Magazinrundschau

Dieser Schatten ist eher blau?

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
02.04.2019. Das nepalesische Magazin Himal bringt eine große Reportage über afghanische Flüchtlinge in Deutschland. Im Merkur möchte Aleida Assmann die Wende nicht nur westlichem Kolonialismus, sondern auch östlichem Freiheitsbegehren zuschreiben. Respekt schöpft Hoffnung aus der Wahl der neuen slowakischen Präsidentin. Der New Yorker lernt von Henry Louis Gates Jr., wie vergeblich die Hoffnung auf Gleichheit für die Afroamerikaner schon 1865 war. En attendant Nadeau feiert die Kunst der Nabis. Die New York Times reiht die Israel-Kritik in den amerikanischen Kampf gegen weiße Vorherrschaft ein.

Himal (Nepal), 02.04.2019

In einer auf acht Teile angelegten sehr lesenswerten Reportage, von der bisher vier erschienen sind, schildert die indische Journalistin Taran N Khan ihre Begegnungen mit afghanischen Flüchtlingen in Hamburg und Berlin. In den Teilen eins und zwei geht es um den Filmemacher Masoud, der mit Frau und zwei Kindern in Hamburg-Harburg lebt und sich recht isoliert und von der Gesellschaft nicht angenommen fühlt. Im dritten Teil gehts um die in Berlin lebende Dichterin Sada Sultani, die sich in Deutschland wie befreit fühlt ("In Europa bin ich nicht nur eine Frau, ich bin ein menschliches Wesen"), eine Ausbildung zur Krankenschwester macht und sich die deutsche Sprache erobert. Im vierten Teil schließlich unterhält sie sich in Hamburg mit dem Rapper Hosain Amini, ein sehr irrlichterner, ungreifbarer junger Mann mit Lennon-Brille, Spitzbart und Mütze, der - locker zwischen Farsi, Urdu, Deutsch, Hindi und Englisch switchend - geradezu perfekt den modernen Menschen im 21. Jahrhundert zu verkörpern scheint: "Obwohl er sich selbst als Afghane bezeichnet, hat Hosain noch nie in Afghanistan gelebt, da er im Iran als Sohn von Migranten geboren und aufgewachsen ist. Er ist Teil der afghanischen Diaspora, die über die ganze Welt verstreut ist. Seine Familie lebte in Isfahan, einer antiken Stadt, die als Zentrum von Kultur und Kunst bekannt war. In dieser Stadt, die für ihre Dichter berühmt ist, wandte sich Hosain den Reimen von Rap und Hip-Hop zu. ... Sowohl in seiner Beziehung zu seiner Vergangenheit als auch zu seiner Gegenwart unterschied sich Hosains Welt von den Erfahrungen der älteren Generation von Migranten aus Afghanistan. Mit großer Sicherheit und sehr schnell hat er hier seine Stimme, seine Gemeinschaft gefunden. Er hat sich in das Leben eines jungen deutschen Mannes geworfen und scheint eine sehr fluide Beziehung zu seinen Wurzeln und seiner Reise als Flüchtling zu haben. Im Gegensatz zu vielen älteren Migranten scheint er hier zu Hause zu sein. Vielleicht liegt es daran, dass er von Geburt an zu einer Diaspora gehörte, die aus der Vertreibung entstanden ist. Oder vielleicht liegt es einfach an seiner Jugend. 'Bei der neuen Generation geht es um Frieden und Liebe, nicht um die Vergangenheit', erklärte er mir auf dem Weg zum Bahnhof."
Archiv: Himal

Merkur (Deutschland), 01.04.2019

Aleida Assmann reagiert ziemlich kritisch auf einen Essay von Ivan Krastev und Stephen Holmes, in dem die beiden Politikwissenschaftler ein akutes Anerkennungsdefizit der postsozialistischen Staaten diagnostizieren (hier auf Englisch). Bevormundet vom "liberalen" Westen konnten sie demzufolge nach dem Ende der sowjetischen Ära ihren Nationalstolz nicht ausleben. Tappen die Autoren damit nicht in die Falle ihrer eigenen Geschichtskonstruktion?, fragt Assmann. Warum spielen die Menschenrechte keine Rolle in ihrer Erzählung zu 1989? "Den Kalten Krieg haben nicht nur die Amerikaner gewonnen, sondern auch jene europäischen Politiker, die 1975 die Schlussakte von Helsinki unterzeichnet hatten, und es war nicht nur der Kapitalismus, sondern es waren gerade auch die osteuropäischen Dissidenten, die sich auf die Menschenrechte beriefen und damit das Ende des Ost-West-Konflikts eingeleitet haben. Das hat der Menschenrechtsaktivist Gáspár Miklós Tamás kürzlich bestätigt, der unter Ceauşescu in Rumänien gelebt hat: 'Viele Politologen sprechen davon, dass der Systemwechsel von außen und von oben kam. Unsinn. Den Systemwechsel hat zwar nicht das ganze Volk gemacht, aber wir waren damals zwei, drei Millionen Menschen, es gab Klubs, Debatten, Versammlungen, Demonstrationen, es gärte unglaublich in der Gesellschaft. Dieser unbändige Freiheitswille von 1989, dieses Freiheitspathos, das war ein Augenblick von sehr großer Schönheit. Das bleibt.' Nichts davon bleibt jedoch, wenn wir dem Narrativ vom Nachahmungsimperativ folgen. Der Kampf um die Menschenrechte vor 1989 ist aber gerade deshalb ein so wichtiges Kapitel in der Geschichte der EU, weil die Ostblockstaaten eben nicht, wie es die Geschichte der Sieger will, mit dem westlichen Gut der Demokratie 'beschenkt' beziehungsweise kolonial überrannt und überwältigt worden wären, sondern weil sie dieses Gut selbst erkämpft und damit ihre eigene Utopie in die Europäische Union eingebracht haben." Assmann glaubt allerdings auch, dass die Osteuropäer eine schwere Kränkung erfahren haben, nur sei diese anders gelagert: "Denn was die ost- und mitteleuropäischen Dissidenten erkämpft und erhofft hatten, war eine liberale Demokratie; doch was sie tatsächlich bekommen haben, war eine neoliberale Wirtschaftsordnung, die der Globalisierung des Kapitals neue Räume erschloss."
Archiv: Merkur

New Yorker (USA), 08.04.2019

In der aktuellen Ausgabe des New Yorker schreibt Adam Gopnik über den amerikanischen Bürgerkrieg und seine Folgen für die Schwarzen. Während der Wiedereingliederungsphase der Südstaaten in die USA zwischen 1861 und 1877 gab es die trügende Hoffnung auf ein Ende der Rassentrennung: "Bis vor kurzem wurde der Bürgerkrieg als das zentrale moralische Drama dieses Landes angesehen. Jetzt denken wir, dass seine Folgen - die Konfrontation nicht von Blau und Grau, sondern von Weiß und Schwarz, und die Wiedereinführung der Apartheid durch Terror - die tiefste Spur in der amerikanischen Geschichte hinterlassen haben. Anstatt darüber zu streiten, ob der Krieg anders hätte verlaufen können, streiten wir darüber, ob die Nachkriegszeit anders hätte verlaufen können. Gab es jemals eine echte Chance für eine volle schwarze Staatsbürgerschaft, für Gleichheit vor dem Gesetz, für eine Agrarreform? Oder hat die Kombination aus Feindseligkeit und Gleichgültigkeit unter den weißen Amerikanern die Katastrophe unvermeidlich gemacht? Henry Louis Gates Jr. nimmt in seinem neuen Buch 'Stony the Road: Rekonstruktion, weiße Vorherrschaft und der Aufstieg von Jim Crow' zu Recht an, dass diese Frage in der Post-Obama- oder Mid-Trump-Ära besonderes Gewicht hat. Er vergleicht die rosige Zuversicht 2008, dass der Schandfleck des amerikanischen Rassismus mit der Wahl eines schwarzen Präsidenten verblassen würde, mit kurzlebigen Hoffnung von 1865, dass all das Leiden des Krieges zwangsläufig zu bürgerlicher Gleichheit führen würde. Stattdessen schien das Auftreten afroamerikanischer Ermächtigung jedoch die Wut einer weißen Mehrheit nur zu vertiefen. Es folgte der Klan-Terror und Jim Crow im Süden und mit Trump der zweifellos rassistischste Präsident seit Woodrow Wilson, der sich offen an eine weiße revanchistische Basis wendet. Es ist eine deprimierende Aussicht, und Gates lässt seiner Depression freien Lauf."

Weitere Artikel: Louis Menand stellt ein Buch vor, das sich mit der Messbarkeit von Talent befasst. Douglas Preston besucht einen Paläontologen, der Spuren des Asteroiden entdeckt hat, der die Dinosaurier ausrottete. Und Anthony Lane sah im Kino Harmony Korines "The Beach Bum".
Archiv: New Yorker

HVG (Ungarn), 30.03.2019

Der Schriftsteller János Háy möchte Literatur lieber von politischen Ansichten getrennt halten: "Die wichtige Botschaft der Literatur ist, dass sie nicht so gespalten sein kann, wie die Politik das Land spalten will. (...) Literatur braucht Leser, durch den Leser entsteht das Werk. Jeder kann in die Literatur hineintreten und sich darin heimisch fühlen. Die wichtigsten Werke handeln von unserem Leben, sie haben kein anderes Ziel, als jede Tarnung herrunterreißen, damit wir der Wirklichkeit begegnen können. (...) Mir und hoffentlich auch den meisten Lesern kommt bei zeitgenössischen Schriftstellern nicht gleich in den Sinn, wen sie gewählt haben, sondern ob sie gute oder schlechte Schriftsteller sind. Politische Stellungnahme bedeutet keine Qualität. Werke sollten nur aus der Perspektive des Ästhetischen betrachtet werden. Alles andere ist schädlich."
Archiv: HVG

En attendant Nadeau (Frankreich), 31.03.2019

Paul Sérusier, Le Taölisman. Reprografie: Musée d'Orsay.


Es gibt doch immer noch Ikonen zu entdecken. Dies kleine Bild, 22 mal 27 Zentimeter, ist so eine. Dem Einfluss dieses Gemäldes von Paul Sérusier ist zur Zeit im Pariser Musée d'Orsay eine kleine Ausstellung gewidmet. Sie handelt von der Schule von Pont-Aven, die eine der Etappen auf dem Weg der Kunst zur Abstraktion bildete. Die Maler nannten sich die "Nabis", die "Propheten" und neigten zu Religiosität und Esoterik. Das Bild galt darin als "Talisman", weil es eine neue Malweise in Farbflächen auslöste. Gilbert Lascault führt in die Ausstellung ein. Träger des Bildes sei eine kleine Holzplatte: "Nach den Erkenntnissen der Kunstwissenschaft gibt es auf der Tafel weder eine Grundierungsschicht noch eine Skizze. Es handelt sich um eine Pochade, schnell und ohne vorherigen Plan hingeworfen, Resultat der direkten Wiedergabe einer 'Wahrnehmung', einer 'sensation reçue', um mit den Worten Maurice Denis' zu sprechen. Diese 'Landschaft des Bois d'Amour (Der Talisman)' wurde von Sérusier unter der Anleitung Gauguins gemalt, der ihm sagte: 'Wie sehen Sie diesen Baum: Ist er sehr grün? Nehmen Sie also Grün, das schönste Grün Ihrer Palette. Und dieser Schatten ist eher blau? Dann fürchten Sie sich nicht davor, ihn in Blau zu malen.' Es ist auch daran zu erinnern, dass die Nabis allesamt den Firnis ablehnten."

London Review of Books (UK), 01.04.2019

Rachel Nolan liest neue Recherchen zum Massaker an den 43 mexikanischen Studenten, die 2014 in Iguala ermordet wurden. Bekannt ist mittlerweile, dass die linken Studenten des Ayotzinapa College - offenbar wie mehr oder weniger üblich - einen Bus gekapert hatten, um in Mexiko-Stadt am Gedenken an das Tlatelolco-Massaker teilzunehmen, und von der Polizei gestoppt wurden. Aber weder Anabel Hernández noch John Gibler können in ihren hervorragenden Büchern am Ende klären, wer genau an den Morden beteiligt war (Polizei, Armee, Drogenkartelle?) und wer sie in Auftrag gab: der Bürgermeister von Iguala, die Führung des Bundesstaates Guerero oder gar der damalige Staatspräsident? Nolan hält alles für möglich, aber nichts für bewiesen: "Dass Narcos den mexikanische Staatsapparat infiltriert haben, ist Gerücht und Tatsache zugleich. Ich erinnere mich, wie eine Anthropologin erklärte, wann es angemessen sei, von einem Narco-Staat zu sprechen: 'Bei einer meiner Recherchen interviewte ich einige Drogenhändler' sagte sie, 'und als ich beim nächsten Mal wieder einen von ihnen sprach, war er bereits der Bürgermeister.' Schwieriger ist es, Beweise für die Bundesebene zu finden, auch wenn gerade beim Prozess gegen den Drogenbaron El Chapo ein Zeuge behauptete, dass Enrique Peña Nieto, der PRI-Präsident zur Zeit von Ayotzinapa, vom Sinaloa-Kartell 100 Millionen Dollar kassiert hatte. Wir wissen aber nicht, wer worin verwickelt ist. Wer ließ die Studenten verschwinden? Angesichts all der Räubereien, Korruption und bösen Absichten auf Seiten des Staates rufen schon viele Mexikaners gar nicht mehr die Polizei, wenn sie ausgeraubt werden, erst recht nicht, wenn sie ein Verbrechen beobachten. Wozu? Die Polizei macht alles nur schlimmer. Und sie wird alles den Kriminellen verraten. Auch vor den Studenten von Ayotzinapa gab es andere Massaker. Schätzungsweise 130.000 Menschen sind in den mexikanischen Drogenkriegen getötet worden, und 27.000 Menschen verschwunden. Aber nach dem Massaker von Ayotzinapa ist etwas gebrochen. Am nächsten Tag gingen die Leute in Mexiko Stadt, Guerero und über all im Land auf die Straßen und skandierten: Fue el estado! Fue el estado! Es war der Staat."

Weiteres: In nur zwei Jahren haben die USA mit Donald Trump jegliche politische Autorität eingebüßt, aber nichts von ihrer Macht, betont Adam Tooze: "Die beiden Säulen globaler Macht - das Militär und die Finanzen - stehen fest auf ihren Fundamenten. Aber die amerikanische Demokratie erhebt keinerlei Anspruch mehr darauf, politisches Modell zu sein." Emily Witt rekapituliert den Opioid-Skandal um das Schmerzmittel OxyContin von Purdue-Pharma.

Respekt (Tschechien), 31.03.2019

Aufbruchstimmung spürt Erik Tabery nach der Wahl der liberalen Bürgerrechtlerin Zuzana Čaputová zur Präsidentin der Slowakei auch in Tschechien - die Überschrift seines Artikels ("Tschechische Präsidentin Čaputová") lässt es erahnen: "In den tschechischen sozialen Netzwerken sah es Samstagabend so aus, als sei Zuzana Čaputová nicht zur slowakischen, sondern zur tschechischen Präsidentin gewählt worden. Es herrschte dort reine Begeisterung. Natürlich unter jenen, die vor einem Jahr Miloš Zeman keinen Erfolg gewünscht haben. Diese Feier mag naiv und unsinnig erscheinen, aber sie ist es nicht. Die Slowakei hat ein wenig Hoffnung nach Tschechien gesandt." Der politische Kampf ums slowakische Parlament beginne dort nun freilich erst und sei noch nicht entschieden. Dennoch - auch die Wahl Čaputovás erinnere daran, "dass das Spiel immer noch offen ist, dass nichts selbstverständlich gegeben ist, und immer wieder neue Versuche gemacht werden müssen. Der Kampf um die Gestalt der Welt ist nicht entschieden - und wird im Grunde niemals enden."
Archiv: Respekt

Vanity Fair (USA), 26.03.2019

Das Verschwinden der (nach einiger Zeit wieder aufgetauchten) chinesischen Schauspielerin Fan Bingbing sorgte vergangenes Jahr für einiges Aufsehen: Steuerhinterziehung lautete der offenbar auch begründbare Vorwurf der Behörden, die damit demonstrierten, dass sie auch vor der größten und beliebtesten Ikone des chinesischen Unterhaltungskinos nicht zurückschrecken. In einer großen Reportage verortet May Jeong den Vorfall vor dem Hintergrund des raketenhaften Aufstiegs der chinesischen Filmindustrie in den letzten Jahren, die kurz davor steht, die amerikanische zu überholen, und im Vergleich mit den USA noch um einiges star-fixierter ist - mit der Folge, dass Schauspieler astronomische Summen nicht nur fordern können, sondern auch tatsächlich bezahlt bekommen. "In den Jahren, in denen es der chinesischen Filmindustrie gestattet war, unreguliert zu wachsen, wurde es unter den Stars gang und gäbe, Verträge zu fälschen, um Steuern auf ihre riesigen Honorare zu umgehen. Hierin liegt der Grund, warum Fans plötzlicher Fall dem Rest der Branche die Haare zu Berge stehen ließ. 'Der Betrieb reagierte durchaus überrascht', sagt Produzent Kewi. 'Fan Bingbing tat einfach nur, was üblich war', drückt es David Unger, Gong Lis Manager, unverblümter aus. 'Der große Fehler bestand darin, dass sie sich erwischen ließ.' Bei Fans Verschwinden und der anschließenden Razzia waren höhere Mächte im Spiel: Nach Jahren des Wachstums im zweistelligen Bereich bremst die chinesische Wirtschaft ab. Zwar behauptet die Regierung, das Wirtschaftsvolumen sei im vergangenen Jahr um 6,5 Prozent gewachsen - die niedrigste Rate seit über einem Jahrzehnt. Doch Beobachter verorten das Wachstum eher bei zwei Prozent. Während die Verbraucher zurückhaltender konsumieren und die Investitionen aus dem Ausland inmitten eines Handelskriegs steil abfallen, versucht die Regierung die Wirtschaftskraft wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen. Viele in China sagen vorher, dass es wohl nicht mehr lange dauern dürfte, bis der Steuerskandal auch auf andere Bereiche übergreift. Was mit Fan geschehen ist, war allenfalls ein 'erster Einschnitt', erklärt Aex Zhang, geschäftsführender Direktor von Zhengfu Pictures."

Weiteres: Yohana Desta erzählt die Entstehungsgeschichte von Michel Gondrys "Eternal Sunshine of the Spotless Mind". Kenzie Bryant fühlt dem Verhältnis zwischen Donald Trump und der Fox-News-Moderatorin Jeanine Pirro auf den Zahn.
Archiv: Vanity Fair

Elet es Irodalom (Ungarn), 29.03.2019

In der ungarischen Prosa gab es nach der Jahrtausendwende eine "neonaturalistische Welle", bei der spannende Geschichten an die Stelle filigraner Erzählweisen - wie etwa bei Esterházy, Parti Nagy, Garaczi u.a. - traten, meint der Literaturhistoriker Dávid Szolláth. Das sei auch "in der 'narrativen Planung' sichtbar. Es scheint, dass der Bruch mit der Linearität nicht auf die Befreiung des Textes zielt - wie dies etwa bei den Vorgängern in den 70ern-80ern Jahren - sondern auf das Fesseln der Leser. Denn die einschlägigen Romane vermitteln Erfahrungen, von denen die Gesellschaft meistens lieber nichts wissen möchte. (...) Der Leser findet sich in einer peinlichen Situation wieder, nämlich dass die Gräuel interessant und spannend beschrieben sind. Sie sind so portioniert, dass sie den Leser gefangen nehmen. Das ist nachvollziehbar, denn wer möchte freiwillig das Leiden aus nächster Nähe betrachten, wenn das Werk ihn nicht unwiderstehlich neugierig machen würde? Führt der Weg zur Solidarität des Lesers über seine Neugier?"

New York Times (USA), 31.03.2019

In einer riesigen Reportage beschreibt Nathan Thrall, wie die Israel-Frage die Demokraten spaltet. Er legt dabei nahe, dass die Israelfreunde unter den Demokraten vor allen von Ängsten angetrieben sind, großzügige jüdische Sponsoren zu verlieren, von denen Thrall viele mit Namen und Spendenbeträgen nennt. Andererseits, gibt er zu bedenken, sind viele Kritiker Israels Schwarze oder Latinos, die unverhältnismäßig hart für ihre Israelkritik angegriffen würden, was die Kritik an der Israelkritik (oder dem Antisemitismus) wohl potenziell rassistisch machen könne. Warum Afroamerikaner sich lieber für geknechtete Palästinenser einsetzen als für Millionen misshandelter Afrikaner, ist eine Frage, die Thrall nicht stellt, nur indirekt beantwortet: "Jedes Jahr im Frühjahr organisieren pro-palästinensische Studenten an Universitäten auf der ganzen Welt Vorträge, kulturelle Veranstaltungen und Kundgebungen unter dem Motto 'Israeli Apartheid Week'. Heutzutage werden diese Veranstaltungen von schwarzen, lateinamerikanischen und indigenen Studenten nicht nur besucht, sondern manchmal auch geleitet. Im vergangenen Oktober ... fand eine Demonstration gegen die 'Apartheidsmauer' statt, die von der universitären Latinx-Gruppe La Casa mitgesponsort wurde. Pro-palästinensische Schüler errichteten zwei Pappwände, nach dem Vorbild der 25 Fuß hohen Betonplatten, die sich mit Zäunen und Stacheldraht verbinden, um die palästinensischen Gemeinden im Westjordanland und Ostjerusalem zu umschließen. Ein La Casa-Mitglied rief: 'Wir haben das gleiche Ziel: die Bekämpfung der weißen Vorherrschaft und Fremdenfeindlichkeit.' Die Schüler sangen: 'Von Palästina bis Mexiko, alle Mauern müssen weg!'"

Mark Mazzetti, Adam Goldman, Ronen Bergman und Nicole Perlroth erkunden, wie raffinierte Spionagesysteme von kleinen Staaten oder Privatpersonen für fragwürdige Zwecke eingekauft und benutzt werden: "Heute können selbst die kleinsten Länder digitale Spionagedienste kaufen, die es ihnen ermöglichen, anspruchsvolle Operationen wie elektronische Lauschangriffe oder Einflusskampagnen durchzuführen, die einst Großmächten wie den Vereinigten Staaten und Russland vorbehalten waren. ... [Die israelische Firma] NSO und ein Wettbewerber, die emiratische Firma DarkMatter, sind Paradebeispiele für die Verbreitung von privatisiertem Spionagegeschäft. Eine einmonatige Untersuchung der New York Times, basierend auf Interviews mit aktuellen und ehemaligen Hackern für Regierungen und Privatunternehmen und andere sowie einer Überprüfung von Dokumenten, enthüllte geheime Gefechte in dieser aufkeimenden Welt des digitalen Kampfes. Diese Firmen haben es Regierungen ermöglicht, nicht nur kriminelle Elemente wie Terroristengruppen und Drogenkartelle zu hacken, sondern in einigen Fällen auch Aktivisten und Journalisten. Von amerikanischen Spionagebehörden ausgebildete Hacker fingen amerikanische Geschäftsleute und Menschenrechtsaktivisten in ihrem Netz. Cybersöldner, die für DarkMatter arbeiteten, verwandelten ein prosaisches Haushaltsgerät, ein Babyfon, in ein Spionagegerät.""

Außerdem: Parul Sehgal applaudiert Glenda Jackson für ihren Broadway-Auftritt als "King Lear". Und Salman Rushdie ruft in der Book Review: "Es passiert etwas in der afrikanischen Literatur: Die Frauen kommen."
Archiv: New York Times