Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.02.2004. Die FAZ findet: Mel Gibsons Jesus-Film fordert mehr Nerven- als Glaubenskraft. In der Zeit stöhnt Otto Mühl: "Überall Penisse. Entsetzlich." In der FR meditiert Michael Rutschky  über den uns viel zu nahen Bush. Die taz staunt über das synkretistische Wesen der nigerianischen Filmkunst. In der SZ warnt Orhan Pamuk: Allzuviele Kopftücher führen ins Verkehrschaos.

FAZ, 26.02.2004

Mel Gibsons "Passion" ist nun in den USA angelaufen, und die Reaktion der Kritiker ist eher verstört: Der Film ist ungeheuer brutal (man lese mal die Kritik aus der New York Times und den fulminanten Veriss aus dem New Yorker, auf die wir in unserem gestrigen Link des Tages verlinkt haben), und der Anfang von Andreas Kilbs heutigem Artikel sagt eigentlich alles: "'The Passion of the Christ' ist ein Film, der die Qualen des Erlösers so überdeutlich ausstellt, dass er selbst immer wieder zur Tortur wird. Vielleicht braucht man eher Nerven- als Glaubensstärke, um 'The Passion' bis zum Schluss auszuhalten, bis zu jener Szene, in der ein wundersam genesener und jugendschöner Jesus sich am Tag der Auferstehung von seinem steinernen Lager in der Gruft erhebt, ohne dass man nach den vorangegangenen zwei Stunden das Gefühl hätte, dadurch würde irgend etwas wieder gut."

Jürg Altwegg berichtet von eine posthumen Bourdieu-Konjunktur in Paris. Anlass ist das Erscheinen von Pierre Bourdieus Erinnerungsbuch "Esquisse d'une auto-analyse" in Paris, das laut Verfügung des Denkers sensationeller Weise zuerst vor zwei Jahren auf deutsch erschienen war: Aber "von der deutschen Erstausgabe hatte kein Pariser Kritiker Kenntnis genommen" (und diese Zeitung war seinerzeit ebenfalls nicht zur Stelle!)

Weitere Artikel: Eleonore Büning feiert Simon Rattles Erziehungsarbeit und Werben für klassische Musik bei den Berliner Kindern ("Bezwingend die Ernsthaftigkeit, die grenzüberschreitende Professionalität, mit der sich Spitzenmusiker einlassen auf eine Arbeit mit Kindern, ohne sich pädagogisch von oben 'herabzulassen'.") "bat" zeigt sich ergriffen von einem jüngst in Neapel aufgefundenen Marmorkopf des Nero. Martin Stingelin stellt im Rahmen der FAZ-Gehirn-Debatte einen Text von Friedrich Dürrenmatt von 1990 vor, der die heutige Debatte bereits vorausnimmt. Joseph Croitoru liest israelische und palästinensische Zeitungen zum Thema des Grenzzauns. Claudius Seidl schreibt den Nachruf auf den Mafiaboss-Darsteller Joe Viterelli. Ilona Lehnart begrüßt den Berliner Plan, den zugigen Mittelplatz des Westberliner Kulturforums zur Piazza auszubauen. Jürg Altwegg zitiert eine (leider kostenpflichtige) Antwort des französischen Premierministers Jean-Pierre Raffarin auf eine Petiton Pariser Intellektueller, die sich von der Regierung kollektiv beleidigt wähnen. Reinhard Seiss erinnert an das Ende des städtebaulich so fruchtbaren "Roten Wien" vor siebzig Jahren. Hans-Dieter Seidel schreibt eine wunderhübsche Hymne auf Valeria Bruni-Tedeschi und ihren "wunderbar ausgefallenen" Film "Eher geht ein Kamel durchs Nadelöhr..."

Auf der Kinoseite werden Debattenbeiträge deutscher Filmschaffender zur notorischen Frage "Was ich am deutschen Film hasse" abgedruckt (die Debatte fand während der Berlinale statt).

Auf der Medienseite freut sich Frank Kaspar über den Hörspielpreis der Kriegsblinden für Elfriede Jelinek.

Auf der letzten Seite resümiert Felicitas von Lovenberg ein Athener Kolloquium über den Einfluss der Antike auf die moderne Literatur. Hannes Hintermeier wundert sich, dass jetzt auch der an sich so gediegene Großbuchhändler Hugendubel eine Art "Geiz ist geil"-Kampagne betreibt. Und Christian Schwägerl schreibt ein Porträt über die Hirnforscherin Hannah Monyer, die heute den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhält.

Besprochen wird eine Boris Kustodiiew-Retrospektive in Sankt Petersburg.

Zeit, 26.02.2004

Anlässlich einer großen Retrospektive in Wien haben Peter Roos und Christof Siemes den Maler Otto Mühl in Portugal besucht. "Der Sexprotz Mühl ist jetzt ein alter Mann. Wie fühlt sich das an?" fragen sie. "Cool. Sexualität wird Alltag, normal. Lenkt nicht ab. Ihr zwei starrt immer darauf: Da liegt ein Penis, neben dir sitzt ein Penis, vor dir ist ein Penis, überall Penisse. Entsetzlich."

Weitere Artikel: Am 2. März beginnt im ZDF eine vierteilige Serie von Guido Knopp über Widerstandskämpfer im Nationalsozialismus. Peter Kümmel kritisiert im Aufmacher ausführlich die Stilmittel Knopps und wirft ihm vor, "Erinnerung als Zerstreuung" anzubieten. Mirko Weber porträtiert den Schauspieler Rolf Boysen, der in München und Hannover die "Ilias" vorliest - an fünf Abenden. Der Kunsthistoriker Werner Hofmann ärgert sich darüber, von NDR 3 auf "Geistesdiät" gesetzt worden zu sein. Da könne er auch gleich Klassik Radio hören. Thomas Groß porträtiert die schottische Art-School-Band "Franz Ferdinand". In der Leitglosse erzählt Michael Naumann, wie ein Brite mit Polizeikräften aus der Wehrmachts-Ausstellung in Hamburg geekelt wurde - weil er seinen Mantel nicht an der Garderobe abgeben wollte.

Religion und Moral: Thomas Kleine-Brockhoff beschreibt die amerikanische Debatte um Mel Gibsons Passionsfilm. Der Theologe Walter Schmithals erklärt, warum Antisemitismus bei der Darstellung der Passions-Berichte in den Evangelien eine Folge unhistorischer Bibellektüre ist. Die Symbole der Religionen sind nicht gleichwertig, schreibt der Theologe Jürgen Moltmann, und besteht auf Differenz: "Es gibt Symbole der Freiheit und Symbole der Unterwerfung ... In unserem Kulturbereich verdanken wir die Freiheit des Staates von der Kirche und Freiheit der Menschen von Staatsreligionen nicht dem Koran, sondern der Bibel." Eine langweilige Oscar-Verleihung steht bevor, glaubt Katja Nicodemus, die Favoriten sind klar, kein Michael Moore in Sicht, der für einen politischen Eklat sorgen könnte und dann wird die ganze Veranstaltung auch noch zeitverschoben übertragen, damit schmutzige Worte mit einem "Beep" und nackte Busen mit einem Kameraschwenk überspielt werden können.

Besprochen werden Alejandro Gonzalez Inarritus Melodram "21 Gramm" und neue Opern von Matthias Pintscher und Thomas Ades in Paris und London.

Im Literaturteil schreibt Jens Jessen im Aufmacher über ein Buch des kolumbianischen Philosophen und Anti-Demokraten Nicolas Gomez Davila - ein "authentischer Reaktionär" und "katholischer Schriftsteller von einzigartiger Angriffslust" (hier einige seiner Aphorismen). Auf der ersten Seite der Zeit warnt Josef Joffe vor einem neuen Antisemitismus in Europa. Und Jörg Lau beschreibt, wie Fatih Akins Film "Gegen die Wand" und seine Hauptdarstellerin Sibell Kekilli "das Bild der Deutschen von den Türken radikal verändert" haben.

FR, 26.02.2004

Michael Rutschky stellt fest, dass die Deutschen an den amerikanischen "primaries", also den Vorwahlen teilnehmen: "Der amerikanische Präsident ist ein energiegeladener Posten in der deutschen Imagination. Wie heftig die Affekte toben, zeigt das Misstrauen gegen den Präsidenten Bush. Er ist uns viel zu nahe. Das leitet sich gut erkennbar aus der Geschichte her. Die frühe Bundesrepublik, hat man gesagt, funktionierte als Kolonie der USA. Allerdings verwandelte uns das amerikanische Imperium nicht in eine abhängige Provinz, sondern in einen befreundeten Staat. Kein Generalgouverneur übt das oberste Regiment aus. Selbst in Westberlin, das bis 1990 unter der Oberhoheit der Westalliierten stand, verbot kein amerikanischer Stadtkommandant die wilden prokommunistischen Demonstrationen der sechziger Jahre, obwohl man 'USA - SA - SS' brüllte und keinen Zweifel daran ließ, wen die aufgeregten Jungmenschenmassen für den wahren Feind des Menschengeschlechts hielten. Keineswegs die Sowjetunion."

Weitere Artikel: In der Kolumne Times Mager reflektiert Silke Hohmann aktuelle Jeansphilosophien. Auf der Medienseite gratuliert Ines Stickler der deutsch-jüdisch-amerikanischen Zeitschrift Aufbau zum 70-jährigen Bestehen. Besprochen werden Florian Baxmeyers oscarnominierter Kurzfilm "Die Rote Jacke", Alejandro Gonzalez Inarritus Film "21 Gramm" und Jerry Zuckers "Scary Movie 3".

TAZ, 26.02.2004

"Es ist ein bizarr hybrides, synkretistisches Wesen" schreibt Olaf Möller über die nigerianische Filmproduktion auf Video, "halb Theater lokaler Provenienz, halb Serien-TV nach brasilianisch-mexikanischem Vorbild - was immer wieder zu Laufzeiten zwischen drei und sechs Stunden führt -, angemacht mit viel Slasher-Horror, Hongkonger Kampfkunstspektakel und einer gehörigen Portion Bollywood. Auch das ist nicht wirklich neu in Nigeria, wie die in den 70ern und 80ern gedrehten Filme Eddie Ugbomahs zeigen: Der True-Crime-Reißer 'The Rise and Fall of Dr. Oyenuzi' von 1977 oder der Polit-Thriller 'Death of a Black President' von 1983 zum Beispiel sind von westlichen wie von Hongkonger Modellen beeinflusst." Allerding keine große Kinokunst: Eher "Z-Entertainment, haarsträubend windschief und deshalb extrem großartig."

Weitere Artikel: Cristina Nord berichtet im Vorfeld der Oscar-Verleihung von Querelen um den Dokumentarfilm "Capturing the Friedmans" (es geht um einen umstrittenen Fall von Kindesmissbrauch). Knut Henkel feiert den kolumbianischen Superstar Juanes (homepage), der mit seiner Folklore-Rock-Mischung nach Berlin kommt. In der taz zwei liefert Niklaus Hablützel ein lesenswertes Porträt der Brüder Samwar (Gründer von alando - später e-bay - und Jamba).

Besprochen werden Alejandro Gonzalez Inarritus Film "21 Gramm" und Nina Gühlstorffs Uraufführung von Margareth Obexers Stück "Die Liebenden" am Landestheater Tübingen.

Und TOM.

NZZ, 26.02.2004

Markus Bickel berichtet von einer weitgehend erfolglosen Konferenz in Beirut, auf der die Friedrich-Ebert-Stiftung den Dialog mit arabischen Wissenschaftler suchte: "Rund zwanzig schiitische Geistliche, die sich in den ersten Sitzreihen platziert hatten, verstärkten den Eindruck, dass es in Beirut weniger um einen europäisch-islamischen Dialog ging als um eine Plattform zur Verbreitung der Vorstellungen des Hizbullah. Fast schon flehend forderte Tayyib Tizini, Philosophieprofessor an der Universität Damaskus und eine der liberaleren arabischen Stimmen, während einer Pause eine Handvoll westliche Besucher auf, in den Fragerunden doch endlich auch einmal das Wort zu ergreifen.

Besprochen werden eine Ausstellung im Kunsthaus Bregenz zum Werk Gary Humes (wie Birgit Sonna vermutet, wahrscheinlich "der weltweit einzige Künstler, der sich ernsthafte Bildgedanken macht, wie die durch das Blattwerk einer Hecke gebrochene Wahrnehmung eines Vogels aussehen könnte"), eine Reihe von CD-Wiederveröffentlichungen aus "Krautrock"-Tagen. Und Bücher, darunter Rem Koolhaas' Architekturbibel "Content" (ein "irritierend-inspirierendes Machwerk") und der Bildband "Menschenbilder. Eine unbekannte Welt", der die Zeichungen Lyonel Feiningers untersucht (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 26.02.2004

Der türkische Schriftsteller Orhan Pamuk räsoniert ausgesprochen lesenswert über die Zusammenhänge des Teheraner Verkehrschaos mit dem fundamentalistischen Mullah-Regime: "In der Diktatur der Mullahs haben sich die Frauen zu verschleiern, die Bücher durch die Zensur zu gehen, die Gefängnisse sich zu füllen und alle hohen Mauern der Stadt sich von großformatigen Bildern der Märtyrer bedecken zu lassen... Auf den durch die Freiheit der regelverachtenden Fahrer völlig durcheinander geratenen Hauptstraßen der Stadt war die Existenz der Religion auf eine eigenartige Weise noch stärker zu spüren. Während der Staat einerseits erbarmungslos die allgemeinen Regeln der Religion und des Heiligen Buches durchsetzte und es so gut wie unmöglich war, sich gegen diese Regeln zu wehren, ohne ins Gefängnis zu kommen, gehorchte und vertraute andererseits niemand den Verkehrsregeln, die wiederum unter Aufsicht des Staates hätten stehen müssen."

Weitere Artikel: Der Stauffenberg-Biograf Peter Hoffmann lässt wissen, was Jo Baiers Stauffenberg-Film alles nicht gezeigt hat. Gerwin Zohlen ist der Meinung, dass das Berliner Kulturforum dringend neue Impulse braucht und findet den dafür geschaffenen Rahmenplan trotzdem nicht gut. Petra Steinberger schreibt über den israelischen Historiker Benny Morris, der bisher zu den linken Zionisten zählte, nun aber bedauert, dass 1948 die Palästinenser nicht vollständig aus Israel vertrieben wurde. Willi Winkler befasst sich mit der Frage, ob der berühmte amerikanische Literaturwissenschaftler Harold Bloom vor zwanzig Jahren die Schenkel der amerikanischen Bestsellerautorin Naomi Wolf begrabscht hat, als sie noch keine Beststellerautorin, sondern seine Studentin war. Und hier ein Gespräch, das Susan Vahabzadeh und Fritz Göttler mit Atom Egoyan über seinen Film "Ararat" geführt haben. Fritz Göttler hat erste Reaktionen auf Mel Gibsons Jesus-Film "Passion" eingeholt. Andrian Kreye porträtiert die Regisseurin Katja Esson, deren Dokumentarfilm "Ferry Tales" für einen Oscar nominiert wurde.

Im übrigen stellt uns Alexander Kissler an dieser Stelle einen heiteren Helden vor, der den Berliner Hardenbergplatz in Helmut-Newton-Platz umbenennen will: "Siegfried Helias denkt offenbar bei dem Namen Hardenberg an lange Kerls und will diesen unerotischen Assoziationsraum ersetzt wissen durch die endlos langen Beine unendlich schöner Frauen, die auf Newtons Fotografien so selbstbewusst paradieren."

Besprochen werden Alex Proyas' Film "Garage Days", Philipp Stölzls furiose Verlierer-Ballade "Baby", ein New Yorker Theaterabend mit Isabella Rosselini, die im Primary Stages Theater in 'Stendhal Syndrome', zwei Einaktern von Terrence McNally auf der Bühne stand. Und Bücher, darunter Dan Browns Thriller "Sakrileg", der "erste Rumsfeld-Roman", wie Thomas Steinfeld findet, weil ihm Europa darin nur wie eine historische Landschaft, also wirklich alt erscheint (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).