Heute in den Feuilletons

Aber Grass war schon immer so

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
12.04.2012. Günter Grass äußert sich in der SZ irritiert: Trotz seiner massiven dichterischen Intervention zeigt sich Israel "keiner Ermahnung zugänglich". In der FAZ schlägt Durs Grünbein die Hände über dem Kopf zusammen: So dumm, so krass kann Dichtung sein. Die Medien sind der Skandal, schreibt Robert Menasse auf news.at. In der Welt diagnostiziert Henryk Broder: Grass hat den Antisemitismus einen Schritt weiter gebracht. In der Jungle World konstatiert Yoram Kaniuk: Grass hat nie über den Holocaust geschrieben. Die Zeit erklärt, warum sie das Gedicht nicht druckte: Kein Redakteur in der Zeitung wäre bereit gewesen, es publizistisch zu verteidigen.

Welt, 12.04.2012

Bernard-Henri Lévy meint, dass Grass durchaus Auswahl gehabt hätte, wenn es ihm um den Weltfrieden zu tun wäre: "Es gibt Nordkorea und seinen autistischen Tyrannen, ausgestattet mit einem großen operativen Atomarsenal. Es gibt Pakistan, von dem wir weder wissen, wie viele Sprengköpfe es besitzt, noch, wo genau sich diese befinden, noch, welche Garantie es gibt, dass sie nicht eines Tages in die Hände von Gruppen fallen, die mit al-Qaida liiert sind. Es gibt das Russland Putins, dem die Heldentat gelungen ist, in zwei Kriegen ein Viertel der tschetschenischen Bevölkerung zu vernichten. Es gibt den Schlächter von Damaskus, der es bis jetzt auf 10.000 Tote gebracht hat und dessen krimineller Starrsinn den Frieden in der Region bedroht. Und es gibt, natürlich, den Iran..."

Henryk Broder findet, dass Grass den Antisemitismus einen guten Schritt weitergebracht hat: "Er befördert das Land von einer regionalen Großmacht zu einem Global Player, der im Begriff ist, die Welt in die Luft zu jagen. Israel spielt mit unser aller Leben! Es gefährdet 'den ohnehin brüchigen Weltfrieden'! Damit sind die Israelis potenziell noch gefährlicher, als es die Nazis waren... In der historischen Perspektive war das Dritte Reich nur die Ouvertüre zu einem viel größeren Desaster, das mit der Endlösung der Menschenfrage enden könnte. Grass schafft es, die Verbrechen der Nazis zu relativieren, ohne sie zu verharmlosen."

Im Feuilleton machen Kulturredakteure nach dem "Kulturinfarkt" ein paar konkrete Kürzungsvorschläge: Zum Beispiel sollen in Frankfurt entweder die Schirn oder das MMK dran glauben. Auch das ZDF steht auf der Streichliste. Für Manuel Brug steht das Berliner Staatsballett um Vladimir Malakhov nicht mehr ganz so glänzend da wie einst. 

Weitere Medien, 12.04.2012

(Via @ronniegrob) Robert Menasse schreibt auf news.at zum Grass-Skandal: "Jeder Redakteur jeder Literaturzeitschrift heute hätte dieses 'Gedicht' abgelehnt. Der eigentliche Skandal liegt darin, dass fünfzehn deutsche Zeitungen und fünfundzwanzig Blätter der Weltpresse diesen Text publizierten und ihn sofort mit aufgeregten Kommentaren umrankten. Das zeigte mit einer Deutlichkeit, die zwar wünschenswert, aber doch buchstäblich furchtbar ist, wie sehr solche Skandale heute Medienskandale sind: Die Medien produzieren selbst den Skandal, den sie dann berichten."

Hannes Stein liest für die Jüdische Allgemeine ein paar Stellen in Grass' Romanen wieder, in denen Juden auftreten, und schließt: "Aus der Haut des 17-Jährigen bei der Waffen-SS, der er einst war, ist Günter Grass offenbar später nie wieder herausgekommen. Denn wie sein Oskar Matzerath in der 'Blechtrommel', der stumm blieb, hat er nicht darüber gesprochen."

Freitag, 12.04.2012

Erich Fried oder Günter Grass: Politische Lyrik ist ohnehin schon immer problematisch, findet Magnus Klaue: "Bei Grass wie bei Fried wird die politische Lyrik gerade dort, wo sie auf Propaganda mit Zeilenumbruch zusammenschrumpft, zum unmittelbaren Selbstausdruck eines Ressentiments, eines lange verborgenen Grolls, einer tief empfunden Zurücksetzung und 'Ungerechtigkeit', die unbedingt 'gesagt' werden muss, die zu den Millionen, die auch so denken, drängt, umso mehr, als sie angeblich nicht gesagt werden darf."

Außerdem liest Kersten Knipp Volker Kopps Buch über "Hitlers Muslime". Magnus Klaue gratuliert Gerhard Polt zum Siebzigsten. Und Michael Angele kommentiert den Skandal um das Aufmacherbild der letzten Weltwoche, die unter dem titel "Die Roma kommen: Raubzüge in der Schweiz" das Foto eines Roma-Jungen zeigt, der eine Pistole auf den Betrachter reichtet.

Jungle World, 12.04.2012

Der israelische Schriftsteller Yoram Kaniuk wirft Günter Grass im Interview vor, schon immer ein Problem mit Israel gehabt zu haben: "Wie können wir der Fluch der ganzen Welt sein? Wir haben dieses Land geschaffen, um die Juden vor ihrer Vernichtung zu retten. Darum existiert Israel. Seitdem ist das Land stärker geworden, aber wir bedrohen niemanden. Die Israelis sagen nicht einmal: Wir mögen die Deutschen nicht. Auch wenn wir natürlich ein Problem damit haben, was Deutsche vor 70 oder 80 Jahren getan haben. Ahmadinejad hingegen sagt, die Juden sind Abschaum und Israel muss vernichtet werden. Wenn Günter Grass das gefällt, ist das sein Problem. Aber Grass war schon immer so. Schon als ich ihn in den sechziger Jahren traf, war Israel ein Problem für ihn. Er konnte nie über einen Juden schreiben. Er hat nie über den Holocaust geschrieben. Dabei war das so sehr ein Teil seiner Vergangenheit."

TAZ, 12.04.2012

Rudolf Balmer wirft einen Blick auf den französischen Wahlkampf und fragt sich, wo eigentlich all die Intellektuellen geblieben sind, die vor fünf Jahren noch mitgemischt hatten, als sich etwa André Glucksmann für Sarkozy in die Bresche warf. "Für manche prominente Sarkozy-Anhänger der ersten Stunde war dessen Amtszeit eine Desillusionierung. Von ihnen hört man in diesem Wahlkampf nichts. Glucksmann dagegen meint in einem Interview mit Libération mit einem Rest von Sympathie: 'Ich bin nicht enttäuscht, sondern kritisch.'"

Weiteres: Johannes Thumfahrt beschäftigt sich mit neuen amerikanischen TV-Serien, darunter die Apokalypseserien "Doomsday Preppers" und "Doomsday Bunkers". Roger Repplinger berichtet über die Band The Refugees, ein Projekt des Musikers Heinz Ratz, der Musik mit Flüchtlingen macht.

Besprochen werden die Ausstellung "Moments" über die Geschichte der Performance im Karlsruher ZKM, Sean Durkins verstörender Film "Martha Marcy May Marlene" und der Dokumentarfilm "Work Hard - Play Hard" über deutsche Unternehmer von Carmen Losmann.

Und Tom.

NZZ, 12.04.2012

Vor hundert Jahren, 1912, wurde Delhi zur imperialen Haupstadt des britischen Raj. Urs Schoettli erklärt dies mit geografischen, symbolpolitischen und klimatischen Bedingungen: "Delhi ist, insbesondere wenn man es im Februar und März besucht, eine Stadt der Blumen. Das im Winter kühle Klima gestattet es, Gärtnerei wie im fernen Großbritannien zu betreiben."

Weiteres: Heidi Gmür stellt Cate Blanchett als Co-Leiterin der Sydney Theatre Company vor. Besprochen werden Luc Bessons Film "The Lady" über Aung San Suu Kyi (den Alexandra Räheli reichlich oberflächlich findet), Laurent Negres Schweizer Film "Operation Casablanca" und Wallace Stevens' Gedichtband "Hellwach, am Rande des Schlafs" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 12.04.2012

Günter Grass reagiert in einer kurzen Notiz auf das über ihn verhängte Einreiseverbot nach Israel, das damit nach der DDR und Birma das dritte Land ist, das den Autor auf diese Weise sanktioniert. In seiner gänzlich bescheidenen Vorstellungswelt scheint das Wohl und Wehe eines Landes offenbar von seiner Person abzuhängen: "Die DDR gibt es nicht mehr. Aber als Atommacht von unkontrolliertem Ausmaß begreift sich die israelische Regierung als eigenmächtig und ist bislang keiner Ermahnung zugänglich. - Allein Birma lässt kleine Hoffnung keimen." (Inzwischen reagierte laut Spiegel online der israelische Innenminister Eli Jischai auf Grass' SZ-Äußerung und bietet Grass ein Treffen an "neutralem Ort" an.)

Weiteres: Jörg Häntzschel hat das Auftaktkonzert einer achttägigen Konzertretrospektive aller Alben von Kraftwerk im MoMA besucht. Jens Bisky führt durch das restaurierte Neue Palais in Postdam, in dem Ende April die Ausstellung "Friederisiko" eröffnet wird. "lorc" schreibt den Nachruf auf den Kunstkritiker Manfred Schwarz, Wolfgang Jean Stock den auf den Architekten Karljosef Schattner.

Besprochen werden viele neue Kinofilme, darunter ausführlicher der Psychothriller "Martha Marcy May Marlene" und das Drama "Monsieur Lazhar", die große Renoir-Ausstellung im Kunstmuseum Basel, die es Willibald Sauerländer in ihrer Grandiosität "das Berichten ... nicht einfach" macht, und Bücher, darunter eine laut Andreas Kossert "überfällig" historische Studie von R.M. Douglas über die Vertreibungen von Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

FAZ, 12.04.2012

Schriftstellerkollege Durs Grünbein hält Günter Grass' Erstschlag-Gedicht für "eine so krasse historische Dummheit", dass ihm "die Worte fehlen". Weiterhin attestiert er dem Autor "wenig Sinn für die realen Ängste der anderen". Hans-Christian Rössler referiert unterdessen den israelischen Debattenstand.

Weiteres: Zum Gedenken an Ivan Nagel (siehe gestrige Feuilletons) dokumentiert die FAZ einen Text Nagels aus dem Jahr 1982 über die Paradoxie des frühen Blockbusterkinos, in dem es "zunehmend leicht, viel Geld, zunehmend schwer [wird], wenig Geld aufzutreiben". Jordan Mejias wünscht Kraftwerk nach deren Eröffnungskonzert einer Alben-Retrospektive im MoMA "freie Fahrt auf dieser Autobahn in den Museumsruhm" (einige Videos von dem Auftritt finden wir in diesem Youtube-Channel). Bert Rebhandl berichtet von aufregenden Entdeckungen in einer Retrospektive zum sowjetischen Kino um 1960, die gestern im Filmmuseum in Wien zu Ende gegangen ist. Joseph Croitoru liest in der aktuellen Ausgabe von Ost-West osteuropäische Beiträge zur Eurokrise. Rainer Meyer (alias Don Alphonso) isst Nudeln in Italien. Dieter Bartetzko schreibt den Nachruf auf den Architekten Karljosef Schattner.

Besprochen werden eine neue Kassette mit Aufnahmen von Duane Eddy, die Neuverfilmung vom "Krieg der Knöpfe", die Bert Rebhandl sehr enttäuscht hat, und Bücher, darunter Hélène Bessettes Roman "Ist ihnen nicht kalt" (mehr in unserer Bücherschau um 14 Uhr).

Zeit, 12.04.2012

Ursprünglich wollte Günter Grass sein Israel-Gedicht in der Zeit veröffentlichen. Jens Jessen nennt den Grund, warum sie das Gedicht nicht gedruckt hat: "Man möchte fast sagen: Es gehört sich nicht, einen Grass nicht zu drucken. Aber es wäre in der Zeit auch niemand bereit gewesen, das Gedicht gegen die erwartbare Empörung zu verteidigen, nicht einmal als notwendigen Anstoß zur Debatte." Am unangenehmsten findet Jessen am Gedicht die Verdruckstheit, die daraus spricht: "Nicht die von Grass im Besonderen, aber die deutsche Verdruckstheit im Allgemeinen."

Abgedruckt wird David Remnicks scharfe Attacke gegen die Politik Benjamin Netanjahus aus dem New Yorker. Josef Joffe beschreibt sehr informativ, wie sich die Konfrontation mit dem Iran tatsächlich darstellt.

Der Autor Christoph Kucklick ("Das unmoralische Geschlecht") springt im Dossier Ralf Bönt ("Das entehrte Geschlecht") zur Seite und erhebt Einspruch gegen ein Geschlechterbild, nachdem Frauen den Fortschritt bringen und Männer Vergewaltigung und Finanzkapitalismus. Gemäß dem Motto "Testosteron zerstört, Östrogen heilt": "Das Stereotyp vom unmoralischen, gewalttätigen, sexuell unersättlichen Mann ist weit vor dem Feminismus entstanden, an einer historischen Schlüsselstelle: zu Beginn der Moderne, um 1800. Die Geburt des maskulinen Zerrbildes ist also unmittelbar mit der Geburt der modernen Gesellschaft verbunden, seither schreiten beide, Moderne und verteufelte Männlichkeit, gemeinsam und untrennbar durch die Historie. Das Unbehagen an der Moderne wurde zum Unbehagen am Mann. Und umgekehrt."

Weiteres: Der Unternehmer und Schriftsteller Ernst-Wilhelm Händler verteidigt die Finanzbranche gegen ihre Kritiker und erkennt in den Protesten der Occupy-Bewegung vor allem eine Revolte gegen das Abstrakte. "Gerade wegen seines abstrakten Charakters bedeutet Geld Freiheit." Den Nachruf auf Ivan Nagel schreibt der frühere Frankfurter Intendant und FAZ-Theaterkritiker Günther Rühle. Moritz von Uslar trifft den Kurator Klaus Biesenbach, der im New Yorker Moma gerade eine Kraftwerk-Retrosepktive lanciert. Thomas E. Schmidt beschreibt, warum nur in Berlin der Kampf um das BMW Guggenheim Lab so aggressiv ausgetragen werden kann. Stefan Koldehoff verneigt sich vor der Essener Foto-Kuratorin Ute Eskildsen. Kilian Trotier war bei einem Einsteiger-Seminar für Facebook-Marketing.

Besprochen werden werden unter anderem Simon Curtis' Film "My Week with Marilyn", Jan Caeyers' Beethoven-Biografie (die Wolfram Goertz ganz exzellent findet) und Nedim Gürsels Roman "Allahs Töchter" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).