Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
22.09.2001. Nach wie vor dreht sich in den Feuilletons alles um die Anschläge von New York und Washington und deren Folgen. Gedanken über Zuversicht, Sinnsuche, aber auch über Stimmungsmache.

FAZ, 22.09.2001

Optimismus in der Krise. Francis Fukuyama, der nach 89 schon das "Ende der Geschichte" einläutete (die dann wider Erwarten doch weiterging), zieht auch Positives aus der Katastrophe des 11. September: "Die Veränderungen, die uns nach den Angriffen vom 11. September erwarten, werden .. meines Erachtens nicht zu einem repressiveren, intoleranteren, fremdenfeindlicheren, noch stärker gespaltenen oder isolationistischen Amerika führen. Vielmehr gibt es Anzeichen dafür, dass die Tragödie das Land tatsächlich nach innen stärker und einiger machen wird und international zu konstruktiverer Beteiligung veranlassen könnte."

Auch Frank Schirrmacher erkennt Zeichen einer willkommenen Wandlung in den USA. Bushs Rede, so meint er, könnte das Gründungsdokument einer "erneuerten Kultur" sein, denn Bush verhalte sich nicht gemäß dem Hollywood-Drehbuch, das jetzt den großen Gegenschlag erwarten ließ: "Die offene Gesellschaft reagiert anders, geschickter und klüger und geduldiger."

Weitere Artikel zu den Anschlägen: Der Ethnologe Werner Schiffauer befasst sich mit Fundamentalismus unter deutschen Türken und der Frage, wie der Westen heute mit Moslems umgehen solle. Kerstin Holm interviewte den russischen Filmemacher Wladimir Bortko, der 1989 einen Film gegen den Afghanistan-Krieg machte. Heute sieht er ihn als "den ersten Versuch einer Eindämmung des Islamismus durch die Sowjetunion... Was die sowjetische Heeresmaschnierie dann freilich zur Ausführung brachte, geriet höchst plump und inkompetent." Verena Lueken zeichnet nach, wie der New Yorker Bürgermeister Giuliani in den letzten Tagen zum Volkshelden wurde. Jordan Mejias findet, dass sich Bush in seiner Rede "rhetorisch verbessert" hat. Frank Ebbinghaus berichtet von "Pakistans Wirtschaftstag", der ausgerechnet gestern in Berlin stattfand. Auf der Medienseite lesen wir den letzten Bericht des CNN-Korrespondenten aus Afghanistan ? nun sind alle westlichen Journalisten ausgewiesen. In Natur und Wissenschaft hält uns Horst Rademacher die Geografie Afghanistans vor Augen. Im Kommentar erfahren wir, dass die USA nun aus Rücksicht auf religiöse Empfindlichkeiten auf das Codewort "Infinite Justice" verzichten.

Kultur: Gerhard Stadelmaier hat sich die erste Premiere am Deutschen Theater Berlin unter seinem neuen Intendanten Bernd Willms angesehen, Garcia Lorcas "Bluthochzeit" in der Regie von Konstanze Lauterbach. Sie hat ihm nicht gefallen: "Im Deutschen Theater spielen sie nicht 'Bluthochzeit', sondern irgendwie 'Die zerraufte Braut'."

Jörg Döring hat Wolfgang Koeppens große Liebe, Sibylle Schloß, in New York besucht. Eva Menasse schreibt zur Eröffnung des Museums Leopold in Wien. Andreas Rossmann berichtet, dass der Bau des Kölner Diözesanmuseums in der Architektur von Peter Zumthor nun beginnen kann. Felicitas von Lovenberg gratuliert der Schriftstellerin Fay Weldon zum Siebzigsten. Ingeborg Harms liest deutsche Zeitschriften. Heinrich Wefing fürchtet, dass das geplante "Innovationszentrum für Bibliotheken" zu verscheiden droht, "noch ehe es recht zum Leben erweckt werden konnte. Siegfried Stadler schreibt zum Tod von Karl-Eduard von Schnitzler.

Besprochen werden Wolgang Murnbergers Film "Komm, süßer Tod", eine Konzertreihe der Band "The Residents" und Johanna Doderers Oper "Die Fremde" in Wien.

Bilder und Zeiten bringt auf einer ganzen Seite bislang unveröffentlichte Kriegsbriefe Heinrich Bölls (die demnächst als Buch publiziert werden). Patrick Bahners schreibt zum 100. Geburtstag des Historikers Herrmann Heimpel. Hartmut Böhme schreibt über das Altern einer sozialen Kategorie ? der Jugend. Günther Gillessen schreibt über die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zu Israel durch Adenauer vor 50 Jahren. Und Thomas Rietzschel schreibt über Theodor Däubler in Porträtbüsten und Skultpuren von Ernst Barlach.

In der Frankfurter Anthologie stellt Claus-Ulrich Bielefeld das Gedicht "Saal der kreißenden Frauen" von Gottfried Benn vor:

"Die ärmsten Frauen von Berlin
- dreizehn Kinder in anderthalb Zimmern,
Huren, Gefangene, Ausgestoßene ?
Krümmen hier ihren Leib und wimmern..."

TAZ, 22.09.2001

Brigitte Werneburg erläutert, wo sich 12 Tage nach den Anschlägen in den USA die Debatte verdichtet bzw. wie sich die Überforderung der Kommentatoren im Rückgriff auf altbekannte Diskurse (Huntington, Globalisierung, Antiamerikanismus, Golfkrieg) oder mehr oder weniger individuelle Hobbyhorses zeigt. "Nur eine Debatte der jüngsten Vergangenheit scheint keine Chance auf ihre Überführung in die neue Weltlage zu haben: Niemand fragte bislang nach dem Gencode der Islamisten." Bislang.

Außerdem: Dirk Knipphals stellt Feuilletonbeiträge der letzten Tage von Enzensberger, Saskia Sassen und Michael Walzer einander gegenüber, Anke Leweke trifft den österreichischen Kabarettisten Josef Hader und Stefan Kuzmany stellt das neue Buch von Florian Illies vor (siehe unsere Bücherschau Sonntag ab 11).

Im tazmag finden wir ein Globalisierungsglossar (von Attac bis WTO), und Hermann Scheer fragt, ob Globalisierung und Demokratie einen Widerspruch bilden. Auf den vorderen Seiten plädiert Daniel Cohn-Bendit dafür, eine Koalition der Zivilgesellschaften gegen den Terror zu schmieden.

Schließlich Tom.

NZZ, 22.09.2001

Volker S. Stahr meint, dass es eine historische Konstante gibt. Es sind nie mehr als zehn Prozent eines Volkes als Extremisten zu bezeichnen: "Doch wie korrespondiert dies mit folgenden Zahlen? ... In Algerien stand die 'islamistische' FIS 1992 kurz vor dem Wahlsieg, als die Militärs die Wahlen absagten. In Ägypten wird die Anhängerschaft der 'islamistischen' Muslimbrüder stets auf rund ein Drittel der Bevölkerung geschätzt. Hier stellt sich die ernsthafte Frage, ob es sich bei diesen 'Islamisten' immer nur um Extremisten handeln kann, wenn sie oft einen derart breiten Rückhalt haben. In der Muslimbruderschaft etwa unter Händlern, Juristen oder Lehrern." Die Nazis haben es allerdings auch locker auf 30 Prozent gebracht, auch unter Händlern, Juristen und Lehrern!

Weitere Artikel: Uwe Justus Wenzel ist nach New York gefahren und bringt Reiseimpressionen mit. Helmut Frielinghaus beendet mit seiner heutigen Folge sein New Yorker Tagebuch. Hubertus Adam schreibt zum bevorstehenden Abriss des Kraftwerks von Vockenrode. Besprochen werden eine Ausstellung über Peggy Guggenheim in der Galleria Gottardo und Nestroys "Zerrissener" in Wien.

In Literatur und Kunst denkt Reinhart Koselleck am Beispiel von Polen und Deutschland über die Begriffe der Erinnerung und Erinnerungspolitik nach: "Unter Erinnerung wird aber auch weit mehr begriffen als nur die eigene und nur die Summe individueller Erinnerungen. Da wird im Gefolge von Durkheim und Halbwachs gerne von 'kollektiver Erinnerung', auch vom 'kollektiven Gedächtnis' gesprochen. Gegen eine solche Kollektivität seien - methodische - Bedenken angemeldet. Unbestreitbar gibt es gemeinsame Erfahrungen, in die die Menschen hineingeraten, ohne ihnen entrinnen zu können, unabhängig von Alter, Geschlecht, Konfession, Parteizugehörigkeit oder gar Nationalität. Aber schon diese Aufreihung belehrt uns darüber, dass selbst gemeinsame Erfahrungen sehr unterschiedlich wahrgenommen werden."

Weitere Artikel: Ueli Bernays schreibt über einen der wenigen "genuinen Sounds" der Neunziger, den Techno. Marta Kijowska erzählt die Geschichte der Frauen im Leben des polnischen Schriftstellers Bruno Schulz. Zaynab Alkali schildert, wie man im Norden Nigerias eine Ehe schließt. Und Angela Schader porträtiert die südafrikanische Schriftstellerin Bessie Head.

FR, 22.09.2001

In der FR stellt Karl Grobe nicht nur klar, was außer George W. Bush ohnehin alle wissen - dass nämlich das Wort des amerikanischen Präsidenten vom Kreuzzug zutiefst ahistorisch ist -, sondern erklärt überdies, warum der Dschihad nicht zwingend militant ist: "Der Auftrag, die Religion weltweit zu verbreiten, ist indes kein kriegerischer Auftrag, sondern eher ein missionarischer. Er bedeutet, das Land des Islam (dar-ul Islam) auzuweiten, bis das nicht-islamische Gebiet in ihm aufgegangen ist ... Missionierung, Predigt, beispielgebende Wohltätigkeit, ohne nachzulassen."

Interviewt wird der Historiker Fritz Stern. Stern kritisiert die Stimmungsmache des amerikanischen Präsidenten, seinen Ruf nach Krieg: "Ich glaube, dass ein Appell an die Vernunft richtig gewesen wäre, im Stile von Churchill: Wir haben eine Niederlage erlitten, und das müssen wir anerkennen, wir stehen vor einer völlig neuen Situation und darauf müssen wir uns vorbereiten, das wird lange dauern und wird viel kosten ... Das Land vorbereiten auf nationale Geduld - das wäre möglich gewesen."

Weiteres: Peter Iden prüft die beiden neu eröffneten Bauten (mumok und Leopold Museum) des Wiener Museumsquartiers, Karin Ceballos Betancur berichtet von der geplanten Sprengung des Kraftwerks Vockerode, Niels Werber bringt Hobbes, Schmitt, die RAF und Herman Melvilles "Moby-Dick" zusammen, der vor 150 Jahren erschien, Friedhelm Rathjen plaudert aus der Melville-Übersetzer-Werkstatt (Rathjen wäre beinahe auf einer kongenialen M.-D.-Fassung sitzengeblieben). Und im FR-Magazin spricht Umberto Eco über Kriege, Kreuzzüge und das Ende der Wolkenkratzer.

Besprochen werden: der Fotoband "The Lucid Eye" von Johan van der Keuken, Stefan Römers Buch "Künstlerische Strategien des Fake", Tony Earleys Romandebüt "Jim Glass" sowie ein neuer Campus-Roman von David Lodge (auch in unserer Bücherschau Sonntag ab 11 Uhr).

SZ, 22.09.2001

Ob Susan Sontag und Noam Chomsky den Terror als Konsequenz der amerikanischen Außenpolitik bezeichnen oder Hans-Ulrich Gumbrecht und Slavoj Zizek vom "Einbruch der Wirklichkeit" in eine prosaische Welt schwärmen - Jens Bisky zeigt sich irritiert, was den dabei zutage tretenden "Drang zum großen Ganzen" betrifft: "Immer wird dabei vorausgesetzt, dass die Anschläge vom 11. September uns etwas mitteilen wollen, dass sie zwar verbrecherisch sind, aber auch Teil eines sinnvollen Gesamtgeschehens. Dabei wurden die Anschläge inszeniert wie eine Katastrophe, deren Schrecken gerade durch die Verweigerung von Sinn gesteigert wird."

Dass der "Einbruch der Wirklichkeit" gerade kein Glück verheißt, suggeriert ein Artikel von Rainer Erlinger, der die Vorzüge des Computerspiels preist: "(Der Computer) kann die ihm gestellten Vorgaben, seine Regeln, nicht verlassen und ebenso wenig kann der Spieler außerhalb der ihm dargebotenen Möglichkeiten agieren. Es kann systembedingt keine Spielverderber geben und keinen Einbruch der Realität. Eine perfekte Oase des Glücks. Die Wiederholbarkeit ist denkbar einfach. Spätestens ein Zug am Netzstecker setzt alles auf Null zurück. Neues Spiel, neues Glück; beliebig oft. Zu jeder Zeit, an jedem Ort."

Weiterhin äußert sich Renzo Piano zum "Wiederaufbau von New York" (wirklich, ganz New York), Jürgen Habermas widerspricht Ulrich Raulff, Philippe Sands mit einem Plädoyer für einen Konsens diesseits und jenseits des Atlantiks, Wolfgang Schreiber über einen luziferischen Karlheinz Stockhausen und Gottfried Knapp besucht das Museum Leopold und das Museum moderner Kunst im Wiener Museumsquartier.

In der Kritik: Saisoneröffnungen von Thea Dorn, Herbert Achternbusch und Kleist am Schauspiel Hannover, die ungarische Truppe Mozgo Haz bei den Berliner Festwochen, ein trashiger "Otello" in Bielefeld, Garcia Lorcas "Bluthochzeit" im DT Berlin, der Film "The Animal" von Luke Greenfield und eine Ausstellung mit Werken von Giorgio de Chirico und Alberto Savinio in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf.

Schließlich Bücher: Amin Maaloufs Roman "Die Reisen des Herrn Baldassare". Und im Literaturteil u.a.: Thomas Meineckes neuer Roman "Hellblau", Chalmers Johnsons prophetische Studie über die Folgen imperialer Politik ("Blowback") sowie "Was ist Kultur?" von Terry Eagleton (siehe unsere Bücherschau Sonntag um 11).

In der SZ am Wochenende berichtet Thomas Urban über polnische Zwangsarbeiterinnen, die noch immer auf eine Entschädigung warten, Michael Frank schreibt über ein durchatmendes Österreich im Schoße der EU, Dirk Stroschein über die vor 200 Jahren ins Leben gerufene Jacobson-Schule und das Reformjudentum, Kurt Oesterle gedenkt Johann Peter Hebels, der vor 175 Jahren starb. Und dank Gerhard Waldherr hat nun auch die SZ ihr New Yorker Tagebuch, und was für eins: "Wir gehen zu Chez Josephine, bestellen Lobster und Boudin, die gratinierten Blue-Point-Austern auf Fenchel sind vorzüglich. Man mutmaßt, wie der Krieg aussehen wird ..."