robinsons perfekte Paradoxe. Paul Keegan liest T.S. Eliots Briefe an Emily Hale.

Eurozine (Österreich), 12.10.2020

Im aktuellen Magazin erkundet Tiit Tammaru die ethno-linguistische Segregation in der estnischen Hauptstadt Tallinn: "Tallin ist eine ethnolinguistisch spannende Stadt. Obgleich Estland sich eines vereinigten Wohnungs- und Arbeitsmarktes rühmen kann, ist seine Hauptstadt geteilt durch die Sprache: Estnische Muttersprachler leben in anderen Stadtteilen als die russischen Muttersprachler. In den vergangenen drei Jahrzehnten wurde Estlands Entwicklung von einem starken Glauben an den Markt getragen. Unter der sowjetischen Planwirtschaft spielte die Industrie zwar eine erhebliche Rolle, Estlands Stadtplanung aber war zentral organisiert und  die Bevölkerung weniger getrennt. Heute steht die ethno-linguistische Unterscheidung für Einkommensunterschiede und die räumliche Trennung … Die Trennung nach Muttersprachen ist Teil eines Teufelskreises, in dem Wohnbezirke, Arbeitsplätze und Schule miteinander korrelieren. Der Kreis beginnt mit der Geburt. Der Wohnort der Eltern bestimmt die Nachbarschaft, wo das Kind aufwächst, die Freunde, die Schule. Estlands paralleles Erziehugssystem ist ein weiterer Faktor: Sprachliche Trennung beginnt im Kindergarten, von wo aus die Kinder auf estnisch- und russischsprachige Schulen verteilt werden und damit auf verschiedene Erziehungswege. Auch wenn nicht alle russischen Kinder auch auf die russische Schule gehen und das Niveau des Estnischen auf den russischen Schulen verbessert wurde, lernen viele Kinder doch auf getrennten Schulen und überschreiten die sprachliche Grenze nicht."
Archiv: Eurozine

Tablet (USA), 14.10.2020

David Bezmozgis erzählt in einem fast buchlangen Artikel die wilde, düstere und heldenhafte Geschichte des Alexander Aronowitsch Petscherski, eines russischen Offiziers, der zuerst Kriegsgefangener war und dann, als die Nazis seine jüdische Herkunft entdeckten, in das Vernichtungslager Sobibor gesteckt wurde, wo er als einer der wenigen nicht sofort vergast wurde, sondern Zwangsarbeit verrichtete. Hier führte er einen ungeheuer kühnen und erfolgreichen Aufstand der Gefangenen gegen die SS an, um sich dann zunächst den Partisanen und schließlich wieder der Roten Armee anzuschließen. Nach dem Krieg haben die Sowjets seine Leistung nie anerkannt, im Gegenteil, er wurde schikaniert. Erst in den zehner Jahren, über zwanzig Jahre nach dem Tod Petscherskis, regte sich Interesse. Der Autor Ilja Wassiljew schrieb ein Buch und drehte später einen Film über Petschersky, der nun zu einem erbaulichen Helden der neostalinistischen Geschichtspolitik Wladimir Putins wurde. Wassiljew habe erkannt, "dass Petscherskis Geschichte perfekt mit dem sowjetisch-russischen Narrativ des Zweiten Weltkriegs übereinstimmte, wonach schwache, hilflose westeuropäische Länder, die sich Hitler ergeben hatten, von der Roten Armee gerettet wurden. Dasselbe geschah in Sobibor, wo wehrlose, handlungsunfähige Bürger westeuropäischer Länder Sowjetbürger brauchten, die schnell die Initiative ergriffen und triumphierten. (Wenn man eine Handvoll Spitzfindigkeiten ignoriert, ist diese Darstellung im Grunde richtig)."

Die Publizistin Bari Weiss, die neulich die New York Times verließ und darüber einen deftigen Blog-Artikel verfasste (unser Resümee) warnt die Juden Amerikas vor einer Ideologie, die sie als tendenziell bis manifest antisemitisch ansieht, nämlich die auch hierzulande weitverbreiteten Ideen der akademischen Linken, die seit neuestem unter dem Begriff der "Social Justice Studies" zusammengefasst werden - dazu gehört die Critical Race Theory, deren Protagonisten wie Ibram X. Kendi (Coverboy bei GQ) Weiss besonders suspekt sind. Diese Ideologie, so Weiss, beherrsche nicht mehr nur die amerikanischen Unis, sondern auch Kulturinstitutionen, Modemagazine (die Vogue widmet der Farrakhan-Anhängerin Tamika Mallory eine Modestrecke) und sei sogar in Unternehmensleitungen angekommen. Am schwersten, so Weiss, haben es junge Juden, die es sich nicht nehmen lassen, Israel zu verteidigen: "Es spielt keine Rolle, wie fortschrittlich Sie sind, wie vegan oder schwul, wie sehr Sie für universelle Gesundheitsversorgung und Vorschulen sind und ein Ende des Drogenkrieges fordern. An die Existenzberechtigung des jüdischen Staates zu glauben, überhaupt an eine jüdische Besonderheit zu glauben, bedeutet, sich zum Feind dieser Bewegung zu machen. 'Es ist schwer zu übertreiben, wie erstickend diese Weltanschauung besonders für jüdische College-Studenten ist', schrieb mir kürzlich Blake Flayton, ein linker jüdischer Student an der George Washington University. 'Wir passen nicht in die Kategorien 'Unterdrücker' oder 'Unterdrückte'. Wir sind sowohl privilegiert als auch an den Rand gedrängt, werden von der Politik geschützt und dennoch von denselben rassistischen Verrückten ins Visier genommen wie People of Color. Der Hass, den wir auf dem Campus erleben, hat nichts mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt zu tun. Er kommt daher, dass Juden der antirassistischen Ideologie durch ihre bloße Existenz widersprechen."

Bari Weiss' Artikel steht im Kontext einer höchst beunruhigten Stimmung im Tabletmag, dessen Redaktion leider nur im Newsletter der Zeitschrift eine bittere Abrechnung mit der allgegenwärtigen Farrakhan-Idolatrie liefert. Louis Farrakhan, bekanntlich Chef der "Nation of Islam", ist durch zahllose antisemitische Äußerungen hervorgetreten und macht die Juden für die Sklaverei verantwortlich. Aber er hat immer noch viele Anhänger und auch Anhängerinnen (siehe oben), etwa den Rapper Ice Cube, der von Donald Trump hofiert wird. Aber "auch von den Redakteuren der New York Times wird diese vergiftete Fiktion verbreitet, die an diesem Wochenende einen zuckersüßen Kommentar über die Frauen hinter Farrakhans  'Million Man March' brachte, ohne dass seine offenen und abscheulichen Hassreden, die den verstorbenen John Lewis zum Boykott der Veranstaltung veranlassten, auch nur mit einem Hinweis bedacht wurden. Als jüdische Leser ihre Verärgerung über diese Schönfärberei zum Ausdruck brachten, forderte die Autorin des Artikels sie auf Twitter auf, sich nicht immer als Mittelpunkt zu betrachten. Können Sie sich vorstellen, dass ein Mitarbeiter der Times dies zu irgendeiner anderen Minderheitengruppe sagen würde, die Ziel von Gewalt ist? Und dies in dem selben Jahr, in dem es ein Attentat gegen Juden gab, dessen Täter von den Ideen Farrakhans inspiriert waren?"
Archiv: Tablet

Guardian (UK), 15.10.2020

Entsetzliche Gräueltaten werden oft in einem Zustand irrationaler Emotionalität begangen, doch am abscheulichsten sind die kalt geplanten und präzise ausgeführten Schläge, weiß Frank Pasquale und blickt mit Schaudern in die Zukunft der KI-gesteuerten Waffen, Drohnen und Killerroboter: "Wir können uns alle einige besonders schreckliche Waffen vorstellen, die niemals hergestellt oder angewandt werden sollten. Eine Drohne, die einen feindlichen Soldaten langsam zu Tode erhitzen würde, würde gegen internationale Konventionen gegen Folter verstoßen; das Gleiche gilt für akustische Waffen, die das Hörvermögen oder den Gleichgewichtssinns des Gegners zerstören. Ein Land, das solche Waffen entwirft und gebraucht, sollte aus der internationalen Gemeinschaft ausgeschlossen werden. Abstrakt gesprochen können wir uns wahrscheinlich auch darauf einigen, die Erbauer von Killerrobotern zu ächten. Allein die Vorstellung, dass eine Maschine zum Töten losgelassen wird, ist gruselig. Und doch bewegen sich einige der größten Armeen der Welt auf eine Entwicklung dieser Waffen zu, indem sie der Logik der Abschreckung folgen: Sie fürchten, von der KI des Gegners zermalmt zu werden, wenn sie nicht eine ebenso mächtige Kraft entwickeln. Der Weg weg von einem solchen Wettrennen führt nicht so sehr über weltweite Verträge, sondern in einem Nachdenken darüber, wofür Kampf-KI benutzt werden könnte. Der Krieg kehrt immer nach Hause zurück, und die Anwendung militärischer Technologie innerhalb des eigenen Landes, wie es in den USA und China der Fall ist, sollte eine Warnung für die Bevölkerung sein: Welche Technologie von Überwachung und Zerstörung Sie auch immer Ihrer Regierung erlauben nach außen hin anzuwenden, kann früher oder später auch gegen Sie selbst benutzt werden."
Archiv: Guardian

The Ringer (USA), 06.10.2020

Kennen Sie den noch?



1990 war Vanilla Ice schlagartig ganz groß und genauso schlagartig wieder weg vom Fenster. Erst feierten alle den weißen Rapper, dann fanden ihn alle peinlich. Jeff Weiss hat nochmal aufgeschrieben, wie es dazu kam und man staunt: Im Grunde haben ein einziger Zeitungsartikel, der die (allerdings auch nur leicht) auffrisierte Biografie des Musikers zerlegte, und eine (zugegeben wirklich zum Schreien komische) Parodie des noch blutjungen Jim Carrey (siehe unten) Vanilla Ice binnen kürzester Zeit vom Thron geholt. "In den 30 Jahren seit der Veröffentlichung seines Debütalbums ist es zunehmend schwieriger geworden, jene Welt vor Augen zu haben, in dem sich all dies zutrug. Fragen nach kultureller Aneignung und künstlerischer Integrität bestimmen zwar heute noch den zeitgenössischen Diskurs, aber es ist fast schon nicht mehr möglich, sich eine eine kulturelle Landschaft vorzustellen, in der ein paar negative Artikel, ein Comedy-Sketch und ein ruppiges Gespräch bei einer Late Night Show den größten Künstler der Erde zur Implosion bringen. Man fürchtete damals, dass Ice eine Welt begünstigen würde, in der die drängenden Salven von Public Enemy und NWA niemals die Haushalte der Mittelschicht erreichen könnten. Aber beide haben heute ihren verdienten Ehrenplatz in der Rock & Roll Hall of Fame und letztere sogar ein Biopic, dass mehr als 200 Millionen Dollar umgesetzt hat und für einen Academy Award nominiert war. Nachdem Vanilla Ice und Marky Mark aus dem Rampenlicht getreten sind, wurde kein zweiter weißer Rapper berühmt bis Eminem acht Jahre später die Bühne betrat. Danach dauerte es weitere zehn Jahre bevor Macklemore all dieselben beunruhigenden Fragen aufwarf, die während der Amtszeit von George Bush dem Älteren erstmals gestellt wurden. Hip-Hop ist seitdem vom Pop-Mainstream so umfassend vereinnahmt und eingefasst worden, dass Rapper, viele von ihnen weiß, heute Arenen füllen können, ohne auch nur entfernt mit der Straßenkultur etwas zu tun zu haben."

Archiv: The Ringer

Magyar Narancs (Ungarn), 17.09.2020

Die Dichterin und Kinderbuchautorin Zsuzsa Tamás hat vor kurzem ihren ersten Roman mit dem Titel "Tövismozaik" (Stachelmosaik) veröffentlicht. Im Interview mit Dénes Krusovszky spricht sie über das Postulat und Kanonisierungspotential von "Frauenliteratur": "Sie scheint immer noch ein zweitrangiges Thema zu sein, denn neben und nach den kanonisierten großen Väterromanen wurde die Sprache über Mütter noch nicht durchschlagend rezipiert. Das hängt auch mit der Ansicht zusammen, dass jenes 'Ding', das die Kritik als Frauenprosa identifiziert, immer noch nicht gleichrangig behandelt wird mit den großen 'Männerthemen'. (…) Wir könnten das langsam mal überwinden. Auch ich musste befürchten, dass mein Buch mit dem Attribut 'Frauenprosa' belegt wird. Aber im Moment scheint mir das befreiend zu sein, so dass ich mit hocherhobenen Hauptes sagen kann: Ja, so ist es!"
Archiv: Magyar Narancs

New Yorker (USA), 26.10.2020

In einem Artikel des aktuellen Hefts trifft Anna Wiener den anarchistischen Hacker und Segler Moxie Marlinspike, Gründer des mit Ende-zu-Ende-Verschlüsselung arbeitenden nonprofit-Messaging-Dienstes Signal, dessen User-Zahl seit Trumps Wahl tüchtig gestiegen ist, und spricht mit ihm über den Sinn und die Kritik an seiner Arbeit. Der Dienst wird benutzt vom Democratic National Committee, dem Senat der Vereinigten Staaten, der EU-Kommission, Polizeibehörden, Rudy Giuliani und Melania Trump. "Signal ist ein Teil der öffentlichen Infrastruktur, der kritischen Infrastruktur", erklärt auch Edward Snowden per Video-Chat der Reporterin. Aber es gibt auch Kritik: "Datenschutz ist ein inhärentes Problem digitaler Kommunikation. Nachrichten können abfotografiert, Geräte gestohlen oder gehackt werden. Die Datenschutz-Community, Snowden eingeschlossen, kritisiert, dass User sich bei Signal mit einer Telefonnummer registrieren müssen, andere stört die eingebaute Meldung über Kontakte, die Signal beitreten. Und auch wenn der Quellcode der Plattform öffentlich ist und begutachtet wird, können die Nutzer nicht sicher sein, dass der Code der von ihnen heruntergeladenen Apps auch dem auf den Signal-Servern entspricht. Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Zentralisierung auf eine 'unberührbare' Organisation. Nutzer sollten ihre eigenen Server verwenden, heißt es (Bei Signal ist man der Meinung, dass es die Sicherheit verringern würde) 'Signal fails', ein anonymes Zine, das auf mehreren anarchistischen Websites zu lesen ist, warnt vor der Abhängigkeit von einem zentralisierten Dienst für Mobiltelefone. 'Wenn dein Gerät mit einem Keylogger oder anderer Malware infiziert ist, spielt es keine Rolle, wie sicher die Kommunikation ist', heißt es da … Marlinspike verteidigt die Zentralisierung als Bedingung für die weite Verbreitung und die Userfreundlichkeit von Signal. Er ahnt, warum Verschlüsselung in den 90ern nicht ankam: Cyberpunk ging davon aus, dass die Nutzer die Standards der Software-Ingenieure annehmen würden, nicht andersrum. Die meisten Menschen wollten sich aber nicht über Chiffrensammlungen und ASCII-Armor informieren, um eine sichere E-Mail zu versenden; sie wollten nicht an Partys teilnehmen, bei denen sie ihre Schlüssel gegenseitig signieren und öffentliche kryptografische Schlüssel austauschen, um ein Netz des Vertrauens aufzubauen. Sie wollten sich nur einloggen und mit ihren Freunden sprechen. 'Jeder, der nicht Steve Jobs war, hat sich genau darin geirrt', sagte Marlinspike."

Außerdem: Eyal Press schildert, wie Donald Trumps Arbeitsminister Eugene Scalia die Rechte von Arbeitnehmern immer mehr beschneidet. Alexis Okeowo porträtiert die afroamerikanische Kulturwissenschaftlerin Saidiya Hartman. Giles Harvey nimmt den neuen, autofiktionalen Roman von Martin Amis unter die Leselupe. Daniel Alarcon stellt die dominikanische Musikerin und Schriftstellerin Rita Indiana vor, die den pandemischen Augenblick in tanzbare Töne übersetzt. Alex Ross setzt sich dem sublimen Chaos der irischen Komponistin Jennifer Walshe aus. Adam Gopnik entdeckt das Enzyklopädische am Louvre. Und Anthony Lane sah im Kino Pietro Marcellos Verfilmung von Jack Londons Roman "Martin Eden".
Archiv: New Yorker