Magazinrundschau

Mit einem Lidschlag gehst du online

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
08.06.2010. Der Gegenwartskunst rasselt der Atem, diagnostiziert Prospect. Der polnischen Buchkultur auch, notiert Res Publica Nowa. Itunes war gestern, ruft der New Yorker. In El Pais Semanal erklärt der Physiker Michio Kaku: das Internet wandert in die Dinge. Die LRB hält fest: das Internet rüttelt nicht an Klassenschranken. In der NYRB bespricht Timothy Snyder Christopher R. Brownings neues Buch "Remembering Survival" über das Ghetto in Wierzbnik. Le Monde singt eine Hymne auf drei chinesische Dissidenten

New Yorker (USA), 21.06.2010

iTunes war gestern, glaubt Sasha Frere-Jones. Die Zukunft des Musikgeschäfts liegt im personalisierten Online-Streaming: "Radio und on-demand-Modelle unterliegen verschiedenen Regeln, aber sie teilen ein wichtiges Merkmal: man muss keine Daten herunterladen oder Speicherplatz auf dem PC finden, um Musik zu hören. Hinter diesen Modellen lauern zwei große Firmen, die die Online-Radiolandschaft in den nächsten Monaten verändern werden: Google und Apple. Google wird bald einen Musik-Streaming-Dienst für sein Android-Handy anbieten, der wie alle diese Dienste das an Bedeutung gewinnende Cloud-Konzept nutzt - Ihre Musik liegt auf einem Server, auf den Sie von jedem Computer oder Smartphone aus mit wenig Mühen und ohne Kabel zugreifen können. Apple, dessen iTunes der größte Musikverkäufer in den USA ist, hat den Online-Streaming-Dienst Lala vergangenes Jahr gekauft und sofort dichtgemacht. Das lässt vermuten, dass es bald iTunes.com geben wird, ein webbasiertes Streaming System, das den Kauf einzelner Titel überflüssig macht. In den neuen Musikmodellen wird man nicht unbedingt dafür zahlen, um eine Datei physisch zu besitzen, sondern um dieses Lied zu hören, wann immer man will."

Außerdem beinhaltet diese Doppelausgabe ein "Summer Fiction"-Spezial, in dem 20 Autoren unter 40 schreiben: online lesen darf man Kurzgeschichten unter anderem von Rivka Galchen, Gary Sheyntgart und Salvatore Scibona.
Archiv: New Yorker

El Pais Semanal (Spanien), 06.06.2010

"Ich bin kein Science Fiction-Schriftsteller, ich bin Physiker", erklärt der vor 63 Jahren im Silicon Valley geborene amerikanische Forscher und in den USA überaus populäre Universitätslehrer und Wissenschaftspublizist Michio Kaku, bevor er im Interview mit Luis Miguel Ariza unsere Zukunft beschreibt: "Das Internet wird überall sein, auch in deinen Kontaktlinsen. Was auch immer du sehen wirst, es wird Internet sein - mit einem Lidschlag gehst du online. Als Lehrer werden wir uns Prüfungen ausdenken müssen, in denen auswendig gelerntes Wissen keine Rolle mehr spielt. Die großen Verlierer werden die bisherigen Vermittler alten Stils sein - ein Broker wird kein Geld mehr verdienen, nur weil er an der Börse Operationen ausführt. Das werden künftig alle machen können, und das nahezu gratis. Und die neuesten Nachrichten wird man sich künftig auf der Armbanduhr ansehen - überleben wird nur können, wer Erfahrung, Fachwissen und Begabung anzubieten hat."
Archiv: El Pais Semanal

Prospect (UK), 24.05.2010

In einer großen Abrechnung mit der gegenwärtigen Kunstwelt erklärt Ben Lewis, dass die Kunst in eine dem Rokoko vergleichbare Spät- und Schwächephase eingetreten ist. Er nennt zunehmende Formelhaftigkeit, Plagiate, Narzissmus von Künstlersubjekten als Kennzeichen. Und eine Verengung der Affektwelt auf schieres Sentiment: "Die minimalistische ebenso wie die Konzeptkunst zielten ursprünglich auf die Erweiterung dessen, was ein Kunstgegenstand sein kann: Sie wollten die skulpturalen und piktorialen Konventionen überwinden und die visuelle Wahrnehmung als ganze erforschen... Ihre Nachfolger wenden dieselben Verfahren nur noch für sentimentale Zwecke an. Wie die ländlichen Szenen des Rokoko, vermitteln Damien Hirsts monochrome Schmetterlingsgemälde eine Ästhetik des Hübschen und des Frivolen... Tracey Emins Abgüsse von Kinderhandschuhen und -mänteln, Takashi Murakamis süße japanische Cartoon-Charaktere und Jeff Koons' riesige Ballonhunde funktionieren im selben tauäugigen Register wie Bouguereaus Bilder von Kindern, die von ihren Müttern genährt und von Engeln umsorgt werden. Das soll ja gar nicht unbedingt heißen, dass diese Kunstwerke 'schlecht' sind - so wenig wie die Gemälde von Bouguereau und Boucher - aber sie sind reiner Kitsch."
Archiv: Prospect

Res Publica Nowa (Polen), 01.08.2010

Titelthema dieser Ausgabe ist der Zustand der Buchkultur in Polen, um die es aktuellsten Umfragen zufolge nicht so gut steht. Der Autor Lukasz Golebiewski, ein Experte für den polnischen Buchmarkt, grübelt derweil über die digitale Herausforderung: "Ich denke lieber nicht daran, was passieren wird, weil es mir etwas Angst macht", sagt dieser. "Wir wissen ja nicht, ob die neuen Technologien uns schaden werden, ob wir sie zähmen und zu Gunsten von Kultur und Wissenschaft anwenden können. Sehr gut wäre es, wenn wir, statt Angst vor der Technik zu haben, sie für Kultur- und Bildungszwecke anwenden könnten. So muss es nicht kommen, aber das ist noch kein Grund, Entwicklungen zu fürchten, die so oder so unsere Kultur dominieren werden. Wir sollten eher versuchen, uns in der neuen Realität wiederzufinden, statt uns in der Analogkultur zu verschanzen. Ich möchte optimistisch in die Zukunft schauen, aber sicher bin ich nicht".

Henryk Wozniakowski vom Verlag "Znak" repräsentiert eine ältere Generation. Für ihn zählt etwas anderes: "Es geht nicht um die Dankbarkeit der Nation gegenüber dem Großen Verleger, sondern um die Freude, wenn wir im Zug jemanden treffen, der in 'unser' Buch so vertieft ist, dass er von der Außenwelt abgeschottet erscheint. Was zählt, ist der Funke im Auge des Gesprächspartners, wenn er von seinen literarischen Entdeckungen erzählt, oder die Stimme des Kritikers, der ein Buch wirklich verstanden hat und dies auch weitergeben kann. Mit einem Wort: Was am meisten zählt, ist der einzelne Leser und seine Reaktion. Natürlich weiß ich, dass das Verlagsgeschäft Tausende von solchen einzelnen Lesern braucht."

Befragt nach dem Buch, auf das er wartet, antwortet der Literaturkritiker Przemyslaw Czaplinski: "Ich warte auf ein Buch, von dem ich nicht weiß, dass ich darauf warte. Es wird, ungefragt und unerwartet, von irgendwo auftauchen, zu früh oder zu spät, immer zur unrechten Zeit, und wird mich davon überzeugen, dass meine ganze bisherige Lektüreerfahrung ein Warten auf dieses Buch war. Und wenn ich es lese, werde ich diese Erfahrung über Bord werfen, um zu verstehen, was ich nicht verstehe."

New York Review of Books (USA), 24.06.2010

Der Historiker Timothy Snyder hat das neue Buch seines Kollegen Christopher R. Browning gelesen, "Remembering Survival", das die Geschichte des Zwangsarbeiterlagers Wierzbnik rekonstruiert. Sehr deutlich wurde Snyder dabei, wie skrupellos und leider auch erfolgreich die Nazis Polen und Juden gegeneinander ausgespielt haben. Snyder erzählt zum Beispiel, wie Deutsche Juden zwangen, Polen zu hängen, und resümiert: "Das ganze Jahr 1941 über debattierten Polen den politischen und rechtlichen Status, den Juden nach dem Krieg in Polen haben sollten. Die Exilregierung war der Ansicht, dass Nachkriegspolen eine Demokratie ohne rassistische Diskriminierungen sein sollte. Doch die Nationalisten in der Regierung zogen diese Position in Zweifel. Die polnischen Debatten über die 'jüdische Frage' hörten erst auf, als Adolf Hitlers Antwort darauf klar wurde. Die Lage der polnischen Juden wurde für Exilregierung und die Heimatarmee zur drängenden Frage, als die Deutschen in den letzten Wochen des Jahres 1941 die Juden zu vergasen begannen. Anfang 1942 glaubten die polnischen Führer, dass Nachrichten von den schockierenden deutschen Taten Reaktionen in Großbritannien und den USA auslösen würden. Die Heimatarmee dachte, dass Enthüllungen über die Existenz von Vergasungsanlagen die Deutschen zwingen würde aufzuhören. (...) Vergebens. Die Deutschen waren nicht beschämt, und die westlichen Alliierten griffen nicht ein."

Besprochen werden außerdem Martin Amis' Roman "The Pregnant Widow" (von dessen "lustigem essayistischen Ton" Edmund White einfach hingerissen ist), Andre Agassis Autobiografie "Open" und eine Reihe von Neuerscheinung und schon etwas älteren Ausstellungen zum Bauhaus.

Nicht online ist Charles Rosens Hymne auf Chopin. Nur den Anfang darf man lesen: "Die orthodoxe Sicht auf Chopin als Miniaturisten ist inzwischen ziemlich obsolet, überstrapaziert, diskreditiert. Viele seiner längeren Stücke- Balladen, Scherzi, Sonaten, Große Polonaisen, Fantasien, Barcarollen - sind länger als ein durchschnittlicher Satz bei Beethoven."

Le Monde (Frankreich), 05.06.2010

Der Publizist Guy Sorman singt eine kleine Hymne auf drei chinesische Dissidenten: Wei Jingsheng, der seit Jahren im Exil lebt, Hu Jia und Liu Xiaobo, die wegen ihres Engagements für Aids-Kranke beziehungsweise für die Charta 08 ins Gefängnis gesteckt wurden: "Sie drei verkörpern die Sehnsucht der chinesischen Gesellschaft nach politischer und moralischer Würde, die so alt ist wie die chinesische Zivilisation. Das Schicksal Wei Jingshengs erinnert daran, dass schon im Jahr 1911 ein gewisser Sun Yat-sen aus dem britischen Exil nach China zurückkehrte, um dort die Republik auszurufen und sich zum Präsidenten wählen zu lassen, lange bevor viele europäische Monarchien diesen Weg gingen. Und Liu Xiaobo ist ebenso sehr von der chinesischen Tradition durchdrungen wie von der europäischen Aufklärung, die den Chinesen seit 200 Jahren ein Begriff ist. Und Hu Jia, ein gläubiger Buddhist, erinnert uns daran, dass Mitleid und Tugend zu den ewigen Bestandteilen der chinesischen Zivilisation gehören."
Archiv: Le Monde

London Review of Books (UK), 10.06.2010

Eine ganze Reihe von Büchern zum Umgang mit dem Internet, zur Entstehung und Nutzung sozialer Netzwerke und anverwandter Themen hat Stephen Burt gelesen. Besonders interessant scheint ihm eine Untersuchung von Craig Watkins, der zum Ergebnis kommt, dass sich das Sozialverhalten auch bei intensiver Netznutzung eigentlich wenig ändert - und zwar trotz der immer stärker abnehmenden Bedeutung von Vermittlerinstanzen: "Kein Wunder, dass dieses Verschwinden der Mittler (im Englischen: 'disintermediation') solche moralische Panik ausgelöst hat: Die Veränderungen, die es Disney und anderen Konzernen so sehr erschweren, zu kontrollieren, was wir sehen und hören, sind dieselben, die es für uns so viel schwerer machen, noch zu bestimmen, was unsere Kinder sehen und hören. Eine Heranwachsende in Tasmanien kann heute die Gedichte von Lorine Niedecker, die Musik der Fat Tulips und die Manifeste der Klimaaktivisten entdecken - und in sozialen Netzwerken Gleichgesinnte finden; sie kann zugleich auf den erschreckenden 'pro-ana'-(Anorexie)-Seiten Ermutigung finden, wenn sie sich zu Tode hungern will. Sie kann sich so selbst neu definieren, wenn sie mag, als Lyrikleserin, als Klimaaktivistin, als Anorektikerin. Und doch ist es (so jedenfalls die Ergebnisse von Watkins) viel wahrscheinlicher, dass sie sich ganz genauso definiert, wie sie es auch ohne Internet getan hätte - durch Klassenzugehörigkeit, ihren schon vorher existierenden Geschmack und durch ihre Schulfreunde." Aber kommt's hier auf die Mehrheit an?

Weitere Artikel: Der Historiker Keith Thomas schreibt zettelkastengelehrt über die Geschichte des Exzerpierens und Verzettelns und warum im Computerzeitalter keine Karteikarte auf der anderen bleibt. Sehr enttäuscht zeigt sich Andrew O'Hagan von der von Steven Spielberg und Tom Hanks produzierten HBO-Kriegsfilmserie "The Pacific".

Magyar Narancs (Ungarn), 27.05.2010

In einem schwindelerregenden Tempo hat das neu gewählte Parlament in Budapest die Gesetze zur Staatsbürgerschaft und zum Trianon-Gedenktag verabschiedet. Der aus Cluj (Klausenburg, ung.: Kolozsvar, heute Rumänien) stammende ungarische Philosoph Miklos Tamas Gaspar bedauert, dass bei der Debatte der wichtigste Aspekt des "Friedensdiktats" von Trianon gar nicht erwähnt wurde: "Das Schmerzlichste ist gar nicht seine Ungerechtigkeit, sondern seine viel tieferen, viel schwieriger umschreibbaren historischen und kulturellen Folgen; vor allem, dass die Ungarn ihre 'europäische Stellung', die sie als führende Bevölkerungsgruppe einer Weltmacht genossen hatten - und damit den heutzutage kaum noch fassbaren kulturellen Kontext, die Bildung, das Selbstbewusstsein des alten Ungartums - verloren hatten, und dass durch den Verlust des protestantischen Siebenbürgens als Gegengewicht gerade das abhanden gekommen ist, was zuvor in jenem bipolaren Verhältnis von Spannung und Gleichgewicht als typisch 'ungarisch' empfunden wurde. Diese realen und höchstwahrscheinlich unheilbaren Probleme hört man in den großmäuligen Deklarationen des neuen Parlaments aber nicht einmal andeutungsweise."
Archiv: Magyar Narancs

Open Democracy (UK), 07.06.2010

Es ist bekannt, dass der Völkermord an den Armeniern als ein Vorbild für den Judenmord der Nazis gilt. Aber auch für den Völkermord an den Armeniern scheint es ein Vorbild gegeben zu haben: die Vertreibung der Tscherkessen durch die Russen nach den Kaukasuskriegen um 1860. 500.000 bis eine Million Tscherkessen sollen damals über das Schwarze Meer in die Türkei getrieben worden sein, die Hälfte kam ums Leben. In der ehemaligen Hauptstadt der Tscherkssen, Sotschi, wollen die Russen die nächste Winterolympiade abhalten. Nun hoffen Exil-Tscherkessen, dass das von den Russen gerade gerupfte Georgien die Vertreibung der Tscherkessen als Völkermord anerkennt, schreibt Sufian Zhemukhov: "Das könnte Russland in Verlegenheit bringen: Es würde seine Spiele in eine Land abhalten, in dem ein von einem UN-Mitglied anerkannter Genozid stattgefunden hat. Es könnte ein Stachel in Russlands Fleisch werden so wie der armenische Genozid für die Türken." In Open Democracy wurde kürzlich auch ein Buch über die tscherkessische Katastrophe besprochen, Oliver Bulloughs "Let Our Fame Be Great" (mehr hier, hier und hier und hier in der Circassian World).

Außerdem schreibt Oleg Alexandrovich Yuriev über den hundertsten Todestag Tolstois und die schreckliche Tortur von Schriftstellerjubiläen im kommunistischen Zeitalter.
Archiv: Open Democracy

Times Literary Supplement (UK), 05.06.2010

Simon Goldhill hat in Zachary Masons "The lost Books of the Odyssey" die wohl brillanteste Offenbarung seit James Joyces Bearbeitung des Homer-Stoffes entdeckt. Originaltext und moderne, uns vertraute Themen werden wunderbar verbunden: "Odysseus kehrt nach Ithaka zurück und findet eine in die Jahre gekommene, verheiratete Penelope. 'Verzweifelnd irgendwoanders nach einem echten Ithaka suchend, dreht Odysseus sich um und flieht schwindelnd vor den quälenden Schatten.' Dass Penelope nach zwanzig Jahren eventuell nicht mehr die perfekte und noch immer wunderschöne Ehefrau ist, geht zurück auf hämische Überlieferungen der Antike, und der befremdete Odysseus, der durch sein ständiges Suchen lieber ein neues Ithaka schaffen möchte, als anzukommen, ist das oft besungene Thema Cavafys. Es ist fast ein Klischee heutiger Zeit, sich über Penelopes Bedürfnisse, Odysseus wahre Sehnsüchte und die Möglichkeiten des Versagens zu wundern, die eintreten, wenn ein Ehemann zu seiner Frau zurückkehrt. Mason kennt dies alles hinreichend. Seine ersten Kapitel knüpfen dort an, wo die Tradition angelangt ist."

Außerdem: Gillian Tindall liest interessiert Jeffrey H. Jacksons lebhaft erzählte Geschichte der Überschwemmung von Paris 1910, vermisst dabei allerdings oft den historischen Kontext. Auf eine Reise durch die Geschichte der Sonette begibt sich Katherine Duncan-Jones in Stephen Burt and David Mikics "The Art of the Sonnet" und entdeckt dabei viele historisch-interessante, aber leider nicht immer künstlerisch anspruchsvolle Sonette.
Stichwörter: Joyce, James, Odysseus