Magazinrundschau

Löwinnen, Schildmaiden und Walküren

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
15.08.2017. Die Europäer liegen am Strand, während die Amerikaner interessante Magazine machen. Beides ist schön. In Atlantic erzählt Kurt Andersen, wie die akademische Linke der Rechten die Munition für einen Kampf lieferte, der im Wahlsieg Trumps gipfelte. Harper's erzählt die Geschichte der weiblichen Seite von Rechts. Das New York Magazine untersucht den neuen Kulturstalinismus. Und Vanity Fair macht Wuuhuu!

The Atlantic (USA), 01.09.2017

Dies ist sicherlich einer der großartigsten Texte des Jahres. Und wenn das Bedürfnis, nochmal ganz neu über ein Land nachzudenken, das einen wie Donald Trump zum Präsidenten macht, weithin riesig ist, dann ist es auch ein Trost, dass dies nirgends besser geschieht als in Amerika selbst! Kurt Andersens "How America Lost Its Mind" ist ein Vorabdruck. Der Titel ist ernst gemeint und wörtlich zu verstehen: Das Bedürfnis, an Verschwörungen zu glauben, ist seit den gloriosen Sechzigern immer weiter gewachsen. Schuld ist auch die akademische Linke, die Andersen keineswegs ausspart, von Foucault über Feyerabend bis Baudrillard (alles keine Amerikaner, by the way). Das "Anything Goes" des Postmodernismus wurde von rechten Hass-Szenaristen begierig aufgegriffen: Wenn Wahrheit ein Konstrukt ist, dann lasst sie uns konstruieren. Auch wenn die Rechte am Ende erfolgreicher war als die modische Linke mit ihrem Relativismus - eben weil sie es fertig brachte, Verschwörungstheoretiker ins Präsidentenamt zu bringen - die beiden bedingen einander: Seit den Sechzigern hatte die Rechte zwar "stets die Verbreitung des Relativismus angeprangert, die Idee, dass nichts wahrer ist als irgendetwas anderes. Die Konservativen hassten natürlich, wie der Relativismus einige ehrwürdige und komfortabe herrschende Ideen unterminierte - Begriffe von natürlicher Bestimmung (die etwa auf Geschlecht und Hautfarbe beruhten) und ästhetischer Schönheit und moralischer Gewissheit. Aber sobald der Mainstream einmal akzeptiert hatte, dass es viele gleichermaßen gültige Realitäten und Wahrheiten gibt, konnte jedwede Barbarei darauf pochen, ernstgenommen zu werden. Konservative kritisierten zurecht, dass der Relativismus auf dem College-Campus nicht gestoppt wurde, aber als er sich über ganz Amerika verbreitete, trug er dazu bei, extreme christliche und andere Ideologien möglich zu machen, inklusive Waffenhysterie, Black-Helicopter-Wahn, Klimaleugnung und mehr."

Ebenfalls lesenswert: Der Text des ehemaligen New-Republic-Chefredakteurs Franklin Foer über seine Zusammenarbeit mit dem Facebook-Mitbegründer Chris Hughes, der die ehrwürdige Zeitschrift 2012 gekauft hatte und zunächst mit großem Enthusiasmus an die Erneuerung des Instituts ging, bis er sie als datengläubiger Techniknerd zu Tode modernisierte. Eines Tages tauchte er mit einigen Softwaringenieuren und Internetgurus in der Redaktion auf: "Sie sollten unserem Journalismus die coolen Features geben, die ihn auf dem Marktplatz herausragen lassen würden. Das kostete natürlich Geld, und dieses Geld sollte aus dem Budget kommen, mit dem bislang die großen Dossiers bezahlt wurden. Wir waren jetzt eine Tech-Firma, sagte er mir (er leugnet, dies gesagt zu haben). Und ich antwortete: 'Das klingt nicht wie die Art Firma, für deren Leitung ich qualifiziert wäre.' Doch doch, versicherte er. Zwei Monate später erfuhr ich von einem Kollegen, dass Chris meinen Nachfolger schon eingestellt hatte und dass der Nachfolger in New York Mittagessen abhielt, bei denen er Jobs bei der New Republic anbot." Foer und viele Kollegen kündigten - die New Republic ist seitdem ein Schatten ihrer selbst. Hughes ist ausgestiegen.

In diesem Zusammenhang könnte man noch auf Jeff Jarvis' Artikel in Medium verweisen - der New Yorker Journalismus-Professor will immer noch neue Geschäftsmodelle für den Journalismus finden - und hofft, neue Communities definieren zu können, die ihm diesen Journalismus abkaufen.
Archiv: The Atlantic

Harper's Magazine (USA), 01.09.2017

"Löwinnen, Schildmaiden und Walküren haben ihren Männern schon immer geholfen, ihre Kämpfe auszutragen", sagt Lana Lokteff, eine der Protagonistinnen der Alt-Right-Bewegung in Seyward Darbys ausführlichem Artikel über die weibliche Seite von Rechts. Nach Charlotteville dürfte auch dieser Aspekt dieses Milieus, das Donald Trump jetzt noch stärker unterstützen wird, von Interesse sein. Darby porträtiert einige der weiblichen Hauptfiguren der Szene. Hauptsächlich geht es um Lokteff, eine schwedische Alt-Right Bloggerin, die einen YouTube-Kanal und die Plattform Red Ice News betreibt. Obwohl selbst politisch aktiv, sind die Frauen wie auch die Männer in der Bewegung der Ansicht, dass die weibliche Unabhängigkeit für den "Untergang der westlichen Welt" verantwortlich sei, daher sehen sie sich als unterstützende Flanke ihrer Männer. "Die Alt-Right-Bewegung gilt als eine Bewegung, die größtenteils aus jungen weißen Männern besteht, Lokteff versucht, auch Frauen für die Bewegung zu gewinnen", schreibt Darby, und schildert eine Szene, die sie bei einem Votrag Lokteffs erlebt hat: "'Es waren Frauen, die Trump gewählt haben', sagt sie, 'und ich vermute, provokant, es waren auch Frauen, die Hitler an die Macht gebracht haben.' Das Publikum schreit und applaudiert begeistert."

New Yorker (USA), 21.08.2017

Für die aktuelle Ausgabe des New Yorker besucht Raffi Khatchadourian Julian Assange in seinem Schuhkarton in der ecuadorianischen Botschaft, von wo aus er es den Mächtigen der Welt weiterhin schwer macht. Ob Assange nun ein Held oder ein gefallener Mann ist, lässt sich schwer entscheiden, meint der Reporter: "Es kommt darauf an, als was man ihn zu Beginn gesehen hat. Böse Zungen behaupten, er sei ein Krimineller oder ein Irrer. Seine Unterstützer dagegen halten ihn für einen tadellosen Revolutionär. Es gab Aufrufe, ihn zu ermorden und solche, ihm den Friedensnobelpreis zu verleihen. Er selbst beschreibt sich in einfachen Worten als furchtlosen Aktivisten, doch sein Charakter ist kompliziert und nur schwer in Einklang zu bringen mit seiner beträchtlichen Macht. Er ist nicht der Typ, der Socken mit Löchern trägt, sondern der Typ, der Socken mit Löchern trägt und jeden mit Zorn überschüttet, der das in der Öffentlichkeit erwähnt. Er kann misstrauisch bis zur Paranoia sein, aber auch vollkommen offen. Er neigt dazu, menschliches Verhalten als Eigeninteresse zu sehen, angetrieben von einem Nietzeanischen Willen zur Macht, doch zugleich führt er eine Organisation, die auf der Idee fußt, dass Individuen selbstlos mutig sein können. Er ist ein Sucher harter, objektiver Wahrheiten, der oft unfähig zu sein scheint, über den eigenen Tellerrand hinauszusehen. Er kann schnell sein, taktisch beeindruckend und dann wieder blind auf lange Sicht."

Außerdem: Adam Davidson erkundet Trumps Auslandsgeschäfte. Dana Goodyear berichtet über die neue, viel schönere Erdbeere. Nathan Heller denkt über den Sinn von Demonstrationen nach. Mit Markus Hinterhäuser als neuem Direktor bekommen die Salzburger Festspiele frischen Wind, freut sich Alex Ross. Amanda Petrusich stellt das neue Album von Adam Granduciels Rockband "The War on Drugs" vor. Anthony Lane sah im Kino "Good Time" von den Safdie-Brüdern und Bertrand Bonellos "Nocturama". Garth Greenwell schickt eine Kurzgeschichte: "An Evening Out".
Archiv: New Yorker

Magyar Narancs (Ungarn), 13.08.2017

Nach einigen Jahren Abwesenheit und einem Essayband meldete sich der Schriftsteller, Dichter und Literaturwissenschaftler Gábor Schein mit einem Gedichtband zurück, in dem er auch seine Krebserkrankung thematisiert, mit der er in den letzten zwei Jahren zu kämpfen hatte. In einem langen Interview spricht er über seine Krankheit, über die Rolle der Kritiker und über die Rolle der Literatur in der ungarischen Gesellschaft nach der Wende: "Die Gesellschaft dachte in den 90er Jahren zu wenig über ihre Erwartungen an die Literatur nach. Sie interessierte sich nicht für die emanzipatorische Rolle der Literatur. Gleichzeitig waren die Schriftsteller und die Redakteure nicht wirklich neugierig, was im Lande passierte, vom Ausland gar nicht zu reden. Eine seltsame Tatsache ist, dass die Nachwendezeit überhaupt kein Interesse an ausländischen, regionalen oder entfernteren Literaturen mit sich brachte. Die ungarische Literatur wurde noch isolierter und die schädlichen Auswirkungen werden ebenfalls erst heute spürbar. Anfang der 90er war die Übersetzung noch ein elementarer Bestandteil einer beginnenden Dichterlaufbahn, heute ist das überhaupt nicht mehr so."
Archiv: Magyar Narancs

Vanity Fair (USA), 09.08.2017

Vorab: Ohrwurm gefällig? Sagen Sie nicht, wir hätten Sie nicht gewarnt:



Anlässlich der (zumindest von jener Generation, die in den späten 80ern und frühen 90ern als primäre Zielgruppe vor den Fernsehern saß) mit Spannung erwarteten Neuauflage der Disney-Cartoonserie "Duck Tales" befasst sich Darryn King mit Entstehung und Erfolgsgeschichte des Titelsongs aus dem Original von 1987. Der "Woohoo"-Song hat sich jedenfalls weltweit tief in die Synapsen des akustischen Gedächtnis eingebrannt und ist in der Youtube-Kultur zum vielfach zitierten, modifzierten, gewürdigten und parodierten Mem geworden. Komponist Mark Mueller "staunt immer wieder darüber, wie weitverbreitet seine Arbeit ist. 'Wenn die Leute erfahren, was für einem Beruf ich nachgehe, fragen sie mich immer, ob sie einen meiner Songs kennen. Manchmal ist es so, dass sie meine Pophits nicht kennen.' (Mueller war beispielsweise an Jennifer Paiges Nummer-Eins-Hit "Crush" aus dem Jahr 1998 beteiligt) 'Aber es spielt fast keine Rolle, wohin ich gehe: Die Leute kennen Duck Tales. Die Reichweite ist völlig unfassbar.' Jeff Pescetto, der Sänger des Stücks, sagt: 'Gerade erst vor kurzem spielte ich mit meiner Band in einem Club. Ein paar Typen aus England traten an mich heran und meinten, wir haben deine Stimme gehört und es war uns sofort klar, dass du der Typ bist, der 'Duck Tales' singt. Die waren völlig aufgeregt, mich zu treffen. Ich konnte es nicht glauben, dass sie meine Stimme erkannt haben.' 'Duck Tales' lief in mehr als 100 Ländern in 25 verschiedenen Sprachen. Es war die erste amerikanische Cartoonserie, die nach Ende des Kalten Kriegs in der Sowjetunion lief. In Ungarn bezeichnet man diejenigen, die in den früheren bis mittleren Achtzigern geboren wurden, als 'Duck-Tales-Generation' (Kacsamesék generáció)."

Für das auf dem Disney-Bezahlsender XD ausgestrahlte Re-Boot hat man den Song neu eingespielt:


Archiv: Vanity Fair

New York Review of Books (USA), 17.08.2017

Marcel Ophüls Dokumentation über die Nürnberger Prozesse "The Memory of Justice" wurde 1975 in Cannes gezeigt, kurz und heftig angefeindet und dann in die Archive abgeschoben. Nun zeigt HBO die restaurierte vierstündige Fassung, und Ian Buruma ist völlig fasziniert. Ophüls setze keineswegs die Verbrechen der Nazis mit denen der Amerikaner in Vietnam oder der Franzosen in Algerien gleich, betont Buruma, sondern zeige, dass Verbrechen nicht von hässlichen Ungeheuern begangen werden: "Das vielleicht verstörendste Interview in dem Film führt Ophüls nicht mit einem reuelosen Kriegsverbrecher, sondern mit dem geschätzten Anwalt Otto Kranzbühler. Während des Krieges war er Marinerichter, bei den Nürnberger Prozessen verteidigte er Admiral Dönitz und war in seiner Marineuniform eine schneidige Figur. Später machte eine erfolgreiche Karriere als Firmenanwalt und verteidigte unter anderem Alfred Krupp gegen den Vorwurf, er habe von Sklavenarbeit profitiert. Kranzbühler rechtfertigte niemals den Nationalsozialismus. Als er aber von Ophüls gefragt wird, wie er seinen Kindern die eigene Rolle im Dritten Reich erkläre, zitiert er die Formel, zu der er immer greife: 'Wer nicht Bescheid wusste , war ein Dummkopf; wer Bescheid wusste, aber wegsah, war ein Feigling; wer Bescheid wusste und mitmachte, war ein Verbrecher.' Ob das seine Kinder beruhigt hätte? Kranzbühler: 'Meine Kinder erkannten ihren Vater in keiner diesen Kategorien.' Eine brillante Ausflucht." Mithalten kann da höchstens Edgar Faure, der Frankreichs Ankläger in Nürnberg war und später als Premierminister über die Verbrechen in Algerien meinte: "Die Dinge gerieten ein wenig außer Kontrolle. Aber man kann Politiker nicht kritisieren, die mit der schwierigen Aufgabe betraut sind, eine Regierung zu führen." Ophüls Film findet man auf Deutsch auf Youtube: Teil 1, Teil 2.

Kann gut sein, dass die Wohnungsnot in New York schon die Kriterien für eine humanitäre Krise erfüllt, bemerkt Michael Greenberg. Über sechzigtausend Einwohner sind in New York bereits wohnungslos, oft Familien mit Kindern. Trotz weitgehender Mieterrechte, trotz Bestandsschutz und Preisbremse kommt die Stadt nicht gegen die Spekulationen der Investmentfonds an: "Ein Gebäude in Crown Heights mit hundert preisgebundenen Wohnungen und Mieteinnahmen von 1,2 Millionen Dollar im Jahr kann heute für 40 Millionen Dollar verkauft werden - aber damit sich die Investition lohnt, müssen alle Mieter raus. Die Käufer sind meist Private Equity Fonds, die einen begrenzten Pool von Investorengeldern managen: Ein Fonds, der in Central Brooklyn Geschäfte macht, beschreibt sich selbst als Vermögensbeteiligungsfirma, die sich in der Neupositionierung  von Mehrfamilienhäusern spezialisiert habe. Der aggressive Eintritt von hyperkapitalisierten Investoren auf dem Markt für die untere Mittelklasse hat nicht nur Central Brooklyn erreicht, sondern auch - wie ein Donnerschlag - die South Bronx, East Harlem, Washington Heights und jede andere Nachbarschaft mit Bestandsschutz. In den äußeren Bezirken gibt es damit einen neuen Eigentümertypus , der sich langwierige, rücksichtslose Räumungsverfahren und Mieterrauskauf leisten kann, wie es den früheren, meist individuellen Besitzern nicht möglich war."

Weiteres: Lang, aber ungeheuer gewinnbringend findet John Banville Rainer Stachs nun auch komplett auf Englisch vorliegende 3-teilige Kafka-Biografie. Lorrie Moore huldigt den Liedern Stephen Stills. Und Jessica Mathews fragt, warum sich Donald Trump jetzt doch auf Nordkorea statt auf den Iran einschießt.

Wired (USA), 09.08.2017

Wie proprietäre, kommerzielle Software- und Datenlösungen den öffentlichen Dienst in die Bredouille bringen können, zeigt das Beispiel Palantir sehr schön: Die Firma bietet Soft- und Hardwarelösung für Polizei und Militär, erfahren wir von Mark Harris. Dazu werden diverse Datenbanken gebündelt und deren Bestände mit immer wieder neuen Tools ausgewertet, was gezieltere Polizeiarbeit ermöglichen soll. Klingt vor allem aus Perspektive der Behörden verlockend, zieht aber einen ganzen Rattenschwanz an Problemen nach sich: Erstens, hohe Kosten. Zweitens, je mehr Institutionen ihre Datensätze per Teilnahme am Programm zur Verfügung stellen, umso attraktiver wird  zwar das Angebot, was jedoch zu drittens führt: Wer aus dem Programm aussteigt, hat keinen Zugriff mehr auf diese Daten. Aber auch ein weiteres zentrales Problem tut sich auf: "Es besteht das Risiko, dass neue Technologien alte Vorurteile kodifizieren. 'Jahrhundertelang waren Minderheiten bei Verhaftungen und anderen Aspekten der Justizarbeit stark überrepräsentiert', sagt Adam Schwartz von der Electronic Frontier Foundation. 'Nutzt man Verhaftungen, Gerichtsurteile oder Feldinterviews als Ausgangsdaten, dann erhält man Prognosen, die quer zur Realität stehen. Sie haben den Anschein objektiver Computerwahrheit, verfestigen aber lediglich alte Schieflagen zwischen den Ethnien.'"

Außerdem: Nicholas Thompson schreibt über die Pläne von Kevin Systrom, dem Geschäftsführer von Instagram, das Internet wieder schön und schnuckelig zu machen. Issie Lapowsky fragt sich, warum die Social-Media-Konzerne Rassisten und Antisemiten nicht einfach den Stecker ziehen. Und Brian Barrett begeistert sich für die Smart-Home-Lösungen eines beliebten skandinavischen Möbelhauses.
Archiv: Wired

New York Magazine (USA), 07.08.2017

Die gute Nachricht: Junge Leute sind wahre Lesenratten. Die schlechte Nachricht: Im Netz gerieren sie sich mitunter als wahre Kulturstalinisten, wenn ein Buch nicht auf Linie ist mit dem, was Rädelsführer als ideologisch passabel einstufen. Dieses Fazit könnte man jedenfalls Kat Rosenfields Reportage entnehmen, die sich auf Twitter, in Buchblogs und anderen Online-Zirkeln umgesehen hat. Aktuelles Beispiel: Laurie Forests Fantasyroman "The Black Witch", der davon handelt, dass ein junges Mädchen in einer engstirnig-rassistischen Gesellschaft aufwächst, deren Begrenzungen sie allerdings durchschaut und sich schließlich davon emanzipiert. Die gute Vorabpresse des Buchs wich rasch einer Empörungswelle, als eine reichweitenstarke Tugendwächterin die Schilderungen einer rassistischen Gesellschaft der Autorin als affirmative Aussage unterstellte und mit einer hyperventilierenden Vorab-Besprechung einen Shitstorm anzettelte. Klar, dass so ein neuer Konformismus entsteht: "Die Schriftsteller sind sich der Tatsache dieser Diskurskultur vollauf bewusst und maßschneidern ihre Onlinepräsenz dementsprechend - und in einigen Fällen auch ihre Arbeiten. Eine Autorin von New-York-Times-Bestsellern sagte mir: 'Ich habe Angst. Ich habe Angst um meine Karriere. Ich habe Angst, Leuten auf die Füße zu treten, denen ich überhaupt nicht auf die Füße treten will. Ich fühle mich einfach unsicher dabei, mich nennenswert auf Twitter zu äußern. Also lasse ich das.' Auch brach sie die Arbeit an einem neuen Roman ab, in dem eine Person of Color auftreten sollte, und verwies auf eine Einschätzung, die im Verlagswesen viele Insider teilen: Es ist den unvermeidbaren Backlash einfach nicht wert, als weißer Autor außerhalb der Vorgaben der eigenen Identität zu schreiben. 'Man legte mir nahe, darüber lieber nicht zu schreiben', sagt sie. 'Man sagte mir: Erspar Dir das einfach.'"

New York Times (USA), 13.08.2017

Im aktuellen New York Times Magazine begegnet Ruth Franklin den weiblichen Helden in den Romanen der amerikanischen Schriftstellerin Claire Messud und entdeckt ein literarisches Tabu: "Messuds Bücher haben weniger Öffentlichkeit bekommen als vergleichbare Romane von Jonathan Franzen, Jennifer Egan, Donna Tartt oder Colson Whitehead. Der Grund ist vielleicht die Beschäftigung mit eher unsichtbaren Geschichten, denjenigen unorthodoxer Frauen und ihrer Beziehungen untereinander, als Töchter, Schwestern, beste Freundinnen. Lange vor Elena Ferrantes Erfolg mit der Geschichte der komplexen, lebenslangen Freundschaft zweier Frauen, hat Messud dergleichen schon mit ungewöhnlicher Intensität erzählt und weibliches Innenleben zum Objekt ernsthafter Betrachtung gemacht … Das literarische Tabu betreffend Frauen mit 'ungehörigen' Gefühlen ist nur ein Teil des Problems, das Autorinnen und Leserinnen lange beschäftigt: ein männlich dominierter literarischer Kanon, der nur eine beschränkte Sicht auf die Frau gestattet. Schon vor 90 Jahren wies Virginia Woolf darauf hin, dass Frauen in der Literatur fast ausschließlich in ihrer Beziehung zu Männern gezeigt werden. Und wenn sie in Beziehung zu anderen Frauen auftreten, so Woolf weiter, dann nur in vereinfachter Weise."

Anlässlich einer fatal missglückten Initiation des Amerikaners Michael Deng in eine Bruderschaft seiner Universität, die mit dem Tod Dengs endete, berichtet Jay Caspian Kang von der tödlichen Suche nach asiatisch-amerikanischer Identität. Anders als Afroamerikaner, die das Erbe der Sklaverei verbindet, ist "Asian Americans" für Kang nur ein leerer Begriff. "Michael Deng und seine Brüder in der Verbindung kamen aus chinesischen Familien und waren in Queens aufgewachsen. Sie haben nichts mit mir gemeinsam - als jemand, der in Korea geboren wurde und in Boston und North Carolina aufwuchs. Wir teilen einige Stereotype - Tigermütter, Musikstunden und den unhinterfragten Marsch zum Erfolg, wie immer der definiert ist. Meine koreanische Erziehung, stellte ich fest, hat mehr gemein mit der von Kindern jüdischer oder westafrikanischer Immigranten als mit der von Chinesen oder Japanern in den Vereinigten Staaten, mit denen ich nur die Angst teile, dass wenn ich gegen die Wand gedrängt werde, es dem anderen neben mir höchstwahrscheinlich ebenso ergeht." Dass das Konzept "asiatisch-amerikanisch" existiert und Konsequenzen hat, wurde den meisten Amerikanern erst bewusst, als der chinesischstämmige Amerikaner Vincent Chin 1982 von Weißen erschlagen wurde, die japanische Importe für den Niedergang der amerikanischen Autoindustrie verantwortlich machten.

Außerdem: Caelainn Hogan erzählt von der schwierigen Situation krebskranker syrischer Kinder und ihrer Familien in einem Land im Krieg.
Archiv: New York Times