Magazinrundschau

Rückeroberung der Wirklichkeit

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag Mittag
23.12.2014. The Nation feiert Polens junge Intelligenzija. Die New York Review of Books staunt, dass in New York selbst schwarze Schüler Angst vor der Polizei haben. Les inrockuptibles schildert den Kampf des algerischen Autors Kamel Daoud gegen die Ideologie der 'Arabité'. Grantland hebt eine Augenbraue angesichts der stalinistischen Planwirtschaft Hollywoods. Bloomberg Businessweek besucht die neuen afghanischen Millionäre. Wired beschreibt die allerneusten Nachrichten-Apps.

The Nation (USA), 05.01.2015

Der Historiker Piotr H. Kosicki feiert Polens junge Intelligenzija, die der polnischen Geschichte ein besseres Denkmal setzt als all die neuen historischen Museen, die an die Solidarność oder den Warschauer Aufstand erinnern. Und die sich besonders in den neuen Zeitschriften findet: "Krytyka Polityczna stellt den Versuch dar, das Erbe der alten Dissidenten so gut wie möglich zu bewahren, und zugleich nationale polnische Traditionen mit sozialer Gerechtigkeit zu verbinden - ohne Fremdenfeindlichkeit, Klerikalismus und politischen Illiberalismus. Das Programm der Krytyka Polityczna unterstreicht die Schwierigkeit, über sprachliche und kulturelle Grenzen hinweg uniforme politische Begriffe wie Links und Rechts anzuwenden. In Polen muss "links" nicht Antinationalismus implizieren, während "rechts" nicht das Eintreten für soziale Gerechtigkeit ausschließt. Ganz im Gegenteil: Links und Rechts konkurrieren in ihrem wohlfahrtsstaatlichen Engagement. Ebenso faszinierend ist die Nähe der jungen Aktivisten von Krytyka Polityczna und Polens zu den selbsterklärten jungen Liberalen um die Zeitschrift Kultura Liberalna."

Tim Weiner macht für die Folterpraktiken der CIA vor allem den Kongress verantwortlich, der sich mit dem 11. September von allen Kontrollaufgaben verabschiedet hat: "Der Präsident war ein Schurke, und der Kongress hat nicht den Mut aufgebracht, ihn für die geheimen Operationen zu verurteilen, nicht einmal für die eindeutig illegalen. Es war nicht so, dass CIA-Beamte in Afghanistan am Lagerfeuer saßen und einer sagte: "Hey, ich habe eine prima Idee. Lasst uns die Jungs foltern!" Nein, das waren der Präsident, der Vizepräsident, ihre Anwälte und die smarten CIA-Chefs, die - allzeitbereit! - ihre Befehle ausführten."
Archiv: The Nation

El Espectador (Kolumbien), 20.12.2014

Héctor Abad freut sich, dass zwischen den USA und Kuba nach 55 Jahren endlich der Kalte Krieg von der Diplomatie abgelöst wird. Und erinnert sich mit Grausen daran, dass auch bei der großen Kubakrise 1962 viele gegen eine diplomatische Lösung waren: "Nicht nur die Hardliner in der US-Armee und die republikanische Rechte wollten damals Krieg; auch Fidel Castro war dafür, und so forderte er von der Sowjetunion, man solle ihn im Falle einer Invasion persönlich diese Raketen steuern lassen, um die USA anzugreifen. Als Nikita Chruschtschow schließlich beschloss, die Atomraketen nach Russland zurückbringen zu lassen, ließ Fidel Castro auf den Straßen Sprechchöre verkünden: "Nikita mariquita (Schwuchtel)". Und Che Guevara, offensichtlich im vollkommenen Wahn, schrieb: "Wir erleben das erschütternde Beispiel eines Volkes, das bereit ist, sich atomar zu opfern, damit seine Asche die Grundlage für eine neue Gesellschaft bildet, und das, als man, ohne es zu fragen, vereinbart, die Atomraketen abzuziehen, keineswegs erleichtert aufseufzt oder für den Waffenstillstand dankbar ist...""
Archiv: El Espectador

New York Review of Books (USA), 08.01.2015

Michael Greenberg beschreibt, wie die New Yorker sich allmählich darüber klar werden, dass die Polizisten ihrer Weltmetropole offenbar genauso ungestraft Schwarze töten dürfen wie Polizisten im ökomomisch und politisch depravierten Ferguson in Missouri. Andererseits hatten einige das schon immer geahnt, wie Greenberg an einer Schule in Brooklyn erfuhr: "Schwarze Schüler sprachen von ihrer lebenslangen Angst vor der Polizei, und davon, wie ihre Eltern ihnen als eine Angelegenheit von Leben und Tod beibrachten, die Hände aus den Hosentaschen zu nehmen, wenn sich ihnen ein Polizist nähert, "Ja, Sir" und "Nein, Sir" zu sagen, und unter allen Umstanden abrupte Bewegungen zu vermeiden."

Darryl Pinckey porträtiert die Führer der Protestbewegung in Ferguson, die noch immer gegen Rassismus und Polizeigewalt auf die Straße gehen, darunter den charismatischen Baptisten Reverend Osagyefo Sekou: "In Sekous Augen haben die Schwarzen zu viel politisches Kapital auf Wahlen verschwendet. Wahlen sind Thermometer, soziale Bewegungen Thermostate, sagt er in Anlehnung an Martin Luther King. Sie setzten die Agenda, die Wahlen messen sie nur."

Weiteres: Marcia Angell lernt aus Atul Gawandes Buch "Being Mortal", dass die die Medizin die wenigsten Atworten auf Fragen zum Altern und Sterben hat. James Romm besucht eine Ausstellung zur assyrischen Antike im Metropolitan Museum.

Les inrockuptibles (Frankreich), 18.12.2014

Der Ruf des algerischen Autors Kamel Daoud ist schon bis Deutschland gedrungen. Sein Roman "Meursault contre-enquête" (Leseprobe als pdf-Dokument) machte als Fortschreibung von Albert Camus" "Der Fremde" von sich reden und war für den Prix Goncourt nominiert (hoffentlich erscheint er demnächst auch auf Deutsch). Mathieu Dejean schreibt in den Inrockuptibles ein bewunderndes Porträt Daouds, der zunächst durch seine Kolumne im Quotitdien d"Oran bekannt wurde. Dort machte er sich bei der algerischen Regierung so verhasst, dass sie keine offiziellen Anzeigen in dieser Zeitung mehr schaltete. Ein islamistischer Imam erließ gar eine Fatwa gegen ihn: "Der Journalist sprengt alle Schlösser der algerischen Gesellschaft. Natürlich hat er sich Feinde gemacht, aber er steht zu dieser provokativen Seite, wie er jüngst in der französischen Talkshow "On n"est pas couché" bestätigte. Er schreibt gegen die Ideologie der "Arabité" - er betrachtet sich als Algerier, Punkt - gegen die selektive Empörung seiner Landsleute, wenn es um Palästina geht, gegen diese "alte Reliquie, die seit zehn Jahrhunderten nicht refomiert wurde", wie er die Religion in Le Point nannte."

Hier sein Auftritt in der leicht nervigen, aber maßgeblichen Sendung "On n"est pas couché":


Grantland (USA), 16.12.2014

Einst Teil des Filmgeschäfts, stellen Blockbuster heutzutage das Filmgeschäft per se dar, schreibt Mark Harris in einem sehr lesenswerten Hintergrundartikel. Die fast schon nach stalinistischer Planwirtschaft riechenden Ankündigungen der großen Studios, bis 2020 fast ausschließlich Sequels bestens etablierter Franchises und Comicverfilmungen zu produzieren, stellen nicht nur ein filmhistorisches Unikum dar, sondern markieren seiner Ansicht nach auch eine Zeitenwende: Aus dem Versuch, Publikumsgeschmäcker auf Jahre hin zu zementieren, spricht für ihn die blanke Angst vor dem eigenen Untergang. "Es handelt sich dabei um einen Schutzwall, der ausschließlich mithilfe jener Werkzeuge errichtet wurde, die die Verantwortlichen behaglich finden - Tabellenkalkulationen, Gewinn- und Verlustrechnungen, demografische Studien, Risikovermeidungsstrategien und ein Kalender. Aus diesen Auflistungen spricht keinerlei ersichtliche Liebe für Filme, geschweige denn eine Freude am kreativen Risiko. Lediglich Furcht davor, zu verlieren. ... Geschmeidigkeit sollte man doch für eine Tugend halten, nicht wahr? Die Fähigkeit, sich den Zeiten anzupassen und sich nicht darauf zu versteifen, dass man die sich wandelnden Vorlieben des eigenen Zielpublikums für etwas hält, was es zu verhindern oder zu überrollen gilt, sollte eigentlich für ein lebendiges und überraschendes Angebot sorgen. So war das immer. Doch diese Sorte kultureller Anpassungsfähigkeit ist etwas, was die Fädenzieher der gegenwärtigen Filmkultur aktiv vermeiden wollen."

Im New Yorker antwortet Richard Brody auf Harris" Kritik und streicht dabei heraus: "Kritiker und Journalisten machen häufig den für die eigene Sache zwar dienlichen, sich dabei aber auch selbst belügenden Fehler, im wesentlichen nur über jene Filme zu schreiben, die das größte Publikum erreichen (oder dies wahrscheinlich tun werden oder nur zu diesem Zweck gestaltet sind), in der Annahme, damit auch ihre eigene Popularität und Relevanz zu sichern. ... Filme sind heute wilder, kühner, origineller als jemals zuvor."
Archiv: Grantland

Elet es Irodalom (Ungarn), 19.12.2014

Der Publizist Gábor Gadó sieht in den zahlreichen regierungskritischen Demonstrationen der vergangenen Wochen auch eine "Rückeroberung der Wirklichkeit": "Als im Herbst die Pläne für die Internetsteuer die Menschen auf die Straße brachten, ähnelten die Institutionen des Rechtsstaates - wie Patienten auf einer Abteilung für chronisch Kranke - kaum mehr ihrem früheren Selbst. Mit gutem Grund befürchtet Regierung angesicht der Demonstrationen, dass ihre Kommunikationsstrategie, die bislang erfolgreich eine ganz eigene Wirklichkeit schuf, zusammenbrechen wird, wenn viele tausend in die Welt rufen, dass eine "Workfare-society" in den Hunger, die "illiberale Demokratie" in die Sklaverei, die für den Staat gesicherten Privilegien in den Machtverderb und Korruption führen. Der Ministerpräsident hat in diesem Herbst wahrscheinlich verstanden, dass er mit seinem Angriff auf die Zivilgesellschaft und ihre Organisationen zu spät kam, denn die Empörung ist heute größer als die Angst."

Auch die anderen ungarischen Magazine befassen sich mit den Demonstrationen. In Népszabadság gibt es ein Interview mit der jungen Aktivistin Emma Krasznahorkai, in Magyar Narancs ein weiteres mit Zsolt Várady, dem Gründer der Website iwiw.hu, der sich für eine gerechtere Steuerpolitik einsetzt.

Wired (USA), 17.12.2014

Mit Buzzfeed, News-Apps wie Circa oder dem Portal First Look ist der traditionelle Kampf der Nachrichtenbranche um die Aufmerksamkeit des Publikums in eine neue Eskalationsphase getreten, erklärt Mat Honan. Die Strategien der Startups fallen dabei denkbar unterschiedlich aus: Geschwindigkeit, Shareability oder persönliche Bindung durch profilierte Autoren sind jeweils entscheidende Faktoren im Kampf darum, welche App sich auf welchen Geräten am längsten hält und am meisten genutzt wird. Dabei gilt es eine sorgfältige Balance zu halten, um zu verhindern, dass die Nutzer die App löschen, weil sie nervt. "Bei Circa dreht sich alles um die Geschwindigkeit auf mobilen Endgeräten - sowohl hinsichtlich der Zeit, die es zum Lesen einer Story braucht, als auch, wie lange es dauert, eine Story online zu kriegen und sie viral gehen zu lassen. Statt ausformulierter Artikel - und in Circas Welt gelten schon sieben Absätze als lang - veröffentlicht Circa etwas, was die Leute dahinter Punkte nennen: Faktenkracher, die so geschrieben sind, dass sie unabhängig von dem funktionieren, was davor oder danach kommt, und auf Grundlage dessen, was jemand zuvor gelesen hat, neu arrangiert werden können. ... Das bedeutet, dass Circa im Gegensatz zu anderen Nachrichtenfirmen nicht erst veröffentlichen, wenn sie die ganze Story haben. Sie schicken einfach raus, was sie schon haben, und ergänzen es später mit weiteren Informationen."

Außerdem: Der sagenhafte Erfolg des "Serial"-Podcasts, der in zwölf, im Stil einer TV-Serie veröffentlichten Episoden journalistisch über einen realen Mordfall berichtet, könnte weitreichende Folgen für den Audiojournalismus haben, meint Nathan Mattise. Im hauseigenen Wired-Podcast "Geek"s Guide to the Galaxy"-Podcast unterhält sich Naomi Klein über den Trend zur Dystopie in Literatur und Film und warum sie das besorgniserregend findet. Außerdem fordern Wired-Autoren die Köpfe etablierter Filmregisseure: Hier will Ethan Gilsdorf Peter Jackson ans Leder, an dieser Stelle bittet Jordan Crucchiola Ridley Scott darum, sich künftig doch bitte woanders auszutoben.
Archiv: Wired

Aeon (UK), 12.12.2014

Für den Fall, dass sich die Menschheit nicht durch Kriege oder Klimawandel selbst vernichten sollte, müssen wir damit rechnen, dass eines Tages andere Zivilisationen auf unsere Aufzeichnungen stoßen und versuchen werden, sich einen Reim auf uns zu machen. Grayson Clary berichtet von verschiedenen Projekten, die an dieser Art von Zeitmaschinen arbeiten: an Überlieferungen in die nächsten Jahrtausende. "Es ist eine Frage, die etwa im Zusammenhang mit Atom-Endlagerstätten diskutiert wird: wie kommuniziert man die Nachricht "Hier nicht graben!" über einen großen Zeitraum, an Leute, für die unsere Hinweisschilder unlesbar sind? Manche schlagen vor, groteske Skulpturen zur Abschreckung zu errichten, aber solche Skulpturen könnten auch als Hinweis auf vergrabene Schätze gedeutet werden. 1984 schlugen ein paar Linguisten vor, "Strahlenkatzen" zu installieren, die als Reaktion auf die Radioaktivität leuchteten. Anschließend wollten sie eine Folklore aus Liedern und Sagen erschaffen, die die Ahnung vermittelte, dass leuchtende Katzen Gefahr signalisierten."

Ebenfalls sehr lesenswert ist ein Essay des Historikers Iwan Rhys Morus über viktorianische Zukunftsvorstellungen.
Archiv: Aeon
Stichwörter: Klimawandel, Rhye

Bloomberg Businessweek (USA), 22.12.2014

Das gibt es auch in Afghanistan: neue Millionäre, erzählt in einer Reportage Mujib Mashal am Beispiel des Unternehmers Matiullah Matie: "In den USA werden Kriegskontrakte meist mit Namen wie Blackwater (jetzt Academi), DynCorp International, Triple Canopy und anderen assoziiert. Aber am Boden in Afghanistan hing das Pentagon von einer kleinen Armee lokaler Kräfte ab. Und als hunderte Millionen Dollar amerikanischer Steuerzahler in des Land flossen, schufen sie eine neue Klasse reicher afghanischer Unternehmer. ... Blickt man hinter die Reichen, die durch politischen Einfluss reich wurden, findet man eine viel größere und jüngere Klasse von Nouveaux Riches wie Matie. Sie haben überall im Land Geld verdient, indem sie auf die unmittelbaren Bedürfnisse des amerikanischen Militärs reagierten. Veile waren Übersetzer, die die Löcher in der Versorgungskette des Pentagons sahen und als Auftragnehmer stopften. Andere waren einfach Geschäftsleute, die aus den Spendengelder kassierten, die in alle Sektoren der post-Taliban-Gesellschaft flossen."
Stichwörter: Afghanistan

Telerama (Frankreich), 21.12.2014

Das politische System Frankreichs lässt Antisemitismus nicht passieren, meint der französische Soziologe Michel Wieviorka. Trotz aufblühender Vorurteile, die sich übers Internet verbreiteten, und zunehmender Gewaltakte ist für ihn dennoch der entscheidende Punkt: "Heutzutage verkörpert sich Antisemitismus nicht in einer politischen Macht. Randfiguren wie Alain Soral ou Dieudonné haben in der Gesellschaft zwar ein gewisses Gewicht, doch die Republik wehrt sich. Vor fünfzehn, zwanzig Jahren verhielt der Front National sich in seiner Aufstiegsphase als Vektor dieses Gedankenguts. Heute muss er, um seinen Durchbruch fortzusetzen, diese Auffassungen abwerfen, zumindest offiziell, weil unser politisches System undurchlässig gegenüber Antisemitismus ist. Der Staat, ich wiederhole es noch einmal, bekämpft ihn unerbittlich."
Archiv: Telerama

New York Times (USA), 21.12.2014

Das Magazine bringt einen Vorabdruck aus Nicholas Carlsons Buch "Marissa Mayer and the Fight to Save Yahoo!". Seit 2012 versucht Mayer beim wirtschaftlich stagnierenden Internetdino Yahoo! das Ruder rumzureißen, z. B. mit einer App-Offensive oder neuem Content, wie TV-Serien, bisher ohne Erfolg. Carlson ahnt, wieso: "Erfolgreiche Umstrukturierungen von Technologiekonzernen sind rar. Solche Konzerne entwickeln neue Wege, Dinge zu tun, aber sobald sie wachsen, beschränken sie sich darauf, ihr Geschäftsmodell zu schützen und investieren nicht mehr in neue, das alte über den Haufen werfende Modelle. Also werden sie von neuen Wettbewerbern ausgestochen. Ein Vorgang, der in allen Industriezweigen vorkommt, im Technologiebereich geht nur alles viel schneller - zu schnell, um große Umstrukturierungen zu ermöglichen … In vielerlei Hinsicht ist Yahoos Abstieg von einem 128 Milliarden-Konzern zu einem Niemand vollkommen natürlich."

Außerdem: Wil S. Hylton porträtiert die Schriftstellerin Laura Hillenbrand ("Seabiscuit"). Und Jason Horowitz fragt, ob Hillary Clinton die neue Hoffnung für alle liberalen Zionisten sein könnte.
Archiv: New York Times