Magazinrundschau - Archiv

Le Monde

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Magazinrundschau vom 30.11.2021 - Le Monde

Wer diesen Artikel liest, wird ernste Zweifel an der demokratischen Zukunft Frankreichs bekommen. Frankreich war schon immer ein Museum politischer Strömungen: Bis vor kurzem gab es drei trotzkistische Parteien, zwei monarchistische Strömungen (Legitimisten und Orleanisten) und auch noch ein paar Bonapartisten unterschiedlicher Couleur. Und selbstverständlich gibt es noch die von Balzac besungene superreaktionäre katholische Tradition in der Bretagne (die mehrheitlich heute sehr viel moderner ist). In dieser fundamentalistisch-katholischen Tradition steht Vincent Bolloré, einer der reichsten Männer Frankreichs, den Raphaëlle Bacqué und Ariane Chemin in einem epischen Artkel für Le Monde porträtieren. Bolloré ist größter Aktionär des Vivendi-Konzerns und besitzt die halbe französische Medienlandschaft von Buchverlagen über Canal Plus bis zu "Info"-Sendern wie CNews, wo er Eric Zemmour groß machte. Bolloré verhinderte, dass Canal Plus einen Film von François Ozon über Missbrauch in der Katholischen Kirche kaufte (er lief auf der Berlinale, mehr hier) und er hasst Charlie Hebdo wie sonst nur woke Linke, die er natürlich auch hasst. Er hofft, dass Zemmour im Bündnis mit der gemäßigten Rechten den Elysée-Palast erobert, "mit einem Köhlerglauben inklusive frommen Bildchen in seinem Portemonnaie und einem bretonischen Synkretismus , der zwischen keltischer Tradition und Marienverehrung schwankt. Die Devise der Familie ist seit 1789 gleichgeblieben: 'Auf den Knien vor Gott, aufrecht vor den Menschen.' Da er abergläubisch ist, hat er stets eine kleine Marienstatue in Reichweite und trägt Fläschchen mit Weihwasser aus Lourdes mit sich herum, wo er einmal jährlich hinpilgert..."

Magazinrundschau vom 07.09.2021 - Le Monde

Lorraine de Foucher erzählt in einem Longread die todtraurige Geschichte der Shaïna Hansye, die im Alter von 15 Jahren mit Messerstichen schwer verletzt und bei lebendigem Leib verbrannt wurde, weil sie schwanger war. Es ist eine der Geschichten, die in den Vorstädten von Paris spielen. Shaina, deren Eltern aus Mauritius stammen, war ein normales Mädchen, das sich gerne schminkte. Sie wurde von Jungs aus der Banlieue zum ersten Mal im Alter von 13 Jahren vergewaltigt. Dann galt sie unter den Jugendlichen als die leicht zu habende "Nutte" des Viertels. Sie freundete sich mit dem 17-jährigen Omar O. an, der sie schwängerte und im Verdacht steht, sie ermordet zu haben. O. kam in Untersuchungshaft in ein Jugendgefängnis. Dort soll er derart mit seiner Tat geprahlt haben, "dass ein anderer Mitgefangener seiner Freundin am Telefon davon erzählt hat - das Gespräch wurde von der Gefängnisverwaltung aufgezeichnet. 'Was ist der schwerste Fall bei euch?', fragt sie. 'Ein Kerl, er hat ein Mädchen umgebracht und alles, er hat sie verbrannt (...). dieser Penner sitzt hier! Alles nur, weil er sie ohne Kondom gefickt und geschwängert hat. Sie war eine Hure. (...) Und er brüstet sich damit. Wenn er eine zweistellige Strafe bekommt, werden wir sehen, ob er damit prahlen wird...'. Derselbe junge Mann bestätigte dem Untersuchungsrichter, dass Omar O. ihm gesagt hatte, dass er 'lieber dreißig Jahre bekommen würde, als der Vater eines Hurensohns zu sein'. Die Verteidigung des Angeklagten beharrt, dass Häftlinge 'aussagen könnten, um Straferleichterung zu bekommen'." Dieser Fall, so Foucher, hat in Frankreich kaum Aufsehen erregt.
Stichwörter: Paris, Banlieue, Femizide

Magazinrundschau vom 05.07.2016 - Le Monde

In einem langen Artikel in seinem Blog, das bei Le Monde erscheint, schreibt der Ökonom Thomas Piketty über den Brexit. Grundsätzlich ist er für die EU - aber nur mit einer stärkeren Regulierung, ohne die deutsche Austeritätspolitik und ohne das Finanzdumping der Briten. Darum fordert er auch Sanktionen gegen Länder, die ein "Dumping" bei Regulierungen oder in Finanzdingen betreiben: "Solange man nicht bereit ist, derartige Sanktionen zu verhängen, darf man sich nicht wundern, wenn Länder lieber außerhalb der EU prosperieren: Wenn man vom gemeinsamen Markt profitieren kann, während man in aller Ruhe die fiskalische Basis seiner Nachbarn unterhöhlt, warum nicht? Das legale und politische System Europas mit seiner Sakralisierung des Freihandels und der freien Zirkulation ohne ernsthaftes Gegengewicht in Form von Regulierungen führt uns direkt in eine ganze Serie von 'Brexits'."

Magazinrundschau vom 30.06.2015 - Le Monde

Mit Gewinn liest Hubert Guillaud für Le Monde Thierry Crouzets als Ebook publizierten Essay "La mécanique du texte", der sich mit dem Einfluss der Schreibtechnologien auf literarische Formen befasst: "In großen Linien breitet Crouzet diese mechanische Geschichte der Literatur aus, auch die stürmische Geschichte der Beziehung der Autoren zu den Computern: Für ihn beginnt das Genre des Thrillers mit der Textverarbeitung neu zu blühen, die das nicht chronologische Schreiben begünstigt, während der klassische Krimi, der mit der Schreibmaschine verfasst wurde, geradeaus voranschritt, mit einer Hauptperson und einer linearen Geschichte. Die meisten heutigen populären Romane könnten Satz für Satz getwittert werden, ohne dass ein Satz gekürzt werden müsste, betont er noch. Zeichen einer grundlegenden Tendenz, für die Twitter eher das Symptom als die Ursache wäre."

Magazinrundschau vom 11.04.2014 - Le Monde

Welche psychischen, politischen und sozialen Triebfedern führen dazu, dass Menschen zu Massenmördern werden? Wie lässt sich die Dynamik des Völkermords verstehen, die Naziverbrechen, der Hutu-Terror oder der Wahn der Roten Khmer? In Le Monde sprechen darüber der kambodschanische Dokumentarfilmer Rithy Panh, der Journalist Jean Hatzfeld und der Politikwissenschaftler Jacques Sémelin. Panh erklärt: „In Kambodscha unterscheidet man drei Typen von Schlächtern: Die Anstifter, die Delegierer und diejenigen, die mit den eigenen Händen töten. Erstere sind oft die Perversesten.“ Und Jean Hatzfeld sieht frappierende Analogien zwischen dem Holocaust und dem Völkermord in Ruanda: "Aufstieg eines Diktators, Erklärung einer bestimmten Bevölkerungsgruppe als „überzählig“, Übernahme dieser Aussage in politische Diskussionen, Theaterstücke, Witze oder Radioprogramme. „Und nach und nach kommt es zu einem Anstieg von Gewaltakten, der Kennzeichnung, Ausgrenzung und Diskriminierung der abgelehnten Volkgruppe. Das Gefühl der Immunität stellt sich ein. Und dann kommt der Krieg. Ohne das Chaos, das er hervorruft, ohne den Zustand des Unrechts, den er installiert, ist das Massenverbrechen nicht möglich.“"

Magazinrundschau vom 21.03.2014 - Le Monde

In seinem Blog mit dem schönen Titel "Philosophisches Durcheinander - Philosophie in all ihrem Chaos" unterhält sich Le-Monde-Journalist Nicolas Weill mit Florent Perrier über die Aktualität Walter Benjamins. Perrier ist Herausgeber der umfangreichen Benjamin-Biografie (Leseprobe) des Historikers und Germanisten Jean-Michel Palmier, der daran bis zu seinem Tod 1998 gearbeitet hatte. Durch sein Exil in Frankreich und seinen tragischen Tod 1940 wurde Benjamin zu einem Mythos. In Frankreich wird er als der "französischste" deutsche Denker verehrt; aktuell ist in der Reihe "Cahiers de L"Herne" eine Monografie über ihn erschienen. Perrier erklärt sich Benjamins ungebrochene Popularität auch bei nicht-akademischen Lesern damit, dass seine Schriften "alles andere als schwierig" seien. "Dennoch stimmt es, dass Walter Benjamin gelegentlich absichtlich oder weil sein Gedankengang häufig kopmlex ist, schwierige Schriften hinterlassen hat. Die klären sich jedoch stets, sobald der Leser sich bemüht, den Kontext herzustellen."

Magazinrundschau vom 07.02.2014 - Le Monde

In Le Monde streiten sich Alain Finkielkraut und Daniel Cohn-Bendit seitenlang über Europa. Sie machen alles mögliche zum Thema - Islam, Integration, Neoliberalismus - und definieren glasklar die beiden Standpunkte, die man heute zu Europa haben kann. Cohn-Bendit: "Wir spüren, dass die Staatsnationen um Atem ringen. Sie verteidigen eine Idee der Zivilisation, der Kultur, die fehlgeleitet ist, weil sich die Welt in ungeheurer Geschwindigkeit verändert. Die europäische Identität zu bauen, heißt die nationale Identität zu überwinden." Finkielkraut: "Wir werden uns niemals von den europäischen Institutionen repräsentiert fühlen. Die Nation ist und bleibt das Gehäuse der Demokratie, denn diese - als ein Reich der Diskussion über das gemeinsame Leben - setzt eine gemeinsame Sprache, gemeinsame Prämissen, eine gemeinsame Zukunft und eine Verbundenheit mit einer selben Vergangenheit voraus."

Magazinrundschau vom 31.01.2014 - Le Monde

Paris ist zu einer Bonbonschachtel geworden, die an alle, die haben - Touristen und bessere Schichten der Hauptstadt - ihre Süßigkeiten verteilt und den Rest der Bevölkerung in die Banlieue verbannt. Das Hauptthema des Kampfs um das Pariser Bürgermeisteramt muss also die Verhinderung eines weiteren "Embourgeoisement" der Haupstadt sein, meint Le Monde und verweist auf Anne Clervals Buch "Paris sans le peuple" (La Découverte, 2013). Auf einer ganzen Seite diskutieren überdies die Autoren Eric Hazan und Philippe Meyer, der folgende Sachlage schildert: "Gewiss, Paris ist nicht die einzige europäische Metropole, die eine Gentrification erlebt, aber Paris ist sehr speziell, eine Stadt von hundert Quadratkilometern mit 20.000 Einwohnern pro Quadratkilometer. Wenn man die Gentrification in London oder Berlin beklagt, dann spricht man über Städte, deren Bevölkerungsdichte (4.800 in London, 3.800 in Berlin) den Wandel weniger gewaltsam und rapide macht. Überdies haben London oder Berlin nicht alle anderen Städte ihrer Länder an den Rand gedrängt."
Stichwörter: Banlieue

Magazinrundschau vom 27.01.2014 - Le Monde

Überaus düster sind die Perspektiven, die der ukrainische Autor Andrej Kurkow nach der Verabschiedung von Sondergesetzen für sein Land in Le Monde ausmalt: "Zu den Gesetzen, die der Präsident am 16. Januar dekretiert hat, gehört die amtliche Aufhebung parlamentarischer Immunität. Der Status des Abgeordneten kann in einem Federstrich in den Status des 'einfachen Bürger' verwandelt werden. Wenn die Ereignisse sich in den nächsten Tagen fortsetzen wie bisher, könnte im Westen des Landes ein Partisanenkrieg gegen die aktuelle Regierung und die machthabende Partei ausbrechen. Der ukrainsiche Staat könnte zuammenbrechen. Für Russland wäre es ein Vergnügen, den Süden und Osten dann zu seinem Protektorat zu erklären."
Stichwörter: Kurkow, Andrej, Immunität

Magazinrundschau vom 07.01.2014 - Le Monde

Der Philosoph und Essayist Pascal Bruckner kommentiert den Plan des französischen Innenministers Manuel Valls, nach neuerlichen antisemitischen Entgleisungen (mehr hier) des Komikers Dieudonné dessen Auftritte zu verbieten. Bruckner schreibt: "Den Komiker verbieten hieße, seiner Sache zu dienen, seinen Thesen eine objektive Grundlage zu verleihen und eine Reklame für ihn zu machen, die er nicht verdient. Es scheint eher geraten, die Bußgelder zu verzehnfachen, die anfallen, wenn er entgleist, und ihn auf diese Weise kaltzustellen ... In puncto freie Meinungsäußerungist der angelsächsische Liberalismus dem französischen Zensurgeist vorzuziehen. Man kann Hass nicht per Dekret abschalten. Auch unter dem Risiko, ihn zu vervielfachen."