Magazinrundschau

Die Magazinrundschau

Ein Blick in internationale Magazine. Jeden Dienstag ab 10 Uhr.
29.03.2004. Outlook India hat einen seltenen Klassiker in Farbe gesehen. L'Espresso stellt Riadh Jelassi vor, den ersten Pentito der Al Qaida in Italien. Die New York Times Book Review bewundert Amerikas kreative Korruption. In Reportajes weist Alvaro Vargas Llosa den argentinischen Präsidenten zurecht. In Prospect erzählt ein Autist, wie er begriff, was eine Unterhaltung ist. Der New Yorker fragt in Holland nach, warum die Europäer immer größer werden. Im Merkur erinnert sich Christoph Plate an den Völkermord in Ruanda. Und alle denken über die Folgen nach, die Richard Clarkes Auftritt vor dem Nationalen Sicherheitsrat für die Zukunft George W. Bushs hat.

Espresso (Italien), 01.04.2004

Stolz und exklusiv präsentiert der Espresso im Titel die Geschichte von Riadh Jelassi, des ersten italienischen Pentito der Al Quaeda. Sechs Monate wurde der Aussteiger in Mailand "unter strengster Geheimhaltung" verhört, jetzt berichten Peter Gomez und Leo Sisti über die beunruhigenden Erkennntnisse: es existieren offenbar mehrere aktive italienische Terrorzellen, die Anschläge planten und planen. Jelassi selbst hat von Essid Sami Ben Khemais, dem Ideologen der tunesischen Salafiten in Italien erfahren, was Al Quaeda ist. "'Wir sind hier', antwortete der 'Reisende' den Schülern. 'Wenn die Brüder uns fragen, ob wir sie aufnehmen, nehmen wir sie auf, wenn die Brüder uns fragen, sie zu verstecken, verstecken wir sie, wenn sie uns nach Ausweisen fragen, geben wir sie ihnen, wenn sie uns nach Waffen fragen, dann geben wir sie ihnen. Das ist unser Auftrag. Das ist Al Quaeda."

Einen interessanten Blick hinter die Kulissen des Systems Berlusconi gibt uns Giancarlo Dotto mit seinem Porträt von Umberto Scapagnini, dem schillernden Leibarzt des Cavaliere. "Seine erklärten Lieblinge sind Berlusconi und sein Sohn Giovanni, mit dem er schon exotische Expeditionen durchgeführt hat auf der Jagd nach Methusalems, denen er Blut abnahm und ihre Ernährungsgeheimnisse entlockte, in nepalesischen und kaukasischen Weilern, im Kaschmir und in Vilcabamba in Ecuador, wo, wenn einer früher als mit hundert Jahren stirbt, das Kommentar der Menschen lautet: 'So jung?'"

Weitere Artikel: Moses Naim, Chefredakteur von Foreign Policy, fragt sich, ob Kerry wählen nur bedeutet, den Teufel mit dem Beelzebub auszutreiben. Im Kulturteil porträtiert Giacomo Leso den Franzosen Marc Levy (mehr), angeblich "Bestsellerautor per Zufall", der von drei Büchern in drei Jahren immerhin drei Millionen Exemplare verkauft hat. Eleonora Attolico empfiehlt den Besuch der National Portrait Gallery in London, wo gerade Arbeiten des Dandy-Fotografen Cecil Beaton ausgestellt sind.
Archiv: Espresso

Economist (UK), 26.03.2004

Blut, Kreuz, Leid. Aber nicht auf der Leinwand, sondern im New Yorker Metropolitan Museum of Art, das eine Ausstellung byzantinischer Kultobjekte und Ikonen präsentiert. Eine gewisse Ähnlichkeit zum Film "The Passion" will der Economist nicht leugnen, doch die byzantinischen Ikonenmaler waren nicht nur "die Mel Gibsons ihrer Zeit", die den Schmerz Jesu fassbar machen wollen. Sie waren auch "mehr". Denn "der byzantinische Christ hört nie auf, viele verschiedene Dinge auf einmal zu sein: göttlich und menschlich, gedemütigt und siegreich, verwundet und heilend. Selbst in den dunkelsten Momenten der Passionsgeschichte ist die Dämmerung immer gegenwärtig. Selbst wenn Christus am geringsten und erniedrigsten ist, hört er doch niemals auf, das Fleisch gewordene Wort Gottes zu sein." Die Ikonen waren für die Maler "Fenster zum Himmel, durch die der Betrachter in eine höhere Wirklichkeit eingehen kann". Das mache den Unterschied zu Mel Gibson aus.

Wurde die terroristische Bedrohung durch Al-Qaida im Vorfeld des 11. Septembers von der US-Regierung trotz vielfältiger Indizien nicht ernst genug genommen? Die vom Kongress mit der Untersuchung des Attentats auf das World Trade Center beauftragte Kommission hat am 23. März einen vorläufigen Bericht vorgelegt, in dem sie laut Economist sowohl die Clinton- als auch die Bush-Administration für ihre Versäumnisse kritisiert. Doch die Wirkung dieser Rüge, so der Economist weiter, könnte noch übertroffen werden von dem gleichzeitig erschienenen Enthüllungsbuch ("Against all Enemies", Auszug) des Beraters für Terrorbekämpfung beider Administrationen, Richard Clarke. "Clarke behauptet, er habe die Bush-Administration innerhalb einer Woche nach deren Amtsantritt ersucht, die Bedrohung durch Al-Qaida auf höchster Ebene zu diskutieren. Doch zu einem solchen Treffen kam es erst neun Monate später - nur eine Woche vor den Attentaten - und zu spät um noch irgendetwas zu bewirken." Bei seiner Zeugenaussage vor der Kommission sei Clarke sogar noch weiter gegangen und habe sich bei den Angehörigen der Opfer entschuldigt: "Eure Regierung hat Euch im Stich gelassen? Ich habe Euch im Stich gelassen."

Weitere Artikel: Zehn Jahre nach dem Genozid in Ruanda fragt der Economist, welche Lehren daraus gezogen wurden und welche noch nicht. Außerdem berichtet der Economist über den Einsatz privater britischer Sicherheits-Firmen im Irak. Den Erfolg der Linken bei den französischen Regionalwahlen wertet der Economist als wütende Quittung der Wähler, und nicht als Ergebnis einer wiedererstarkten Linken. Der Economist gratuliert dem CERN zum Fünfzigsten und erklärt den Forschungshorizont des Partikelbeschleunigers, der dort bald zum Einsatz kommen soll. Schließlich liest man im Nachruf auf Scheich Ahmed Yassin, den ermordeten Führer der Hamas (hier zu deren Charta), dass dessen Nachfolger vermutlich noch radikaler sein werden, als er es war.

Nur in der Printausgabe zu lesen: die Besprechung des neuen Films der Coen-Brüder.
Archiv: Economist

Outlook India (Indien), 05.04.2004

Auch wenn man von Kricket keine Ahnung hat, wird man von Manu Josephs Texten mit sprachlicher Finesse belohnt und hat am Ende das Gefühl, das Spiel auf irgendeine Weise doch verstanden zu haben. In dieser Woche gibt es wieder mal eine Titelgeschichte über den Nationalsport der Inder, denn eine auf fünf eintägige Spiele angelegte Serie gegen den Erzkontrahenten Pakistan - "Krieg ohne Schießerei. Diplomatie ohne die künstlichen Rituale" - ist soeben mit einem knappen Sieg zu Ende gegangen. Doch es ist nicht alles Gold: "Es wird eine Zeit kommen, in der seltsam aussehende Menschen auf die eben zu Ende gegangenen Tage zurückblicken und sich fragen werden, wie es sich wohl angefühlt haben muss, diese zwei Wochen leibhaftig erlebt zu haben. Inmitten all der berühmten Schnappschüsse aus schwarz-weißen Zeiten war diese Spielserie einer der seltenen Klassiker in Farbe. (...) Doch sollte die Geschichte je in aller Vollständigkeit berichtet werden, dann werden die Menschen eines zukünftigen Zeitalters auch von dem Schatten geheimer Absprachen lesen, der über den Spielen schwebte."

Außerdem: Ein Exklusivinterview mit dem neuen amerikanischen Botschafter in Indien, unter anderem über die Beziehungen der USA zu Indien und Pakistan und über Outsourcing amerikanischer Jobs nach Indien. H. Y. Sharada Prasada nimmt ein neues, nicht allzu gelungenes Buch zum Anlass, die Sängerin Gangubai Hangal, eine der besten Interpretinnen klassischer indischer Musik, zu würdigen: "Die grand little lady der Musik hätte ein besseres Buch verdient, aber so selten, wie Bücher über unsere Musiker nun mal sind, ist es dennoch begrüßenswert." (Hier kann man sie singen hören.) Charubala Annuncio hat schlechte Nachrichten für alle, die zur Entschlackung nach Indien fahren: Ayurveda-Kuren sind manchmal sehr ungesund.
Archiv: Outlook India

Times Literary Supplement (UK), 26.03.2004

Ein "wunderschön geschriebenes, sehr einnehmendes Buch ganz ohne Fußnoten" hat Fiona Ellis gelesen: A. C. Graylings Suche nach dem richtigen Leben "What is good?". "Seine zentrale These besagt, dass die Suche der Menschheit nach dem Guten immer ein Kampf zwischen humanistischer Aufklärung und religiösen Konzepten aus aller Welt war. Daraus erwuchsen zwei sehr unterschiedliche Konzepte des guten Lebens - eine säkulare Haltung, die in einer bestimmten Sicht auf die menschliche Natur und die condition humaine gründet, und eine transzendentale Haltung, die die Quelle moralischer Werte außerhalb des menschlichen und natürlichen Reichs verortet. Grayling favorisiert den ersten Ansatz, denn er glaubt, dass Religion nur eine Ersatzdroge für diejenigen ist, denen die intellektuellen Fähigkeiten eines Renaissance-Humanisten abgehen."

Weiteres: Jon Barnes empfiehlt zwei neue Biografien über Spike Milligan, den Vater der modernen Comedy (mehr hier), der zuletzt recht zänkisch geworden war: "Uneingeschränkte Misanthropie ließ ihn erklären: 'Ich hasse die Menschheit', und als ihn Anthony Clare 1982 in der Sendung 'In the Psychiatrist's Chair' fragte, ob er tolerant sei, schnappte er zurück: 'Nicht gegenüber Idioten und Dummköpfen'."

Besprochen werden außerdem zwei neue Monografien zu Robert Rauschenberg: Robert S. Mattisons "Breaking boundaries" und Branden W. Josephs "Random Order". Über Wayne Andersens Studie "The Youth of Cezanne and Zola", die untersucht, wie die beiden von Kunstkritikern und -historikern wahrgenommen werden, urteilt Eugen Weber kategorisch: "Es scheint mir pure Zeitverschwendung, Kämpfe mit rivalisierenden Autoren auszutragen, wenn man einfach eine Geschichte erzählen kann."

Merkur (Deutschland), 01.04.2004

Christoph Plate erinnert sich in einem sehr eindrücklichen Text an den Völkermord, den er 1994 in Ruanda miterlebte: "Der Rebellenoffizier, der uns begleitete, hieß Wilson Rutayisire. Der Major verstand es, uns nur jene Dinge zu zeigen, die wir sehen sollten. Etwa die Kirche von Kiziguro. Er wollte uns aber nicht jene Klärgrube zeigen, in der zweitausend tote Tutsi lagen. Später erfuhren wir warum: Die Rebellen hatten sich offenbar an den überlebenden Hutu in Kiziguro gerächt und ihrerseits Menschen getötet, die auf die Tutsi-Leichenberge geworfen worden waren. Diese Vergeltungsaktionen der Rebellen sollten wir nicht sehen. Major Wilson fand Jahre später ein unrühmliches Ende. Zum letzten Mal sahen wir ihn nach dem Krieg in der Lobby des Hotel Mille Collines in Kigali. Er war fett und trug einen Jogginganzug. Nach dem Krieg war er Minister geworden, dann Radiochef. In Kigali erzählte man später, Wilson habe sich umgebracht, drüben im Kongo, weil er HIV-positiv gewesen sei. Dabei pfiffen es die Kolibris von den Dächern, dass Wilson Rutayisire von seinen eigenen Leuten ermordet worden war. Er war nicht sympathisch. Wilson war wahrscheinlich sogar das, was man gemeinhin als ein 'mieses Schwein' bezeichnen würde."

Weiteres: In der Musikkolumne untersucht Richard Klein anhand von Bob Dylan und Woodie Guthrie, ob das Leben in der Popmusik eigentlich eine Rolle spielt. Christopher Baethge versucht die Behauptung, dass Amerikaner viel stärker als Europäer versuchen, Ambivalenz zu unterdrücken, ja dass ihnen eine "besondere Ambivalenzintoleranz" eigen ist. Marc Plattner denkt über postmoderne Demokratien, Souveränität und Gewaltanwendung nach. Wolfgang Kemp wütet gegen die Beschlüsse von Bologna, nach denen "sämtliche Studiengänge Europas, also auch in Deutschland, aus das Bachelor-Master-Format heruntergetrimmt werden müssen". Robert Picht beschäftigt sich mit dem Europabild der Generation Erasmus. Außerdem zu lesen sind Beiträge über W.E.B. Du Bois, Charles Darwin, Identitätspolitik und vieles mehr.
Archiv: Merkur

New Yorker (USA), 05.04.2004

Die Europäer werden immer größer - warum bloß die Amerikaner nicht? Diesem herrlichen Thema geht Burkhard Bilger in einem material- und aufschlussreichen Artikel nach. "Wenn es eine Antwort darauf gibt, dann ist sie in Holland zu finden, wo jeder eine Theorie über den Körperbau hat. Der Kinderarzt Hans van Wieringen erklärt die zunehmende Größe der Bevölkerung mit der medizinischen Versorgung: Die Niederländer haben die besten Geburts- und Kinderkrankenhäuser der Welt, die von allen Bürgern kostenlos genutzt werden können. Andere verwiesen auf die Landschaft (Flachländer seien von Natur aus groß, sagten sie, genau wie Bergvölker von Natur aus klein), auf den Calvinismus (Protestanten seien größer als Katholiken, weil ihre Familien weniger Mäuler zu stopfen hätten) oder auf die niederländische Vorliebe für Milch (eine bayrische Studie hat einen direkten Zusammenhang zwischen Körpergröße und der Pro-Kopf-Anzahl von Kühen herausgefunden). Und ein Mann behauptete, die Niederländer seien größer als die Italiener, weil sie zu vernünftigen Zeiten schlafen gingen."

Weiteres: Dana Goodyear porträtiert einen 19-jährigen "spitzbübischen" Künstler namens Neck Face (mehr hier), der seine Graffiti-Tätigkeiten derzeit etwas einschränkt, um seinen Wechsel ins seriöse Kunstfach nicht zu gefährden. John Kenney berichtet über einen Auslandskorrespondenten von US Today, der gehen musste, weil er seine Redakteure bei einer internen Befragung über einige seiner Geschichten "wiederholt getäuscht" hatte. Zu lesen ist außerdem die Erzählung "Super Goat Man" von Jonathan Lethem.

Besprechungen: Louis Menand rezensiert ein Buch über die seltsame Karriere des liberalen Politikers und demokratischen Präsidentschaftskandidaten von 1968 Eugene McCarthy. Anthony Lane sah im Kino das Remake der Brüder Coen von "The Ladykillers" mit Tom Hanks in der Hauptrolle, die 1955 von Alec Guinness gespielt wurde, und "Intermission" von John Crowly.

Nur in der Printausgabe: Ein Porträt des Schauspielers Laurence Fishburne ("Matrix"), ein Brief aus China, ein Artikel über die Trackboyz - ein Produzententeam aus St. Louis, das Nelly großgemacht hat und jetzt dasselbe für einen gewissen J-Kwon tun soll - sowie Lyrik von Mary Oliver und Robert Hass.
Archiv: New Yorker

Spiegel (Deutschland), 29.03.2004

Nach der Ermordung von Scheich Jassin durch Israel hat Annette Großbongardt ein kurzes Interview mit dem neuen Hamas-Führer Abd al-Asis al-Rantissi geführt. Ein Auszug:
"Spiegel: Also wird es noch mehr Anschläge gegen Israelis geben?
Rantissi: Unser Widerstand wird eskalieren, das ist sicher.
Spiegel: Geht es konkreter?
Rantissi: Die Operationen sind Sache des militärischen Flügels. Aber sie haben eine klare Botschaft: Es gibt kein Tabu, die Tore für sie sind offen. Ich hoffe, unsere Reaktion wird wirklich stark sein."

Berichtet wird über den Auftritt Richard Clarkes, ehemalige Sonderberater für Terrorabwehr aller US-Präsidenten seit Ronald Reagan, vor der Nationalen Kommission über Terrorakte gegen die Vereinigten Staaten. Clarke hatte dort die Vorwürfe gegen George W. Bush wiederholt, die er bereits in seinem Buch "Against All Enemies" veröffentlicht hatte. Laut Clarke hat der Krieg gegen den Irak dem Anti-Terror-Krieg schwer geschadet.

Im Print: Thomas Tuma hat sich auf die Spur der Vierzigjährigen begeben: "Der Jahrgang 1964 ist der bevölkerungsreichste, den Deutschland je erlebt hat. Aber wo sind all die nun 40-Jährigen in Politik, Wirtschaft oder Kultur? Pflegen die Babyboomer ihre alte Abneigung gegen die 68er - oder leiden sie an Zukunftsängsten?" In der Spiegel-Serie zum Ersten Weltkrieg schildert der britische Historiker Hew Strachan, wie es zu dem weltweiten Waffengang kam.

Im Titel geht es in dieser Woche um den Kampf gegen Windmühlen: "Quer durch die Republik wächst der Widerstand gegen die Verspargelung der Landschaft durch immer mehr Windräder."
Archiv: Spiegel

Nouvel Observateur (Frankreich), 25.03.2004

In französischen Gefängnissen ist der Islam die vorherrschende Religion. Dies ist das Ergebnis einer Untersuchung des Soziologen Farhad Khosrokhavar, die in Kürze erscheinen wird. Im Debattenteil fasst Khosrokhavar seine Analyse der damit verbundenen gesellschaftlichen Ursachen und Konsequenzen zusammen und merkt unter anderem an: "Das Gefängnis enthüllt ein Problem, das alle französischen und europäischen Einrichtungen betrifft: das der Eingliederung des Islam in unsere westlichen Gesellschaften. In Frankreich kommt die zu strenge Auslegung des Laizismus dazu. Unsere defensive Sichtweise des Laizismus erweist sich als Hindernis, über grundlegende Integrationslösungen nachzudenken. Das Kopftuchgesetz wird, ob man will oder nicht, häufig als Verbot und nicht als Integration aufgefasst. (...) So gibt es in Frankreich Tausende junger Muslime, die davon überzeugt sind, in dieser Gesellschaft keinerlei Aufstiegschancen zu haben. Aus dieser Sackgasse fänden sie nur mithilfe echter sozialtherapeutischer Unterstützung heraus, flankiert von konkreten Maßnahmen. Das Gefängnis ist jedoch nicht in der Lage, dieses Problem zu lösen."

Vorgestellt wird ein "origineller" Essay über eine "französische Leidenschaft": das Duell (Jean-Noel Jeanneney: "Le Duel, une passion francaise, 1789-1914", Seuil). Begleitet wird die Rezension von einer Umfrage unter französischen Schriftstellern und Künstlern, mit wem, warum und mit welcher Waffe sie sich, wenn sie müssten, duellieren würden. Catherine Millet weiß gleich eine ganze Hand voll Leute, die sie mit der "Wahrheit" bekämpfen will, Frederic Beigbeder hat dagegen George W. Bush auf dem Korn, den er mit "irakischen Massenvernichtungswaffen, also mit nackten Händen" erledigen würde. Und der Regisseur Patrice Leconte würde den "Fahrer des senfgrünen Opel Astra mit dem Kennzeichen 103 PJL 75" zur Rechenschaft ziehen, der ihm einen Parkplatz vor der Nase weggeschnappt hat.

Darüber hinaus werden eine Biografie des Surrealisten und Dichters Rene Char (Fayard, mehr hier) und die Studie eines französischen Historikerkollektivs über den ersten Weltkrieg (La Decouverte) besprochen. Und in der Abteilung Arts et Spectacles ist ein Porträt des vor 25 Jahren gestorbenen Counter-Tenors Alfred Deller (mehr) zu lesen, der jetzt auf einer ganzen Reihe von CDs (wieder) zu hören ist.

Prospect (UK), 01.04.2004

"Meine Eltern dachten, ich wäre autistisch, dabei konnte ich bloß nicht verstehen, was an Unterhaltungen so spannend sein soll." Kamran Nazeer ist mittlerweile Schriftsteller und schildert, wie er gelernt hat, die Kunst der Konversation zu schätzen. "Ich erinnere mich daran, wie ich mit meinen Freunden zusammensaß, und sie aufhörten meine Freunde zu sein. Die Art, wie sie ihre Hände bewegten, veränderte sich. Die Art, wie sie sprachen, veränderte sich. Sie offenbarten plötzlich ein Wissen, das von fantastisch schillernder Art war. Genau das war es, was mich früher gereizt hatte. Genau diese, durch die Unterhaltung entstehenden Veränderungen waren es, die ich als Unechtheit identifiziert hatte. Doch dann begriff ich. Unechtheit machte Spaß. Es war nichts Unmoralisches dabei, wenn man versuchte, Leute zu unterhalten. Es machte einen nicht schwach. Und es stellte sich heraus, dass ich wusste, wie es geht. Eine Unterhaltung war ein Spiel, genau wie die Spiele, die ich mir als Kind immer ausgedacht hatte. Und es spielte keine Rolle, dass ich 'autistisch' war. Sobald ich verstanden hatte, dass ich an einem Spiel teinahm, kamen die Worter leichter. Sie hatten einen Grund zu kommen."

Was würde Mahatma Gandhi zu Osama Bin Laden sagen? Bhikhu Parekh, Professor für Politische Philosophie, hat einen Briefwechsel zwischen den beiden inszeniert. "Lieber Osama, ... Du scheinst zu glauben, dass der Islam perfekt ist. Doch alle Religionen enthalten sowohl Wahrheiten als auch Fehler ..."

Weitere Artikel: In der Rassismus-Kontroverse verteidigt sich David Goodhart auf sehr einnehmende Weise gegen Vorwürfe, die sein jüngster Essay über das Spannungsverhältnis zwischen kultureller Vielfalt und gesellschaftlicher Kohesion hervorgerufen hat (einige Reaktionen auf Goodharts Artikel hier und hier und hier). Dan O'Brien rekapituliert Werdegang und Abgang des abgewählten Jose Maria Aznar. Annabel Freyberg stellt den daheimgebliebenen Briten den British Council vor, der sich in ihren Augen kulturell wirklich verdient macht. Und schließlich schätzt Philip Collins David Marquands Vorschläge zu einer Reform des öffentlichen Lebens ("Decline of the Public") als zu naiv ein.

Nur im Print zu lesen: John R. Bradley fragt, wie sich Al-Dschasira angesichts der Extremismus-Vorwürfe verhalten wird.
Archiv: Prospect

Reportajes (Chile), 28.03.2004

Stunde der Präsident(inn)en, die zweite: Vor fast auf den Tag genau zwei Monaten berichtete der Perlentaucher vom, wie man so sagt, "kometenhaften" Aufstieg der chilenischen Verteidigungsministerin Michelle Bachelet (s. a. hier) zur "Top-Anwärterin" auf das Präsidentenamt. Dieser Trend scheint sich fortzusetzen, was jedoch nicht nur zu Irritationen beim Konkurrenten von der chilenischen Rechten, Joaquin Lavin, führt, sondern mindestens so sehr bei der regierungskoalitionsinternen Hauptrivalin, der derzeitigen chilenischen Kanzlerin Soledad Alvear: Alvear soll nun nach dem Willen ihrer Berater versuchen "mas natural" und "menos estructurada" aufzutreten, um das "fenomeno Bachelet" auszubremsen, berichtet die neueste Ausgabe von Reportajes, der Wochenendbeilage der chilenischen Tageszeitung La Tercera (Zugang nach kostenloser Registrierung).

Vielleicht hätte Jose Maria Aznar seinerseits versuchen sollen, "mit mehr Natürlichkeit und weniger strukturiert" aufzutreten, um das Debakel der von ihm geführten Regierung zu verhindern. Im Interview mit Juan Pedro Valentin zeigt er sich in dieser Hinsicht wenig lernfähig: "Tragen Sie die Schuld an der Wahlniederlage? - Ich habe mich nicht zur Wahl gestellt, aber ich gehöre zum Partido Popular, deshalb sind wir alle verantwortlich. Man bedarf eines gewissen Abstandes, um zu analysieren, warum es zu diesem Ergebnis gekommen ist. Auf jeden Fall bin ich dankbar dafür, dass neun Millionen sechshunderttausend Spanier uns ihre Stimme anvertraut haben."

Ebenfalls in Reportajes zeichnet Alvaro "neoliberalisimo" Vargas Llosa, der Sohn Mario Vargas Llosas, der unmittelbar vor der spanischen Wahl sich eine Niederlage Aznars weder vorstellen konnte noch wollte (s. dazu hier), ein überaus negatives Bild des derzeitigen argentinischen Präsidenten Nestor Kirchner. Im Gegensatz zu den vielen lobenden Kommentaren, die Kirchners Politik weltweit erfährt, stört sich der studierte Historiker Vargas Llosa insbesondere an Kirchners Attacken auf den früheren argentinischen Präsidenten Carlos Menem: "Jemand sollte dem argentinischen Regierungschef klar machen, dass die Aufgabe politischer Führer darin besteht, ihre Länder voranzubringen, während die Historiker (und, falls nötig, die Gerichte) sich damit beschäftigen, über die Vergangenheit zu urteilen."

Allerdings hat sich eben dieser Carlos Menem nach Chile geflüchtet, wo inzwischen ein Streit darüber ausgebrochen ist, ob er nach Argentinien ausgeliefert oder aber ihm politisches Asyl gewährt werden solle. Der (noch) Präsident Chiles Ricardo Lagos versucht in dieser Situation die Quadratur des Kreises, berichtet Vanessa Azocar: "Weder den Bestrebungen der Regierung von Nestor Kirchner nachgeben und Menem nach Argentinien zurückschicken, noch Kirchner offen herausfordern, indem man einem Asylersuchen des argentinischen Expräsidenten nachkommt." Was aber dann? Präsident werden ist schwer, Präsident sein noch mehr, am schwersten ist allerdings ganz offensichtlich, Präsident gewesen zu sein.
Archiv: Reportajes

Point (Frankreich), 25.03.2004

Auch in Frankreich läuft in dieser Woche Mel Gibsons Jesus-Film an. Le Point bringt ein instruktives Gespräch mit den Autoren Jerome Prieur und Gerard Mordillat, die eine Fernsehserie bei Arte über die Ursprünge des Christentums vorlegten und bei Seuil "Jesus apres Jesus" veröffentlichen. Das Christentum ist für sie erst im fünften Jahrhundert entstanden: "Wenn es nicht im fünften Jahrhundert zur Reichsreligion gemacht worden wäre, wäre es ein orientalischer Glaube geblieben. Vielleicht wäre das Christentum dann verschwunden, jedenfalls hätte es sich nicht zu einem Machtinstrument in einem großen Teil der Welt gewandelt."

Vorabgedruckt werden einige Auszüge aus dem neuen Buch des liberalen Publizisten Alain Minc, "Les prophetes du bonheur - Une histoire personnelle de la pensee economique" (bei Grasset). Und Bernard-Henri Levy liefert in seiner Kolumne ein recht optimistisches Fazit der Regionalwahlen in Frankreich. Außerdem wird auf einen Dokumentarfilm von Jonathan Demme ("Das Schweigen der Lämmer") über Haiti hingewiesen.
Archiv: Point

New York Times (USA), 28.03.2004

Die USA sind groß geworden, weil auch zwielichtige Menschen ihren zwielichtigen Geschäften nachgehen durften. So könnte man Walter A. McDougalls These zusammenfassen, die er in "Freedom Just Around The Corner" präsentiert, dem ersten Band einer dreiteiligen Geschichte seines Landes. Gordon Wood bespricht das Buch interessiert und glaubt, dass McDougalls Auffassung von der "kreativen Korruption" einen entscheidenden Beitrag zu Amerikas Selbstverständnis leisten wird. "Weil unsere hohen und noblen Ideale von Freiheit und individuellen Rechten so krass mit der oft grotesken Realiät des amerikanischen Lebens kontrastieren, ist jede Phase unserer Geschichte von Disharmonie geprägt, schreibt McDougall. Zur Unterstützung zieht er Samuel P. Huntington heran: 'Amerika ist keine Lüge, es ist eine Enttäuschung. Aber es kann nur eine Enttäuschung sein, weil es auch eine Hoffnung beinhaltet', eine Hoffnung, die Bob Dylan 'die Freiheit hinter der nächsten Ecke' nennt." Hier Robert Kaplans langes Porträt von Samuel Huntington im Atlantic Monthly, aus dem das schöne Zitat stammt.

Die Idee hinter Lauren Slaters Wissenschaftsbuch "Opening Skinner's Box" ist "simpel, aber genial", muss Peter Singer zugeben. "Man nehme zehn wegweisende psychologische Experimente des vergangenen Jahrhunderts von den Seiten einschlägiger Journale, entstaube den schrecklich akademischen Stil, in dem sie beschrieben wurden, füge ein paar persönliche Details über die Forscher hinzu und erzähle sie als intellektuelle Abenteuer neu." Herausgekommen sei, trotz ein paar kleineren Ungenauigkeiten, "ein sehr lesbarer, wenn auch sehr persönlicher Report über das, was wir über die menschliche Natur wissen und was wir nicht wissen."

Aus den weiteren Besprechungen: Tony Hendra freut sich über eine neue Stimme in Sachen Wein. "Schlau, großzügig, aufmerksam, lustig und vor allem frei von jedweder Arroganz begebe sich "The Accidential Connoisseur" Lawrence Osborne, ein Engländer (!), auf die Spur des guten Geschmacks (hier ein Interview zum Anhören). Zakes Mdas Roman "The Madonna of Excelsior" erzählt "klug und intelligent" von den letzten 30 Jahren in Südafrika, und hat Neil Gordon bewegt zurückgelassen. Gabriel Schoenfeld klagt bitterlich über David Edmonds' und John Eidinows Nacherzählung des berühmten Schachduells zwischen Bobby Fischer und Boris Spassky. "Bobby Fischer goes to War", biete zwar lohnende Einblicke in die hochinteressante Beziehung von Kommunismus und Schach, sei aber manchmal auch "lahm wie eine Schnecke" (hier ein Auszug aus dem Buch, hier mehr über das Duell, und hier ein langer Artikel aus Atlantic Monthly über Bobby Fischer).
Archiv: New York Times