Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
19.01.2004. In Atlantic Monthly fordert Francis Fukuyama eine permanente demokratische Revolution auf der ganzen Welt. Der Economist erstellt unser Ekel-Profil. Das NYT Magazine hat Mäuse gesehen, mit Lenden wie Fleischrindern. Moskowskije Novosti stellt das Theater des Internetzeitalters vor. Kein Internet mehr auf Kuba - Encuentros schickt ein Rauchzeichen.

The Atlantic (USA), 01.01.2004

Atlantic Monthly präsentiert in dieser Ausgabe seinen jährlichen Bericht zur Lage der Nation. Die Redaktion ist sich einig, dass es vielen Amerikanern besser geht, als sie glauben, aber einigen schlechter, als sie wahrhaben wolle.

Der Politikwissenschaftler Francis Fukuyama ("Das Ende der Geschichte") will das nation-building in Zukunft zu einer ständigen Einrichtung gemacht sehen. "Vieles hängt von unserer Fähigkeit ab, nicht nur Kriege zu gewinnen, sondern auch sich selbst tragende Demokratien und robuste marktorientierte Ökonomien aufzubauen - und zwar nicht nur in Afghanistan und Irak, sondern im gesamten Nahen Osten. Tatsache ist, dass die größte Bedrohung für uns und die Welt von schwachen, kollabierten oder gescheiterten Staaten ausgeht. Schwache oder abwesende Regierungen in Entwicklungsländern knüpfen das Netz, das Terrorismus, Flüchtlinge, Aids und globale Armut miteinander verbindet. Vor dem 11. September glaubten die USA, sie könnten das Chaos in entlegenen Gebieten wie Afghanistan ignorieren, aber die Kreuzung von religiösem Terrorismus und Massenvernichtungswaffen bedeutet, dass die einst peripheren Gebiete nun von zentraler Bedeutung sind."

Paul Starobin bemerkt eine "deutliche Erwärmung der ökonomischen, politischen und kulturellen Klimazone": Der Zorn der Amerikaner auf das Establishment wächst wieder: "Sturmreife Ziele sind das Pentagon, die Republikanische Partei, George Bush, multinationale Konzerne, der kalifornische Kfz-Steuereintreiber und der Oberste Gerichtshof von Massachusetts, der im November das Verbot von gleichgeschlechtlichen Ehen aufhob... Vielleicht ist der sensibelste Punkt jedoch die steigende Zahl von Verlusten im Irak."

Weitere Artikel: William Langewiesche findet das US-Weltraumprogramm auch ohne die neue Plänen schon viel "zu kostspielig und völlig richtungslos". Aber an der Idee, dass die menschliche Spezies in ferner Zukunft auf zwei Planeten leben kann, hält er trotzdem fest. Andrew Greeley, Priester und Soziologe, beobachtet den Aufstieg junger, reaktionärer Priester in der Katholischen Kirche, die gegen die alten Liberalen und das II. Vatikanische Konzil zu Felde ziehen. Joshua Green hat herausgefunden, dass die politischen Lager in den USA inzwischen derart polarisiert sind, dass es kaum einen Unterschied machen wird, welcher Demokrat gegen George Bush antreten wird. Und Christopher Hitchens schreibt in der gebotenen Länge über Proust.

Auf den Artikel von Kenneth M. Pollack, in dem der einstige Kriegsbefürworter mit der Regierung Bush und den nicht vorhandenen Massenvernichtungswaffen abrechnet, haben wir schon in unserer vorigen Magazinrundschau verwiesen. Hier noch einmal der Link zum Text.
Archiv: The Atlantic

Outlook India (Indien), 26.01.2004

Vergangene Woche wurde schon kurz darüber berichtet, jetzt schreibt Harsh Kabra einen detaillierteren Bericht über die Stürmung des renommierten Bhandarkar Oriental Research Institute in der Universitätsstadt Pune am 5. Januar. Der britische Historiker James Laine hatte sich dort zu Recherchezwecken aufgehalten und kürzlich sein Buch "Shivaji: Hindu King in Islamic India", über einen Herrscher des 17. Jahrhunderts veröffentlicht. Mitglieder einer einflussreichen Gruppe namens Sambhaji Brigade (mehr) sehen in Laines Studie das Ansehen Shivajis verunglimpft und haben ihre Wut an den wertvollen Archiven des Institutes ausgelassen, das sie sozusagen der Mithilfe zur Majestätsbeleidigung schuldig befanden. Am schlimmsten aber, schreibt Kabra, ist die offene Unterstützung der Sambhaji Brigade durch offizielle Stellen, die einen Bann über das Buch verhängten (mehr).

Sanghamitra Chakraborty berichtet über die Movers and Shakers von Kalkutta, der westbengalischen Metropole, die bis vor kurzen als "sterbende marxistische Hölle" galt und jetzt eine Renaissance erlebt. Wirtschaftsboom und Lebensqualität sind die Stichwörter, und Chakraborty ist beeindruckt: Neubauten, Restaurant, Clubs, und all die jungen, dynamischen, gut angezogenen Menschen ...

Weitere Artikel: In der Titelgeschichte fragt sich Saba Naqvi Bhaumik, ob die Regierungspartei BJP mit ihrem Spitzenkandidaten, dem amtierenden Premierminister Atal Behari Vajpayee (Porträt), zu Beginn des Wahljahres 2004 wirklich Grund hat für all ihren demonstrativ zur Schau gestellten Optimismus. Sind die Hindunationalisten wirklich die Überflieger, für die sie sich halten? Oder ist die Konkurrenz von der Kongresspartei mit ihrer Spitzenkandidatin Sonia Gandhi (mehr) momentan einfach nur zu schwach? Saumya Roy erklärt, was das für Leute sind, die seit Tagen zu Tausenden nach Bombay strömen und sich unter seine ohnehin schon gestressten Bewohner mischen. Und was es mit dem Weltsozialforum auf sich hat. Warum es gut ist, dass es in diesem Jahr in Indien stattfindet. Und warum Kritiker trotzdem der Meinung sind, dass seine Teilnehmer keineswegs die Welt verändern, sondern bloß Woodstock verpasst haben. Dom Moraes schließlich erinnert sich liebevoll an den kürzlich im Alter von 79 Jahren verstorbenen Dichter Nissim Ezekiel (Biografie und hier ein Gedicht).
Archiv: Outlook India

Spiegel (Deutschland), 19.01.2004

Hans Hoyng berichtet, was Paul O'Neill, einst Finanzminister im Kabinett Bush, so alles dem Pulitzerpreisträger Ron Suskind anvertraut hat - und nun in dessen Buch "The Price of Loyalty" (letzte Woche, vielbeachtet, in den USA erschienen) nachzulesen ist: "Kraft seines Amtes ist der Finanzminister auch Mitglied im Nationalen Sicherheitsrat. Schon auf dessen erster Sitzung am 30. Januar 2001, zehn Tage nach der Vereidigung des neuen Präsidenten, vollzog sich ein grundlegender Richtungswechsel amerikanischer Außenpolitik. Präsident Bush gab die Devise aus, sich aus den Unwägbarkeiten des Nahost-Konflikts rauszuhalten. Stattdessen, forderte Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice, müsse man sich auf Saddam Hussein konzentrieren, der die ganze Region destabilisiere. Nach knapp einer Stunde Diskussion gab Bush Verteidigungsminister Donald Rumsfeld den Auftrag, 'unsere militärischen Optionen zu prüfen'."

Elke Schmitter hat die Ausstellung "Das große Fressen" in Bielefeld besucht, die den in den sechziger Jahren einsetzenden Trend in der Kunst zur Traktierung von Lebensmitteln dokumentiert - und findet, dass die Schau, "eine Trennung der Alten von der Neuen Welt überraschend deutlich" macht: "... der Amerikaner zeigte die Dose, der Europäer die Suppe - gelegentlich, wie bei Spoerri, gleich selbst gekocht. Gegen die Feier des sterilen Immergleichen aus den USA steht hier das Vergängliche und Einzelne: in den Tieropfern des Happening-Künstlers Nitsch, in den Stillleben von Dieter Roth, in denen Salami und Käse eine stinkende Landschaft bilden, und schließlich in den Schlachtparaden eines Damien Hirst (mehr), der Insektenschwärme sich nähren, vermehren und vergehen lässt."

Nur im Print: Ein Interview mit Sozialministerin Ulla Schmidt und eins mit Peter Gruss, Präsident der Max-Planck-Gesellschaft, über "den deutschen Weg zur Elite-Uni". Thema des Titels ist der "Erfinder der Plastination" Gunther von Hagens.
Archiv: Spiegel

New Yorker (USA), 26.01.2004

Hilft psychologische Krisenberatung - oder schadet sie vielleicht eher? Diese Frage untersucht Jerome Groopman in seiner detailreichen Reportage über die "Trauerindustrie", die nach dem 11. September besonders in New York förmlich explodierte. Experten hatten voraus gesagt, dass "jeder fünfte New Yorker, also rund eine halbe Million Menschen, traumatisiert sein und psychologische Betreuung brauchen würden". Diese Erwartung hat sich nach Groopmans Erkenntnissen - er sprach mit Psychologen und "Betroffenen" - mitnichten erfüllt; die gängige psychologische Befragungsmethode ("Was war für Sie persönlich das Schrecklichste an dem Ereignis?") sei vielmehr häufig kontraproduktiv. Alles, was man nach derartigen Katastrophen brauche, zitiert er eine Expertin, "sei lediglich ein 'psychologisches Erste-Hilfe-Programm': die Opfer sollten an einen sicheren Ort gebracht, mit Essen und Trinken versorgt und über den Zustand von Freunden und Verwandten informiert werden. Nichts davon macht die Anwesenheit eines ausgebildeten Psychologen erforderlich."

Weitere Artikel: James Surowiecki informiert über den Milliardenbedarf von Bushs Weltraumprogramm ("Busch streicht das Lob ein für die 'kühnen' Pläne, seine Nachfolger kriegen die Rechnung"), Frank Gannon meditiert mit Hilfe von Will Smith und Aristoteles über die ideale Qualität sexueller Beziehungen, Ben McGrath berichtet über den Einsatz eines 83-jährigen Geisterjägers im offenbar von Gespenstern heimgesuchten nagelneuen Maritime Hotel in Chelsea ("Nehmen Sie keinerlei Ausrüstung wie Geigerzähler oder Quarzkristalle mit, ist alles Schwachsinn"), und Field Maloney amüsiert sich über Leute, die zu wohltätigen Zwecken Bartpflege betreiben. Zu lesen ist die Erzählung "Eminent Domain" von Antonya Nelson.

John Updike rezensiert die neuen Romane "The Confessions of Max Tivoli" (Farrar) von Andrew Sean Greer (hier) und "The Body" (Scribner) von Hanif Kureishi, die sich beide mit der Frage des Alterns und - bei Kureihisi in "drastischerer" Form - der Trennung von Körper und Geist beschäftigen. Die Kurzbesprechungen würdigen unter anderem vier neue Erzählungen von Doris Lessing (hier). Besprochen werden überdies das jüngste Stück des Dramatikers und Regisseurs Richard Foreman an seinem Ontological-Hysteric Theater, und David Denby sah zwei Filme über die (inzwischen hingerichtete) Prostituierte Aileen Wuornos, die sieben Männer umbrachte: den Dokumentarfilm "Aileen: Life and Death of a Serial Killer" von Nick Broomfield und den Spielfilm "Monster" von Patty Jenkins mit Charlize Theron in der Hauptrolle.

Nur in der Printausgabe: Artikel über Rettungsversuche der verschwundenen Wasserstraße von Los Angeles, die zweifelhafte Unterstützung eines bedrohten Wissenschaftlers durch Amnesty International, die Gefahren überfüllter Pisten für Amerikas Skiprofis und Lyrik von Linda Gregg und Charles Wright.
Archiv: New Yorker

Encuentros (Spanien / Kuba), 18.01.2004

Auf Kuba ist der private Zugang zum Internet weiter eingeschränkt worden. Der war zwar schon vorher schwierig, aber immerhin dank einem florierenden Handel mit Einwahlnummern und Passwörtern noch möglich. Damit ist nun Schluss: "Diejenigen, die sich darauf spezialisiert hatten, illegale Zugänge zu verkaufen, müssen nun ihr Geschäft aufgeben oder ernste Konsequenzen fürchten, während ein paar Hunderttausend informellen Nutzern keine andere Alternative bleibt als die Rückkehr in die Höhle der Desinformation, der Isolation und der Rauchzeichen", schreibt Jose H. Fernandez aus Havanna in der Internet-Ausgabe der kubanischen Zeitschrift Encuentros. Amnesty International und Reporter ohne Grenzen haben bereits protestiert. Ob das etwas nutzt, ist fraglich: "Wir stehen immer für eine Diskussion zur Verfügung, aber die kubanische Regierung hat darauf noch nie reagiert. Kuba ist eine Mauer, die jeglichen Dialog abschmettert", beklagt sich der internationale Generalsekretär von Reporter ohne Grenzen, Robert Menard, in einem offensichtlich schon zuvor geführten Interview.

Indes versuchen sich die Priester der in Kuba weitverbreiteten Santeria-Religion in der Vorhersage, was 2004 so bringen wird. Eine kleine Auswahl aus der traditionellen Neujahrs-Prophezeihung dieser sogenannten Ifas: "Verlust angesehener religiöser und öffentlicher Persönlichkeiten", "Verrat auf höchster Ebene", "Verschärfung des Machtkampfes" und "radikaler Wandel in allen sozialen Schichten" (allerdings ebenso: "Zunahme der ausländischen Investitionen", "Ausbreitung der Handelsmarine", "Klimawandel" und "Empfehlungen zur Wahrung der familiären Einheit"). Wie dem Bericht in Encuentros zu entnehmen, gibt es allerdings noch einen anderen, mit den Ifas konkurrierenden Priesterverband, der auf eine "Zunahme des Verbrechens" tippt. "Wir haben da verschiedene Methoden", erklärt einer der Beteiligten die Meinungsunterschiede. Das von dem kubanischen Schriftsteller Jesus Diaz gegründete Magazin hat übrigens Ende 2003 eine neue Printausgabe auf den Markt gebracht (Inhaltsangabe hier).
Archiv: Encuentros

Reportajes (Chile), 18.01.2004

Der wohl wichtigste intellektuelle Fürsprecher Fidel Castros ist bekanntlich der kolumbianische Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez. Über die symbiotische Beziehung zwischen dem Revolutionär und dem Schriftsteller ist in Spanien jüngst ein Buch, "Gabo y Fidel: paisajes de una amistad", erschienen. "Beide haben einiges gemeinsam. Beide haben Gefallen an der Macht und beide sind mächtig", fasst Rezensent Marcelo Soto in Reportajes, der Sonntagsbeilage der chilenischen Tageszeitung La Tercera, ein wenig böswillig zusammen. Das Buch sei mit allerlei Anekdoten über nächtelange Gesprächsrunden gespickt, beschreibe aber auch wie Garcia Marquez in Havanna zu einer Villa und einem Mercedes Benz kam (Zugang nach unkomplizierter Registrierung - zum Magazin, versteht sich, nicht zum Mercedes).
Archiv: Reportajes

Monde des livres (Frankreich), 16.01.2004

Zwei wichtige Neuerscheinungen zum Thema Antisemitismus in Nazideutschland und zum Holocaust bespricht Le monde des livres von letzter Woche.

Der Philosoph Georges Didi-Huberman publiziert bei Minuit den Band "Images malgre tout", eine Meditation über die vier einzigen Fotos, die in unmittelbarer Nähe der Gaskammern von Auschwitz-Birkenau gemacht worden sind. Sie zeigen schemenhaft unter anderem, wie eine Gruppe von Frauen in die Gaskammern gedrängt wird, schreibt Philippe Dagen. Didi-Huberman hatte hierüber bereits einen Essay geschrieben, der in der Zeitschrift Les temps modernes zu einer scharfen Kontroverse führte, auf die der Autor in dem Buch antwortet: "Am Ende einer exemplarischen Exegese schließt er, dass diese geretteten Fotos 'unendlich kostbar' seien, um so mehr weil sie von uns eine archäologische Anstrengung erfordern, das heißt Beobachtung, Meditation, Selbstbefragung..." Wir wundern uns, dass deutsche Medien von der Debatte kaum Notiz nahmen. Hier eine pdf-Leseprobe aus dem Buch.

Zugleich bringt der in Frankreich sehr angesehene Genfer Historiker Philippe Burrin einen "Essai sur l'antisemitisme nazi" (Editions du Seuil) heraus, der unter anderem auf Daniel Goldhagens Thesen zum Thema antwortet. Burrin vermutet keinen genetischen Antisemitismus wie Goldhagen, sondern konstatiert einen drastischen Zivilisationsverlust, besonders als man spürte, dass man den Krieg verlieren könnte, ab 1941, schreibt Laurent Douzou: "1941 war der Krieg zum Weltkrieg geworden, zum Kampf auf Leben und Tod, was mit der von Hitler angekündigten Apokalypse in eins zu fallen schien, das heißt mit einem Endkampf, in dem sich das Schicksal der Menschheit entscheiden würde. Diese apokalyptische Sicht fand ein breites Echo in der von Ressentiments zerfressenen deutschen Öffentlichkeit: Man verlernte im Wortsinn die Zivilisation, um sie durch Indifferenz zu ersetzen."

Weitere Artikel handeln von einem Buch über KZs mitten in Paris sowie vom Kauf eines der letzten unabhängigen Verlage, Le Seuil, durch die La Martiniere-Gruppe.

Times Literary Supplement (UK), 16.01.2004

Der britische Erziehungsminister Charles Clarke hatte kürzlich erklärt, dass er einige Mediävisten gern aus dekorativen Gründen toleriere. Es gebe nur keinen Grund, dass der Staat sie dafür bezahle. Der Historiker Patrick Wormald erklärt in einer leider nur auszugsweise veröffentlichten Verteidigung der Geisteswissenschaften: "Ich sollte erfreut darüber sein, als Ornament betrachtet zu werden. Wer will schon nützlich sein, wenn er hübsch sein kann?" Andererseits, erinnert er den Minister, unterrichteten die Römer ihre Politik-Kader nicht in römischem Recht, sondern in Rhetorik. Die Mandarine lernten klassische chinesische Poesie, die Brahmanen die Veden. Dies alles waren Studien des Humanismus, so Wormald. Wenn Großbritannien also so lange existieren wolle wie das chinesische Reich - immerhin 2.000 Jahre - sollte es die Beschäftigung mit der Vergangenheit besser nicht verachten.

Etwas zu amerikanisch findet Dominic Hibberd Vincent Sherrys Buch "The Great War and the Language of Modernism". Sherrys These sei zunächst einmal faszinierend, so der Rezensent: Bis zum Ersten Weltkrieg war "die Sprache des englischen Liberalismus noch der Vernunft und den Werten der Zivilisation verpflichtet", fasst er zusammen. Weil aber die Regierung ab 1914 den Krieg als zivilatorischen Akt zu verkaufen suchte, begannen Sprache und ihr Gehalt auseinander zu klaffen: "Schöne Argumente, die keine Beziehung zu aktuellen Ereignissen vertrugen, wurden mit klangvoller Vernünftigkeit versehen ... Die Dichter nutzten dieses Auseinanderklaffen von rationaler Aussage und Realität, um Gefühle und Haltungen darzustellen, die unter dem logischen Diskurs verborgen lagen." Abgesehen davon, dass die Untersuchung sich vor allem mit den Amerikanern Ezra Pound und T. S. Eliot beschäftigt, findet der Rezensent: Sherrys "Version von England (dass er niemals Großbritannien nennt) hat einen schwachen, aber feststellbaren Geruch von Hollywood: ein England der angestammten Rasenflächen und politischen Intrigen, in dem die meisten Autoritäten entweder Idioten oder imperialistische Schufte sind."

Weitere Artikel: Robert Douglas-Fairhurst stellt eine Ausgabe der frühen Briefe von Dante Gabriel Rossetti vor. Nicola Shulman erntet in ihrer Besprechung von Robert Palters "The duchess of Malfi's apricots" die Früchte der Literatur. Monty Python Terry Jones behauptet in seinem Buch "Who mudered Chaucer?", der bedeutendste englische Dichter des Mittelalters (mehr) sei von der Regierung ermordet worden - diese Behauptung, so Rezensent Alexander Rose, "leidet an zwei entscheidenden Mängeln: der Logik und Chronologie".

Moskowskije Novosti (Russland), 16.01.2004

In der ersten Ausgabe des neuen Jahres bringt die Moskowskije Novosti einen Artikel über ein ausgesprochen progressives Moskauer Theaterkonzept namens "Teatra.doc", das "das Theater des Internet-Zeitalters" zu werden verspricht. Die von den Dramaturgen Michail Ugarow und Elena Gremina ersonnene "Verbatim-Technik", eine Synthese aus "nicht normativer Lexik" und Laienschauspiel, erinnert auch aufgrund des düsteren Aufführungsortes in dem Moskauer Kellertheater "Trjechprudny" an die Dogma-Filme. Das Theater plant nach dreißig erfolgreichen Projekten für die neue Saison eine Kooperation mit dem Künstlertheater, in deren Rahmen Moskauer Obdachlose einen realen Text nach Maßgabe der Dramaturgen "nicht spielen, sondern wirklich durchleben sollen".
Stichwörter: Dramaturgen

Economist (UK), 16.01.2004

Wovor ekeln wir uns, und warum? Wissenschaftler, so der Economist, haben ein Internet-Experiment gestartet (hier), das unser Ekel-Profil ermitteln soll, und in dem unter anderem gefragt wird, mit wem unter den vorgeschlagenen Menschen man eher die Zahnbürste teilen würde. Das Ergebnis ist nicht nur eindeutig (Ekel ist eine krankheits-abwehrende Reaktion), sondern auch überraschend (Jüngere Menschen sind leichter zu ekeln als ältere, und Frauen leichter als Männer). Der "ältere, im grünen Vorort-Städtchen Tunbridge Wells lebende Oberst" als Inbegriff des vor Ekel die Nase rümpfenden Menschen ist damit, so der Economist, wohl endgültig widerlegt.

Laut Economist ergeben neue Studien, dass in Großbritannien akademische Bildung keineswegs sozialen Aufstieg bedeutet. Denn Erfolg sei letztlich eine Stilfrage: "Unförmige Anoraks sind eher hinderlich, egal wie beeindruckend die akademischen Qualifikationen ausfallen." Und Stil lerne man schließlich im sozialen Umfeld.

Weitere Artikel: In einem umfassenden Artikel beschäftigt sich der Economist mit den politischen Entwicklungen im Iran, wo der Kampf zwischen beherzten Halbreformern und dem klerikalen Rat der Wächter zunehmend eskaliert. Die Lösung zu Afrikas Misere liegt nicht bei den Mächten der westlichen Welt, so der Economist, sondern bei Afrika selbst, in der schrittweisen Entmachtung seiner selbstherrlichen Diktatoren. Es nützt nichts, meint der Economist, die bevorstehende Entwicklung verhindern zu wollen: im Zuge der EU-Erweiterung werden sie unweigerlich kommen - die Horden aus dem Osten. Für den Demokraten Howard Dean könnte der US-Bundesstaat Iowa und sein skurriles caucuses-Wahlsystem zum politischen Prüfstein werden. Leben und Sterben für Ideen: Die von der Cambridge University Press herausgebrachte Geschichte der politischen Ideen ("The Cambridge History of Twentieth-Century Political Thought") hat, nach Ansicht des Economist, das Zeug zum Standardwerk.

Außerdem zu lesen: ein Nachruf auf Michael Straight - einen Spion, der sich nie eingestehen konnte, einer gewesen zu sein - , warum Roboter die Wissenschaftler der Zukunft sind, und weshalb die Amerikaner auf den Mond zurückwollen (woraufhin der Economist vorschlägt, den Mond zu privatisieren).

Leider nur in der Printausgabe zu lesen sind: George Bushs Raumfahrt-Visionen (im Aufmacher), und was Prozac mit Freud zu tun hat.
Archiv: Economist

Literaturnaja Gazeta (Russland), 14.01.2004

In dem Artikel "Russophobie - das Krebsgeschwür der slawischen Welt" berichtet Sergej Komarow von einer Slawisten-Konferenz in Moskau, auf der es um "das Schicksal der slawischen Völker in der neuen Weltordnung" ging. Nach dem Zerfall der Sowjetunion und der Stationierung der NATO-Truppen im Kosovo habe die Russenfeindlichkeit weltweit, aber vor allem "innerhalb der slawischen Familie, in Polen, Bulgarien, Tschechien und der Ukraine" zugenommen. Abhilfe könnte die Einbindung Russlands in die europäische Union schaffen, schließlich "ist die europäische Zivilisation immer ein romanisch-germanisch-slawisches Dreieck gewesen".

New York Times (USA), 18.01.2004

John le Carre (zum Anhören) "ist ein alter Profi mit dem leidenschaftlichen Herzen eines Amateurs, weshalb er immer noch fähig ist, einen so seltsamen, unbeholfenen und packenden Roman wie 'Absolute Friends' (erstes Kapitel) zu schreiben, staunt Terrence Rafferty. Carre identifiziert sich mit seinem Held Ted Mundy, der einer Art Post-Kalter-Krieg-Tristesse verfallen ist, über den Irak-Krieg schäumt und ein letztes großes Projekt plant. "Ob es funktioniert? Nicht wirklich. Der heftige Sarkasmus auf den letzten Seiten des Buches fällt diesem Schriftsteller nicht leicht. Aber in gewisser Weise ist es das, was le Carre erreichen wollte ... die fröhliche Schläue zu unterlaufen, die besonders häufig Engländer und Thriller-Autoren zu befallen droht."

Warum wurde Time Warner damals an den schäbigen Internet-Provider AOL verkauft? Adam Liptak hat zwei Bücher darüber gelesen und weiß jetzt mehr, besonders dank Nina Munks "Fools Rush In", das "bislang beste" Werk zum Thema. "Munk verbindet Fallbeispiele mit lebendiger, klarer Schreibe und beweist überzeugend - nein, erschütternd, dass der Warner-Vorsitzende Gerald M. Levin (mehr) das Erbe des Gründers Henry Luce ruiniert hat, nur um sein Ego aufzupolieren."

Weiteres: Alles über Al Capone & Co erfährt man in Thomas Reppettos gescheiter wie solider Studie über die amerikanische Mafia, lobt Dan Barry. Reppetto ist auch vom Fach, als Präsident der Citizens Crime Commission von New York (gibt es in vielen Städten). James E. Young findet Eva Hoffmanns autobiografische Überlegungen (erstes Kapitel) zu den Nachwirkungen des Holocaust auf das Leben ihrer Altersgenossen bereichernd, und Stephanie Zacharek wischt sich gerührt eine Träne weg nach der Lektüre von Gavin Lamberts "elegischem, wehmütigen" Porträt (erstes Kapitel) der Schauspielerin Natalie Wood (Filmografie).

Im NY Times Magazine schreibt Michael Sokolove eine dieser wunderbaren langen Reportagen. Sie handelt von der Zukunft des Doping, die in Genmanipulation bestehen dürfte. In einem Laboratorium der Universität von Pennsylvania ist Sokolve dieser Zukunft schon angesichtig geworden - in Gestalt von Mighty Mice: "Ich hatte schon von diesen 'mächtigen Mäusen' gehört, aber ihr Anblick schockierte mich doch. Da waren sie in ein paar kleinen Käfigen, zusammen mit normalen Mäusen. Alle knabberten Trockenfutterkügelchen. Die 'mächtigen Mäuse' sahen aus wie ein anderes Tier. Sie waren wie Fleischrinder gebaut, mit dicken Nacken und kräftigen Lenden. Sie schienen in eine Art Maus-Rodeo zu gehören." Ein Bild dieser übrigens nicht ganz neuen Züchtung haben wir hier gefunden.
Archiv: New York Times