Magazinrundschau
Geh nicht nach Haiti!
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
17.06.2019. La vie des idées fragt, ob der Staat rassistisch sein kann oder eher seine Institutionen diskriminierend. Le Monde diplomatique erkundet die Ökonomie der Migration im Niger. Überwachen und Ausbeuten funktioniert aber auch mit Shared Workspaces ganz gut, weiß das New York Magazine. 168 ora steht fassungslos vor der Zerstörungswut der ungarischen Regierung. The Nation spürt dem amerikanischen Liberalismus nach. Die LRB revidiert mit Sibylle Lacan die Imago ihres Vaters. Und die New York Times erinnert an das Feuer bei Universal, das Masteraufnahmen von Duke Ellington bis John Coltrane verschlang.
La vie des idees (Frankreich), 14.06.2019

The Nation (USA), 12.06.2019

Le Monde diplomatique (Deutschland / Frankreich), 17.06.2019

Rémi Carayol beobachtet im Norden Nigers den Zusammenbruch der Ökonomie, seit der Staat auf Druck der EU gegen die Migration vorgeht: "In Agadez gleichen die 'Ghettos', die großen Häuser, in denen die Migranten untergebracht und versorgt werden, immer häufiger Gefängnissen. Seit sie für illegal erklärt wurden, können die Migranten sie nicht mehr verlassen, ohne das Risiko einzugehen, entdeckt zu werden. Die Preise für den Transport haben sich verdreifacht. Sobald die Polizei auftaucht, machen sich die Fluchthelfer aus dem Staub und lassen ihre Passagiere, darunter teilweise auch Kinder, mitten in der Wüste zurück. Auch für die lokale Bevölkerung hat sich die Situation verschlechtert. Verschiedene Studien zeigen, dass mehr als die Hälfte der Haushalte in Agadez von der Migration lebte: Fast 6.000 Menschen verdienten ihr Geld als Fluchthelfer, als Coxer (Mittelsmänner), als 'Ghetto'-Besitzer oder Fahrer; tausende andere profitierten indirekt - sei es als Köchin, Händler oder Taxifahrer."
Weiteres: Die Protestbewegungen in Algerien und Sudan hält der Afrikanist Gilbert Achcar politisch für ausgesprochen stark und immun gegen die Vereinnahmung islamischer Fundamentalisten. Aber dennoch werden sie es schwer haben, ahnt er: "Anders als in den lateinamerikanischen oder ostasiatischen Ländern, wo die politische Modernisierung die sozioökonomische Modernisierung komplettiert hat, geht es in der arabischen Welt vielmehr um die Abschaffung eines politischen Systems, das die wirtschaftliche und gesellschaftliche Entwicklung seit den 1980er Jahren blockiert." Akram Kharief erkundet die heikle Lage im Iran.
Eurozine (Österreich), 14.06.2019

New York Magazine (USA), 24.06.2019

London Review of Books (UK), 17.06.2019

Niemand konnte das Schweigen einsamer Männer so in Szene setzen wie Jean-Pierre Melville, der große Einzelgänger unter den Filmregisseuren. Adam Schatz liest mit großer Bewunderung zwei Biografien von Bertrand Teissier und Antoine de Baecque, in denen er auch viel über Melvilles Zeit in der Résistance und als Kämpfer für das freie Frankreich erfährt. Und er ärgert sich furchtbar, dass Melville als Genre-Regisseur abgetan wurde: "Der Minimalismus von Melvilles Filmen - wie auch ihre Gleichgültigkeit gegenüber psychologischen Beweggründen oder melodramatischen Konventionen - brachte ihm die Bemerkung ein, er imitiere Robert Bresson. Melville antworte darauf gereizt, er habe Bresson'sche Techniken bereits vor Bresson benutzt, also würde Bresson eher 'Melville-sieren'. Die Beobachtung war ziemlich treffend, doch selbst André Bazin, der ihre Richtigkeit anerkannte, attestierte Bresson, Melvilles Innovationen zur Vollendung zu bringen, als hätte erst Bresson aus den Tricks eines geringeren Filmemachers echte Kunst gemacht... Der unschmeichelhafte Vergleich mit Bresson verrät Vorurteile gegenüber dem Genre - und vielleicht auch noch andere. Melville, ein atheistischer Jude, drehte Krimis, Polizeifilme und politische Thriller, während Bresson, der gläubige Katholik, Arthouse-Filme mit spirituellem Ehrgeiz schuf. Die Gnade, die Bressons Charakteren gelegentlich zukommt, wird den Unterwelt-Verschwörern bei Melville niemals zuteil. Sie leben in einer gefallenen Welt, in der Brüderlichkeit die einzige Zuflucht bietet, den einzigen Ausweg der Tod."
Weiteres: Ian Penman liest Jason Drapers Prince-Biografie, hört sich noch mal durch sämtlich Alben und stellt fest: "Da Prince nur zu gern mit seiner Erscheinung spielte, hielt er nichts von der Verehrung des angeblich Authentischen, wie man schwarz, männlich oder soulful zu sein hat." Tom Strevenson liest die Berge von Papier, die ein New-York-Times-Reporter nach dem Ende des Islamischen Staats sichergestellt hat und die auch dem Möchtegern-Kalifat ein ermüdendes Maß an Bürokratie attestieren. David Runciman gibt allen Politikern, die gern den starken Mann markieren, mit auf den Weg, dass Margaret Thatcher Erfolg auf ihrem politischem Pragmatismus gründete.
New Yorker (USA), 24.06.2019

Außerdem: Jiayang Fan stellt den in Peking geborenen Sci-Fi-Autor Liu Cixin vor, der sich mit der veränderten Rolle Chinas im Weltgeschehen befasst. Und Nick Paumgarten besucht das exklusive Golf Masters Turnier in Augusta, Georgia.
168 ora (Ungarn), 16.06.2019

New York Times (USA), 16.06.2019

In einem anderen Artikel macht sich Nicholas Kristof Gedanken über die Todesstrafe: "Präsident Trump fordert eine Ausweitung der Todesstrafe auf Drogendealer und Polizistenmörder, mit einem beschleunigten Prozess und schneller Hinrichtung. Eine Mehrheit der Amerikaner (56 Prozent laut Gallup) befürwortet die Todesstrafe, weil sie glaubt, dass sie Straftäter abschreckt oder Geld spart, und vermutet, dass sie nur für die schändlichsten Kriminellen gilt und Fehler kein ernstes Risiko darstellen. All diese Annahmen sind falsch … Die Arbeit von Statistikern und Kriminologen hat ergeben, dass Hinrichtungen keine stärkere abschreckende Wirkung haben als lange Haftstrafen. Tatsächlich sind die Mordraten in Staaten ohne Todesstrafe niedriger als in Staaten mit Todesstrafe."
Film Comment (USA), 11.06.2019

Wenn der mexikanische Regisseur Carlos Reygadas ein Interview gibt, dann weht einem daraus nochmal der Geist des Autorenkinos entgegen. Sein neuer Film heißt "Nuestro Tiempo", eine Art metaphysischer SlowMo-Western (hier unsere Festivalkritik), der demnächst auch bei uns in den Kinos läuft. Der Titel - "Unsere Zeit" - bezieht sich "auf die Entfaltung von Ereignissen in der Zeit,", erklärt Reygada: "Wie Tarkowskij geschrieben hat, ist sie die dritte Dimension des Kinos. Für mich ist das Konzept der Präsenz der zentrale Aspekt des Kinos. Und diese Präsenz bedeutet nicht nur eine physische, von einem bestimmten Blickwinkel aus eingefangene Präsenz, sondern viel mehr etwas, was innerhalb der Zeit existiert. ... Im Kino verhält es sich nun einmal so, dass Sex nicht sonderlich präsent ist, weil es dafür keinen Bedarf gibt. Da ein Großteil des Kinos nur illustrierte Literatur darstellt, ist es Zeitverschwendung, Sex zu zeigen, wenn man ihn auch einfach andeuten kann. In meinem Kino ist die Entfaltung von Ereignissen von zentraler Bedeutung, also müssen Dinge gezeigt statt angedeutet werden - ob die Leute nun essen, sprechen, in Autos sitzen, Sex haben oder einfach nur ihr Leben leben."

Außerdem spricht Jordan Cronk mit dem französischen Filmemacher Bertrand Bonello über dessen Zombiefilmvariation "Zombi Child", die die heutige Gegenwart mit dem ursprünglichen Voodoo-Zombie-Mythos auf Haiti zu verbinden versucht. "Mir gefiel die Idee, so eine berühmte Figur - der Zombie, wie wir ihn kennen, ist ja fast eine Popfigur - zu übernehmen. Mich interessierte es, von diesem Ausgangspunkt aus zu den Ursprüngen zurückzukehren und mit dieser Bewegung zwischen den Epochen über Sklaverei und das Verhältnis zwischen Frankreich und Haiti zu sprechen, dessen Geschichte mit Blick auf die Sklaverei eine sehr schwierige, komplizierte ist. ... Jeder riet mir ab. 'Geh nicht nach Haiti, man kann dort nicht drehen! Es ist das schwierigste Land der Welt für Dreharbeiten!' Aber ich wollte unbedingt dort hin, weil ich von der Produktion her nicht allzu viel dort erledigen musste und wenn ich dies nicht in Haiti umsetzen könnte, dann würde ich die Essenz verlieren. Das ist auf eine gewisse Art ethisch, politisch. Aber ja, es war aus vielen Gründen schwierig. Zunächst einmal aus kulturellen Gründen: Wenn Du dort als Weißer ankommst und sagst 'Ich drehe einen Film über Voodoo', dann haben sie wirklich Angst vor dir. Man braucht lange, um akzeptiert zu werden, um das Projekt zu erklären, die damit verbundene Sichtweise, damit sie wissen, dass man viel gelesen und geforscht hat. Man muss zuhören und geduldig sein - es brauchte viel Zeit, aber wir trafen dort wunderbare Leute."
Weiteres: Sheila O'Malley bespricht Martin Scorseses neuen Film über Bob Dylan. Dan Sullivan spricht mit der Experimentalfilmemacherin Malena Szlam, die für ihre auf 16mm-Material gedrehten Landschaftsfilme bekannt ist - ihr neuer Film "Altiplano" entstand in den Anden, in eben jener Region, die die NASA gerne filmt, um den Mars zu veranschaulichen. Amy Taubin schreibt über Ken Jacobs' "The Sky Socialist", der nach 55 Jahren fertig gestellt wurde. Lawrence Garcia denkt über Edward Yangs "Yi Yi" nach. Christina Newland erinnert an den britischen Film "That'll Be the Day" von 1973 mit dem Popstar David Essex in der Hauptrolle. Außerdem hat das Magazin Deborah Youngs Essay über Ermanno Olmi aus dem Jahr 2001 online gestellt.
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