Magazinrundschau
Anfeuerungsrede für 15 Muskelprotze
Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
21.09.2010. Der Merkur steht auf dem Kampffeld vor der Kita und denkt über Freiheit nach. Mao war für den Großen Hunger in China selbst verantwortlich, lernt im New Statesman John Gray von dem Historiker Frank Dikötter. In Polityka konstatiert Adam Krzeminski den Niedergang der Geisteswissenschaften. Prospects Michael Coveney erfährt eine Einzelbetreuung im Theater, die sich gewaschen hat. In Eurozine beschreibt der Rechtshistoriker Mikhail Xifaras die Copyleft-Bewegung Richard Stallmans. Der Boston Globe macht sich auf die Suche nach verschollenen Schriftsteller-Bibliotheken.
Merkur (Deutschland), 15.09.2010

Der Sozialstaat macht uns asozial, meint Klaus Hartung: Familiäre Verantwortungen zerfallen, soziopathisches Verhalten (Alkoholismus, Apathie) wird prämiert und die Elitebildung durch einen bildungspolitischen Egalitarismus brutalisiert: "Wir haben keine Klassengesellschaft mehr, sondern den Widerspruch zwischen bildungsbürgerlichen Schichten und bildungsfernen Schichten. Im konkreten Fall, auf dem Kampffeld vor der Kita, in der Schule und am Zugang zur Universität, verhalten sich diese bildungsbürgerlich orientierten Eltern gänzlich asozial, obwohl sie zumeist in ihren Selbstverstaändnis sozial gesinnt sind. Sie wollen ihre Kinder nicht in Klassen mit vielen Ausländerkindern sehen, obwohl sie für die Integration und die multikulturelle Gesellschaft sind. Es hat sich herumgesprochen, wie sehr grüne Eltern diese Schizophrenie praktizieren. Die Absurdität ist nun, dass es gerade diese bildungsbürgerlichen Schichten sind, die einerseits eine sozialorientierte integrierende Bildungspolitik zu tragen haben, die aber um der eigenen Kinder willen das Problem verschärfen, das sie lösen sollen."
Außerdem: Kurt Scheel widmet sich Wilhelm von Humboldts "Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen": "Das Unzeitgemäße der Überlegungen Humboldts erstrahlt in besonderem Glanz in folgendem Zitat: 'Der Staat soll nämlich auf keine Weise für das positive Wohl der Bürger sorgen, daher auch nicht für ihr Leben und ihre Gesundheit.'" Rainer Hank bilanziert den Sozialstaat und seine Dialektik: "Es ist die Tragik des Wohlfahrtsstaates, dass seine marktausgleichenden Korrekturen den Marktmechanismus nicht nur irritieren, sondern auch dessen Wohlfahrtsproduktion dämpfen und damit die Bedingungen, von denen er lebt, untergraben." Wolfgang Kersting ermuntert Liberale, sich nicht von der grassierenden "Gerechtigkeitsrhetorik" beeindrucken zu lassen. "Paternalismus ist der politische Trend des 21. Jahrhunderts", weiß Norbert Bolz. Und Ulrike Ackermann ruft: John Stuart Mill lesen!
(Im Zusammenhang mit dem Thema des Heftes sei noch auf zwei amerikanische Artikel hingewiesen: Angelo M. Codevilla kritisiert im American Spectator die "herrschende Klasse", die durch Erziehung und Ausbildung derart homogen wurde, dass es praktisch keinen Unterschied mehr gibt zwischen Demokraten und Republikanern und die nicht zuletzt der Glaube eint, sie müssten bestimmen, wie die Bürger zu leben haben. Und Kenneth Minogue beschreibt im New Criterion die neue Unterwürfigkeit, die sich daraus ergibt. Man muss mit den Autoren nicht übereinstimmen, aber die Aufsätze eignen sich gut dafür, den eigenen Freiheitsbegriff zu überprüfen.)
New Statesman (UK), 20.09.2010

Polityka (Polen), 17.09.2010

Prospect (UK), 19.08.2010
Michael Coveney hat das "immersive Theater" der Performance-Truppe You Me Bum Bum Train erlebt: 200 Theaterleute, die 1 Zuschauer betreuen! Coveney fand das ganze - anders als andere - nicht nur "trivial", sondern auch "auf niedriger Stufe faschistisch". Wovon er spricht? Davon: "Kürzlich besuchte ich ein verlassenes Elektrizitätswerk in Bethnal Green, East London und gab meine Besitztümer und meine Jacke dabei am Eingang ab. Meine Schuhe wurden mit Klebeband an den Socken befestigt; man setzte mich in einen Rollstuhl; schob mich durch Schwingtüren und schimpfte auf mich ein wegen der schlechten Verfassung einer American-Football-Mannschaft. Zwei Sekunden später war ich in einer Umkleide und hielt eine Anfeuerungsrede für mich finster anblickende fünfzehn Muskelprotze mit Gesichtsbemalung und Footballhelmen. Das war aber nur der Anfang. In den nächsten vierzig Minuten schob man mich rücklings in einen Tunnel für einen MRI-Scan, ich geriet auf dem Weg über ein Sushi-Restaurant und ein Lager für verlorene Gepäckstücke (immer noch auf dem Rücken) unter den Unterboden eines Autos und dann in eine Reparaturwerkstatt, wo ich erklären sollte, warum das Auto noch nicht fertig ist."
Eurozine (Österreich), 16.09.2010

Der bulgarische Kulturanthropologe Ivaylo Ditchev schildert (zuerst für die bulgarische Zeitschrift Kritik und Humanismus) eine Implosion der politischen Macht durch das "permanent feedback syndrome". Damit meint er nicht nur die Kommentarthreads und Foren des Internets, sondern mehr noch Fernsehmodelle permanenter Interaktion, wie sie in Casting Shows praktiziert werden, und das lückenlose Abtasten der öffentlichen Meinung durch Meinungsumfragen. Die Folge: "Der Abstand zwischen Autorität und Publikum, der ein Eckstein ihrer Macht war, schnurrt zusammen. Die ständige Live-Kommunikation zwischen Regierenden und Regierten lässt nicht mehr den geringsten Raum zur Entwicklung von Autorität. Je mehr wir Politiker verdächtigen, unverantwortlich zu agieren, desto weniger Raum lassen wir ihnen, ihre Verantwortung auf sich zu nehmen. Statt dessen erwarten wir eine unmittelbare Antwort auf aktuelle Ängste des Publikums."
London Review of Books (UK), 23.09.2010

Weitere Artikel: James Davidson liest eine Enzyklopädie griechischer Personennamen, informiert dabei nebenbei aber auch über die britische Laissez-Faire-Kultur der Namensgebung, der sich die lange strengen skandinavischen Länder und auch Deutschland nun annähern: "Schwedische Gerichte haben die Vornamen Google, Metallica und Q genehmigt, allerdings nicht Albin in der Schreibweise Brfxxccxxmnpcccclllmmnprxvclmnckssql-bb11116." Im "Tagebuch" denkt Jenny Diski in gewohnt geistreicher Manier über ihre Schwierigkeiten mit Begriffen wie "Glück" und "Aufrichtigkeit" nach. Peter Cambpell besucht die Eedweard-Muybridge-Ausstellung in der Tate Britain. Adam Shatz geht ins Gericht mit einem Atlantic-Artikel, der einen Bombenangriff Israels auf den Iran als unmittelbar bevorstehend schildert. Gesammelt werden noch einmal Stimmen zum Tod des großen britischen Literaturwissenschaftlers und Review-Stammautors Frank Kermode.
Das Magazin (Schweiz), 20.09.2010

Economist (UK), 15.09.2010

Boston Globe (USA), 19.09.2010
Craig Fehrmann untersucht das Schicksal von Privatbibliotheken verstorbener Schriftsteller. Ausgangspunkt seiner Recherche war der Versuch der Fangemeinde des experimentellen Schriftstellers David Markson, dessen nach seinem Tod über New Yorker Buchhandlungen verstreute Bibliothek - rund 2500 Bände - wieder lückenlos zusammenzutragen. "Was die Fans von Markson verblüffte, war die merkwürdig verwirrende Welt von Schriftstellerbibliotheken. Die meisten Leute glauben sicherlich, dass diese von Bedeutung sind, dass es Wissenschaftlern und Lesern wichtig ist zu wissen, welche Bücher Autoren gelesen haben, was sie darüber dachten und was sie hineingekritzelt haben. Doch die bei weitem meisten Privatbibliotheken werden aufgelöst statt bewahrt. Tatsächlich steht David Markson nun auf einer langen repräsentativen Liste von Schriftstellern, deren Bibliotheken zügig aufgeteilt wurden. Herman Melvilles Bücher? Ein Buchladen erwarb für 120 Dollar eine Auswahl und schredderte die theologischen Titel für die Papierpresse ... Und die von Ernest Hemingway? Bis auf den heutigen Tag sitzen alle 9.000 Titel in seiner kubanischen Villa fest."
Außerdem beschreibt Riddhi Shah ein weltweit einzigartiges und äußerst erfolgreiches Alphabetisierungsprogramm eines Städtchens an der indischen Westküste, das mit Musikvideos und Karaoke arbeitet.
Außerdem beschreibt Riddhi Shah ein weltweit einzigartiges und äußerst erfolgreiches Alphabetisierungsprogramm eines Städtchens an der indischen Westküste, das mit Musikvideos und Karaoke arbeitet.
Elet es Irodalom (Ungarn), 17.09.2010

The Nation (USA), 20.09.2010

Weiteres: In der Debatte um den Sexismus der amerikanischen Literaturkritik kann die Autorin Katha Pollitt gewisse Verzerrungen nur bestätigen: "Wenn Männer Bücher über die Familie schreiben - John Updike, Jonathan Franzen - werden diese als Schriften über Amerika und die conditio humana gelesen. Wenn Frauen ambitionierte, politische und engagierte Bücher über die großen Themen der Welt schreiben, werden sie als Geschichten über das Gefühlsleben ihrer Protagonistinnen angesehen." Und Noah Isenberg stellt dem amerikanischen Publikum Ingo Schulze vor.
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