Magazinrundschau

Lektionen der Konzeptkunst

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
23.02.2010. In Eurozine erzählt die transsylvanisch-ungarisch-armenische Schriftstellerin Kinga Kali, was eine "virgjinesthe" ist. Prospect feiert den neuen Star des Kunstmarkts, den argentinischen Maler Guillermo Kuitca. Die Gazeta Wyborcza erklärt, wie junge Menschen das Netz nutzen. Der New Yorker warnt alle Depressiven: lest keine psychologische Literatur. Outlook India lernt im Internet, wie man karnatische Musik spielt. Die London Review empfiehlt: Lachs essen.

Eurozine (Österreich), 19.02.2010

In einer erstaunlichen Erzählung schildert die Autorin Kinga Kali das Schicksal eines albanischen Mädchens, das zur "virgjinesthe" ausersehen war, und darum von ihrer Mutter aus dem kommunistischen Albanien auf die Flucht nach Bosnien geschickt wird. Was ist eine "virgjinesthe"? Die Lösung für eine Familie ohne Söhne: "Ein Mädchen kann nach den Gesetzen unseres Volkes nicht erben, sie hat kein Recht auf Besitz. Wenn es kein männliches Kind gibt, wird das Erbe auf andere Familien des Clans aufgeteilt - das Land, die Tiere, die Frauen... Aber es gibt einen Ausweg. Ein Clan kann ein Mädchen zu seinem Chef erwählen, ein Mädchen, das von da an als Mann leben muss, in Männerkleidern, mit kurz geschnittenem Haar. Sie muss ganz anders auftreten als ihre demütigen Mitmädchen, aber sie darf niemals die Liebe kennen lernen, weder als als Mann noch als Frau." Die Erzählung ist zuerst in der ungarischen Lettre International (Magyar Lettre Internationale) erschienen. Kinga Kali wird in Eurozine als "Transylvanian Hungarian-Armenian writer-anthropologist" vorgestellt.
Archiv: Eurozine

Prospect (UK), 27.01.2010

Ben Lewis glaubt, den kommenden großen Star des Kunstmarkts entdeckt zu haben: den argentinischen Maler Guillermo Kuitca. (Bilder bei Google) Warum er ihn für die Zukunft der Malerei hält, erklärt er so: "Diese Arbeiten werden ziemlich sicher als Muster für den zukünftigen Kurs der Malerei aufgefasst werden - und aus mehreren Gründen... Nicht nur, weil ihm die Verbindung von großformatigem Zeichnen und Malen gelingt; auch nicht nur, weil er, wie Andreas Gursky in seinen Fotografien, einen sehr zeitgenössischen Sinn für die Maße der organisierten menschlichen Aktivität an den Tag legt. Der Schlüssel liegt darin, dass er zwei entgegengesetzte Traditionen zusammenführt und die Malerei zurückwendet auf etwas, das sie sehr gut konnte - Symbolismus und Allegorie -, aber mit den Motiven und Lektionen der Konzeptkunst. Er nimmt, wie ein guter Konzeptkünstler, existierende wissenschaftliche Formen visueller Darstellung und behandelt sie wie ein altmodischer Maler, nicht nur mit seiner anziehenden Farbgebung und Pinselarbeit, sondern indem er die ikonischen Botschaften seiner Gegenstände herausarbeitet."
Archiv: Prospect

Gazeta Wyborcza (Polen), 21.02.2010

Mateusz Halawa war Teil eines Forscherteams, das die Nutzung moderner Kommunikationstechnologien durch junge Leute untersucht hat. In einem zusammenfassenden Bericht geht er auch auf den Kulturkonsum der Jugend ein: "Man hört immer wieder, dass das Internet zur Entfremdung und Auflösung sozialer Bindungen beiträgt. Es ist aber umgekehrt - durch die Multiplizierung der Kontaktmöglichkeiten entsteht eher ein Verhalten, dass man 'hypergesellig' und 'hypersozial' bezeichnen kann; nicht Einsamkeit, sondern Übersättigung durch Kontakte stellt eine Gefahr dar." Zum Kulturkonsum stellen die Autoren der Studie fest: "In der digitalen Welt kommt es aufs Teilen an, und dieses Teilen ist gleichzeitig ein Multiplizieren von Kultur. Die Leichtigkeit, mit der Dateien kopiert und in Umlauf gebracht werden, führt dazu, dass Übermaß - und nicht wie einst der Mangel - zum grundsätzlichen Problem wird. In dieser Kultur des Übermaßes stellen Kompetenzen im Suchen und Aussieben die Herausforderung dar. Das Wissen, wo die Inhalte sind, wie sie zu orten und zu nutzen sind, wie sie kontextualisiert und weiter gereicht werden, ist heutzutage zum grundlegenden Kriterium für die Teilhabe an der Netz-Kultur geworden."
Archiv: Gazeta Wyborcza

New Yorker (USA), 01.03.2010

Die psychologische Literatur ist inzwischen so verworren, dass selbst ihre Kritiker einander widersprechen, meint Louis Menand nach Lektüre zweier neuer Publikationen von erklärten Gegnern der Psychiaterzunft. Menand beschreibt in seinem Artikel eingangs sehr schön, wie eine Lebenskrise entstehen kann: Wenn man etwa gefeuert wurde, und so daruntert leidet, dass man glaubt, zum Arzt gehen zu müssen. "Wie auch immer Sie zu dieser Entscheidung kommen mögen: Lesen Sie keine psychologische Literatur. Alles darin, das Wissenschaftliche (helfen Medikamente wirklich?) wie das Metaphysische (ist Depression wirklich eine Krankheit?), wird Sie verwirren. Es herrscht wenig Übereinstimmung darüber, was Depressionen auslöst, und kein Konsens, was sie heilt... Es besteht der Verdacht, dass die Pharmaindustrie die Studien ausköchelt, die belegen, dass Antidepressiva sicher und wirksam seien, und dass ihre Werbung die Leute dazu animiert, Pillen zu verlangen, die Krankheiten kurieren sollen, die gar keine sind (wie Schüchternheit), oder Ihnen durch ganz gewöhnliche Lebenskrisen helfen sollen (wie einen Rauswurf)."

Weiteres: Larissa MacFarquhar porträtiert den Volkswirtschaftler und Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman. Anthony Lane sah im Kino Martin Scorseses neuen Thriller "Shutter Island" und Jaques Audiards Krimi "A Prophet". Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Appetite" von Said Sayrafiezadeh und Lyrik von Charles Simic und Gerald Stern.
Archiv: New Yorker

Le Monde (Frankreich), 19.02.2010

Die Politikerin Ilhem Moussaid verwirrt die französische Linke. Sie engagiert sich bei der extrem linken Neuen Antikapitalistischen Partei (NPA) für die Regionalwahlen. Sie trägt das islamische Kopftuch (Bild), aber sie verteidigt auch das Recht auf Abtreibung. Unter der Überschrift "Wenn die Religion 'Opium fürs Volk ist', ist sie auch 'der Seufzer der Unterdrückten'" meint der Schriftsteller Tariq Ali, die gegenwärtige Debatte verweise auf etwas "Ungutes" in der politischen Kultur Frankreichs: "Der Zorn, den Ilhem Moussaid erregt, ist deplatziert. Er sollte sich gegen die Verantwortlichen von einer Million Toten im Irak richten, gegen die unaufhörliche Besetzung des Gaza-Streifens durch Israel und Ägypten, die Ermordung von Unschuldigen in Afghanistan, die brutale Ausbeutung Haitis etc. Man fragt sich, was die Ursache dieses fehlgeleiteten Furors ist."

Auch der Philosoph Michel Onfray versteht die Welt nicht mehr, aber andersrum, und erregt sich: "Heutzutage trägt man Schizophrenie am Schulterriemen mit sich herum, sogar mit Affektiertheit. Das weltweite Symbol der Ausbeutung der Frauen durch Männer unter ideologisch-muslimischer Herrschaft soll also das Emblem der Frauenbefreiung und des Laizismus werden! Seit wann ist ein ostentatives religiöses Symbol ein Zeichen für Laizismus?"
Archiv: Le Monde

London Review of Books (UK), 25.02.2010

Wieder einmal ein Text aus der Rubrik "Gegenstände, die spannender sind, als wir dachten": Richard Hamblyn bespricht ein Buch von Richard Shelton über den Lachs, in dem man unter anderem dies lernt: "Die Mythopoeten der Indianer, der nordischen und keltischen Völker kennen die Figur des weisen oder edlen Lachses in einer Vielzahl früher Mythen und Legenden, etwa der walisischen Questenerzählung über Culhwch und Olwen aus dem sechsten Jahrhundert, gesammelt in 'The Mabinogion', in der ein vom Meer gegerbter, im Fluss Severn geborener Lach als die älteste und weiseste Kreatur auf Erden veehrt wird; oder die Ossianische Legende vom Lachs der Weisheit, dessen Haut aus Versehen Fionn mac Cumhaill verspeiste, der dadurch zum Orakel für das gesamte Wissen der Welt wurde. Der Lachs - sein englischer Name 'salmon' kommt, vermutet man, vom lateinischen salire, 'springen' - war immer ein Fisch der besonderen Art, ausgezeichnet durch seine ungewöhnliche Fähigkeit, zwischen den sonst getrennten Welten von Salz- und Frischwasser zu wandern."

Weitere Artikel: Will Self staunt über die verblüffend erfolgreiche britische Radio-4-Kultur-Diskussionssendung "In Our Time", deren Erfolgsgeheimnis der allem Elitären abholde Moderator und "Über-Dilettant" Melvyn Bragg ist. Keith Gessen liest ein Buch über die politischen Prozesse in Russland gegen Michail Chodorkowksi & Co. Jenny Diski schüttelt den Kopf über Antonia Frasers extrem leichtgewichtige Tagebucherinnerungen an ihre Leben mit Harold Pinter. Peter Campbell besucht eine Ausstellungen mit Fotografien von William Eggleston in der Victoria-Miro-Galerie in London. Michael Wood genießt eine komplette Ozu-Retrospektive im Britischen Film Institut am Südufer der Themse.

Tygodnik Powszechny (Polen), 21.02.2010

Kaum ein Künstler hat das historische Bewusstsein der Polen so beeinflusst wie der Maler Jan Matejko. Der Kunsthistoriker Jaroslaw Krawczyk gibt Einblick hinter die Kulissen der Gestalt, die neben Adam Mickiewicz und Frideric Chopin als nationale Größe für die fremdbeherrschten Polen im 19. Jahrhundert galt. Wir erfahren u.a., dass Matejko tatsächlich als politischer Gestalter galt, dass er für Geld auch historische "Sex & Crime"-Szenen malte, und dass sein Historienzyklus eine komplexe Vision für die polnische Identität entwarf. "Wir tun Matejko nichts Gutes, wenn wir heute seine Ideen bei der Debatte über die polnische Geschichte außen vor lassen. Wir reichen nicht an seinen heroischen Kritizismus heran, sondern organisieren merkwürdige Rekonstruktionen. (...) Zum anderen schafft es heute niemand mehr, eine große historische Erzähung zu konstruieren, wie er es meisterlich vermochte. Man muss sich nur die polnische Geschichtsschreibung heute anschauen - die Massen lesen Norman Davies, aber unsere soliden und langweiligen Autoren nicht. Bald kommt die Zeit jener Generationen, die nicht mit Matejkos Bildern aufgewachsen sind. Ich gehöre noch zu der Generation, die Polen durch Matejkos Brille anschaut. Würde ich sie abnehmen wollen? Eher nicht".

Außerdem: "Wenn das Kino ein Abbild der uns umgebenden Welt ist, dann leben wir in sehr politischen Zeiten", konstatiert Bartosz Staszczyszyn in seinem Überblick über aktuelle Filme zu politischen Themen. Besprochen wird weiter die Ausstellung "Modernologie" im Warschauer Museum für Moderne Kunst, die über dreißig Künstler und Künstlergruppen aus den letzten zwanzig Jahren präsentiert. Piotr Kosiewski kommt sie ein bisschen wie ein Referat vor: die Zusammenstellung sei beeindruckend, aber ansehnlich seien die Werke kaum, schreibt er. (Hier eine kleine Bildergalerie) Und Krzysztof Biedrzycki knüpft an die Diskussion um den Stellenwert der Literatur im heutigen Polen an. Es gehe nicht darum, dass Autoren in die Rolle von Politikern, Pfarrern, Journalisten oder Lehrern schlüpfen - "ein Schriftsteller muss das Bild der Realität verkomplizieren. Nicht Überzeugungsarbeit sollte seine primäre Aufgabe sein, sondern ein literarisch überzeugendes Abbild der Wirklichkeit, auch wenn es frei erfunden ist."

Point (Frankreich), 19.02.2010

In seinen Bloc-notes erklärt Bernard-Henri Levy, weshalb er unbedingt für ein Gesetz gegen das Tragen der Burka in Frankreich ist. Die sei nämlich mitnichten ein Kleidungsstück, sondern eine "Botschaft der Unterwerfung, Versklavung, Vernichtung und Niederlage der Frauen." Levy wendet sich besonders gegen das Argument, dass viele Frauen sich aus freiem Willen unterwerfen. "Mag sein. Nur war die freiwillige Versklavung nie ein Argument. Der glückliche Sklave, die glückliche Sklavin konnte die grundsätzliche, wesentliche, ontologische Schande der Sklaverei niemals auswischen... Sämtliche Bekämpfer der Sklaverei in der Geschichte geben uns die Argumente gegen jene kleine zusätzliche Infamie an die Hand, die darin besteht, die Opfer zu den Verantwortlichen für ihr eigenes Unglück zu machen."
Archiv: Point

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.02.2010

Holocaust-Überlebende in den USA haben kürzlich am Bundesgericht in Chicago eine Sammelklage gegen die staatliche ungarische Bahngesellschaft MAV eingereicht, weil diese während des Holocausts das an den Bahnhöfen zurückgelassene Eigentum deportierter Juden eingesackt hat. Der ungarische Rechtsanwalt und Publizist Andras Hanak reagiert zwiespältig: Die Anwälte, meint er, hätten ihre Mandanten erstens darauf aufmerksam machen sollen, dass die Klage einem Versöhnungsprozess eher abträglich ist. Und zweitens hätte sie darauf hinweisen können, dass "der Angeklagte nicht mehr derselbe ist, wie jener, der vor 65 Jahren die schrecklichen Taten begangen hat, dass auch der Staat hinter diesem Angeklagten nicht mehr derselbe ungarische Staat ist, der seine jüdischen Bürger im Stich gelassen hat. [?] Gleichzeitig ist mir auch bewusst, dass Überlebende und ihre Angehörigen, die außerhalb Ungarns leben, bislang die Erfahrung machen mussten, vom ungarischen Staat in weitaus geringerem Maße entschädigt zu werden als von den Nachbarländern. Dabei ist im Pariser Friedensvertrag eine angemessene Entschädigung für die geraubten Güter vorgeschrieben - dazu ist es aber, aus zahlreichen Gründen, bislang nicht gekommen. Aufgrund dieser Umstände würde ich mich hüten, die Kläger aus moralischer Sicht zu verurteilen - wenngleich ich, hätte es an mir gelegen, diesen Prozess nicht eingeleitet hätte."

Espresso (Italien), 19.02.2010

Umberto Eco sorgt sich um die Gesellschaft. Er hat "Porno" in Goggle eingegeben und mehr Treffer als für Jesus und Religion zusammen bekommen. Sex wird zu unserem Hauptantrieb und Ziel, fürchtet Eco. Bei Julius Cäsar, Ludwig XIV., Vittorio Emanuel II. und den Kennedys war das noch anders: "All diese großen Männer schienen die Frau als Rückzugsort des Kriegers zu betrachten: Zuerst einmal musste Baktrien erobert, Vercingetorix erniedrigt, von den Alpen bis zu den Pyramiden triumphiert und Italien vereint werden. Der Sex kam obendrauf, wie ein Martini Straight up nach einem anstrengenden Tag. Die Mächtigen von heute scheinen dagegen in erster Linie einen Abend mit einem Showsternchen anzustreben, zur Hölle mit den großen Aufgaben oder dem Lebenswerk."
Archiv: Espresso
Stichwörter: Eco, Umberto, Ludwig XIV, Porno

Nouvel Observateur (Frankreich), 18.02.2010

Haiti braucht eine regelrechte Neugründung, schreibt der haitianische Autor Rene Depestre im NouvelObs und geht die verschiedenen Optionen durch: "1. Eine Verbindung mit der dominikanischen Republik bleibt unmöglich, der alte Streit zwischen den beiden Inselnachbaren ist bis heute nicht fortzuwischen. 2. Ebenso utopisch ist eine Verbindung mit den ehemaligen anglophonen Kolonien der Karibik. 3. Gleichfalls unmöglich ist die Integration in die Überseeterritorien Frankreichs. 4. Und ein weiterer Staat der USA nach dem Vorbild Porto Ricos? Beide amerikanische Parteien würden es ablehnen - Haiti muss bei seinem seinem Status der 'nationalen Unabhängigkeit' von 1804 bleiben." Immerhin aber setzt Depestre Hoffnungen auf Obama und die internationalen Organisationen, um Haiti bei dieser Neugründung zu helfen.

Zu lesen ist außerdem ein Gespräch mit dem Biogeologen und Bestseller-Autor Jared Diamond ("Kollaps"), der die Möglichkeiten für einen intelligenten und nachhaltigen Wiederaufbau Haitis analysiert.

Outlook India (Indien), 01.03.2010

Shruti Ravindran berichtet von einer Revolution in der indischen Musiktradition: von Unterrichtsstunden, die online gegeben werden. "Diese Musikstunden mögen in den Ohren orthodoxer Karnatischer Musiker wie Blasphemie klingen, sie glauben fest an das alte Gurukulam-System, in dem Schüler mit ihren Lehrern leben und ihnen während dieser Zeit dienen. Aber eine neue Generation von Internet-affinen Musikern revidiert gerade diese Haltung und zieht die Freigiebigkeit und weltweite Verbreitung der streng gehüteten Exklusivität vor, sehr zur Freude indischer Studenten, vor allem in der Diaspora in Europa, den USA, Singapur und in Nahen Osten. Raman Kalyan, auch bekannt als Flöten-Raman, erklärt: 'Für die alten Meister, bei denen ich in den Siebzigern lernte, waren Aufnahmen tabu, sie sahen darin eine Plünderung ihres Schatzes. Aber für mich ist das Internet eine große Reklametafel, der Weg, ein weltweites Publikum zu erreichen.'"
Archiv: Outlook India

Polityka (Polen), 22.02.2010

Dass man in der Volksrepublik Polen durchaus leben konnte, "ohne zum Schwein zu werden", thematisieren derzeit vor allem jüngere polnische Theaterregisseure, die sich in ihren Stücken vermehrt mit der Vergangenheit Polens auseinandersetzen. Wie Aneta Kyziol (hier auf Deutsch) berichtet, hat diese Beschäftigung jedoch oftmals einen nostalgisch verklärten Beigeschmack: "Die Volksrepublik funktioniert im Bewusstsein vieler Künstler bereits als Kostüm-Epoche. So wie in den VRP-Zeiten werden historische Requisiten genutzt, um Aktuelles nicht direkt ansprechen zu müssen, beispielsweise erzählen die Künstler von der heutigen Realität mithilfe von Spanplatten-Schrankwänden, Non-Iron-Hemden, Synthetik-Hosen mit Schlag, Pepitaanzügen, Relaks-Stiefeln, 'Teksasy' (VRP-Jeans), Koteletten und Schnurrbärten. Die Bezüge auf die VRP gestatten Distanz, bauen eine Art Metapher, und gleichzeitig decken sie das auf, was unverändert ist: die Mentalität, die nationalen Schwächen oder die vor Jahren geschaffenen und noch immer aktuellen Mechanismen des Karrieremachens. Und dabei unterhalten sie das Publikum mit dem VPR-Ramsch."
Archiv: Polityka
Stichwörter: Schwein, Hemd, Ramsch, Schweine, Stiefel

New York Times (USA), 21.02.2010

Fasziniert ist der hier rezensierende Autor William T. Vollmann Ted Conovers großem Essay "Routes of Man" über peruanische Gebirgspisten, zugefrorene Flüsse in Kashmir oder durch das Straßenlabyrinth von Lagos gefolgt. In dem Buch, so Vollmann, habe Conovers Nachdenken über Straßen eine höhere Ordnung erreicht: "In den Kapiteln über Peru und Ladakh zum Beispiel denkt er über das unheilvolle Potenzial von Straßen nach, indigene Sprachen und Kulturen zu töten, um uns dann daran zu erinnern, dass viele Einheimische, vielleicht die meisten, diese Straßen wollen. Eine schwedische Linguistin sagt zu ihm, dass man 'als gebildete Person mit großer Erfahrung in der Welt die Pflicht hat, anderen Menschen zu helfen... von all den Fehlern um dich herum zu lernen, Fehlern, die deine Kultur der ihren aufgedrängt hat'. Er sympathisiert mit ihr, wie ich auch. Und er fügt hinzu: 'Aber tragischerweise oder nicht, wir sind nicht ihre Eltern.'"
Archiv: New York Times