Heute in den Feuilletons

Als Feind wie als Beute

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
26.11.2011. In der Welt erklärt Steven Pinker, warum die Menschen mit der "Gewalt" ein fast so großes Problem haben wie mit der Mathematik. Der SZ mag nicht recht an die von Habermas' geforderte Bürgersolidarität in Europa glauben. Außerdem erliegt sie Kate Bushs dramatischer Schrulligkeit. Die taz hört Brian Wilson. Im Tagesspiegel ruft Jeff Jarvis zum Schutz der Öffentlichkeit auf. In seinem Blog erinnert Wolfgang Michal die Grünen an den Unterschied von Urhebern und Verwertern

Welt, 26.11.2011

Der Psychologe Steven Pinker erklärt Alan Posener beim Essen, warum sich Linke wie Rechte gleichermaßen über sein Buch "Gewalt" (tatsächlich geht es um den statistisch belegten Rückgang der Gewalt weltweit) aufregen: "Die Zahlen sind eindeutig. Mit Zahlen haben viele Menschen ihre Schwierigkeiten. Das hat auch mit der Arbeitsweise unseres Gehirns zu tun. Man muss das Rechnen lernen wie das Lesen. Aber viele Geisteswissenschaftler sind stolz darauf, mathematische Analphabeten zu sein."

Weitere Artikel: Marc Reichwein fragt sich, wie das durchgestrichene Ortsschild zur Ikone deutscher Protestbewegungen werden konnte. In der Glosse freut sich Matthias Heine, dass man in Pakistan wieder straflos das Wort "Jesus" simsen darf. Manuel Brug gratuliert zum renovierten Feierabendhaus der BASF in Ludwigshafen.

In der Literarischen Welt ist die Tübinger Poetik-Dozentur von Brigitte Kronauer abgedruckt. Wieland Freund unterhält sich mit Robert Harris über dessen Finanzmarkt-Thriller "Angst", selbstlernende Algorithmen und den - realen - Flash Crash vom 6. Mai. Besprochen werden Holger Hofs Benn-Biografie, Ottfried Daschers Biografie des Kunsthändlers Alfred Flechtheim, Willibald Sauerländers Buch über den katholischen Rubens, fünf Bände mit Essays von Mahatma Gandhi, Don Winslows Drogenkrimi "Zeit des Zorns" und Sarah Kaminskys Biografie des Fälschers und Resistant Adolfo Kaminsky.

Tagesspiegel, 26.11.2011

Im Interview macht Jeff Jarvis "kulturelle Gründe" dafür aus, dass sich die Deutschen so schwer tun mit der Öffentlichkeit des Internets. "Die Reaktion darauf, wie das Internet die Privatsphäre in Frage stellt, ist in Deutschland viel heftiger als fast überall sonst. In einer Zeit, in der ganze Wirtschaftszweige auf Öffentlichkeit beruhen, frage ich mich, ob die deutsche Psyche dafür bereit ist und ob das Auswirkungen darauf haben wird, wo Deutschland in der zukünftigen digitalen Ökonomie steht. Wir müssen die Öffentlichkeit in Deutschland schützen."

Aus den Blogs, 26.11.2011

Wolfgang Michal liest den netzpolitischen Leitantrag für den Parteitag der Grünen und kritisiert besonders die Einlassungen zum Urheberrecht: "Oft verkürzen die Grünen (wie die Piraten) den Interessenkonflikt auf den Gegensatz zwischen Verbrauchern und Verwertern, während der Dissens zwischen Urhebern und Verwertern außen vor bleibt. Weder die Grünen noch die Piraten haben bislang einen ernsthaften Dialog mit den Urhebern begonnen."
Stichwörter: Urheberrecht

TAZ, 26.11.2011

Ob Brian Wilson seine Seele nur für kurze Zeit an den Teufel verkauft hat? Detlef Diederichsen erzählt skizzenhaft die möglicherweise diabolische Geschichte hinter dem 1967 unvollendet gebliebenen und erst dieser Tage veröffentlichten Album "Smile" der Beach Boys, mit dessen neuerer Einspielung Diederichsen aber nicht einverstanden ist: "2004 war eine Übermacht stumpfer Mucker am Werk, die die emotionale Vielschichtigkeit der Musik komplett überforderte." Dazu gibt es weitere Standpunkte von den Musikern Tim Gane und Carsten Meyer.

Weiteres: Jutta Lietsch unterhält sich mit dem chinesischen Umweltaktivisten Wen Bo. Besprochen werden die Ausstellung "Der geteilte Himmel 1945 - 1968" in der Neuen Nationalgalerie in Berlin, das Berliner Konzert von Funk-Meister George Clinton, Ottfried Daschers Biografie des Sammlers Alfred Flechtheim "Es ist was Wahnsinniges mit der Kunst" und Manuele Fiors Comic "Fünftausend Kilometer in der Sekunde" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

Außerdem erscheint heute eine weitere Literataz, in der unter anderem Frank Schäfer Pete Dexters schlammigen Western "Deadwood" bespricht.

Und Tom.

FR/Berliner, 26.11.2011

"Jede Moby-Dick-Verfilmung verfehlt nichts weniger als eine Welt", schreibt Christian Thomas und sieht somit auch die an diesem Wochenende auf RTL ausgestrahlten neuen Fernsehfilm-Adaption von Melvilles Waljagdklassiker ohne viel Gefallen. Der Politikwissenschaftler Claus Leggewie macht sich Gedanken, wie bei Stuttgart 21 vergleichbaren Großprojekten schon aus Gründen der Konfliktvermeidung frühzeitig Bürgerbeteiligung gewährleistet werden könnte.

Besprochen werden die beiden Aufführungen von Schillers "Die Verschwörung des Fiesco zu Genua" und Christian Dietrich Grabbes "Herzog Theodor von Gothland" am Badischen Staatstheater, deretwegen Judith von Sternburg eine Reise nach Karlsruhe empfiehlt, und Ulrich Ritzels Krimi "Schlangenkopf" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

NZZ, 26.11.2011

In Literatur und Kunst zeigt sich Roman Hollenstein nicht ganz überzeugt von Preston Scott Cohens spektakulärem Erweiterungsbau für das Tel Aviv Museum of Art, versteht aber sehr gut "Israels baukünstlerisch engagiertere Architekten, die in den letzten Jahren keinen leichten Stand hatten und deshalb auf eine Erneuerung der seit dem Sommer in Protestkundgebungen immer wieder beschworenen Wohnbautradition hoffen". Bayerns früherer Kultusminister Hans Maier möchte den "Namen des Allmächtigen" in den Präambeln europäischer Verfassungen und Verträge beibehalten.

In der Kultur feiert Marion Löhndorf die große Leonardo-da-Vinci-Schau in der National Gallery London. Urs Hafner besichtigt ehrfürchtig eine Ausstellung jüdischer Schriftkultur im Landesmuseum Zürich.

Besprochen werden unter anderem Johan Huizingas Schriften "Amerika" und der bisher nur auf Französisch erschienene Briefwechsel zwischen den Künstlern Nicolas Bouvier und Thierry Vernet (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages)

FAZ, 26.11.2011

Julia Voss sieht Anlass, den Erfinder der Kulturkreislehre, Kaiserfreund und Nazi-Sympathisanten Leo Frobenius wieder aus der Mottenkiste zu holen: Seine Sammlung afrikanischer Felsbilder sei einflussreicher, vor allem auf die amerikanische Kunst, als bisher angenommen. Andreas Rossmann erzählt, wie sich das bunte Kölner Ehrenfeld gegen Gentrifizierung und Shoppingmalls behauptet. Nicht geheuer ist es Friedrich von Borries, wie in Berlin jetzt Wodka-Marken mit Austellungen für sich werben, die der Mixkultur huldigen. Der Jurist Norbert Hoerster erklärt seinen Austritt aus der Giordano-Bruno-Gesellschaft. Oliver Tolmein fragt sich, was an einer Organspende noch freiwillig ist, wenn Politik und Gesellschaft einen derartigen Erwartungsdruck aufbauen. Jürgen Dollase testet die Nova-Regio-Küche des Schweizer Kochs Stefan Wiesner im "Gasthof Rössli". Paul Ingendaay besucht die Ausstellung über Stalins Hofmaler "Aleksandr Deineka" in der Madrider Fundacion Juan March. FAZ-Mitarbeiter empfehlen ihre Lieblingsbücher, -filme und CDs. Außerdem erscheint heute eine zweite Literaturbeilage: Im Aufmacher bespricht Lena Bopp Josh Weils Novelle "Das neue Tal".

Bilder und Zeiten beglückt seine Lesern mit einem Adventsalphabet. Karen Krüger berichtet, wie das syrisch-orthodoxe Kloster Mor Gabriel in der Türkei seinen Grundbesitz gegen den türkischen Staat verteidigt. Bernd Noack stellt das "Zentrum Gedankendach" vor, das im galizischen Czernowitz an die untergegangene deutsche Kultur in Osteuropa in Europa erinnern soll. Julia Spinola trifft den Dirigenten Neville Marriner. Auf der Seite Schallplatten und Phono befasst sich unter anderem Christiane Tewinkel mit den beiden Countertenören Philippe Jaroussky und Max Emanuel Cencic.

In der Frankfurter Anthologie stellt Hans Christoph Buch Heinrich Heines Geharnischte Verse "An Fritz St." vor:

"Die Schlechten siegen, untergehn die Wackern,
Statt Myrten lobt man nur die dürren Pappeln...

SZ, 26.11.2011

Viel Spott hat Gustav Seibt im Feuilleton für Jürgen Habermas' neue Schrift "Zur Verfassung Europas" übrig, die auf staatliche Institutionen und die Solidarität der europäischen Bürger setzt: "Hier fragt man sich allerdings, welche Teile Europas Jürgen Habermas aus eigener Anschauung, das heißt: in ihrem Alltag, kennt. Bestimmt nicht Italien oder Griechenland. Dort wird der Staat von einem Großteil der Bürger sowohl als Feind wie als Beute begriffen, nicht jedoch als Bürge für Freiheit und Gerechtigkeit."

Ganz außer sich vor Glück ist Jan Kedves über "50 Words for Snow", das neue Album der Popelfe Kate Bush: "Das in seiner dramaturgischen Schrulligkeit rundum überzeugende Album wirkt, als habe die 53-Jährige zunächst ein paar dringende Wünsche verspürt, die zwar in keinerlei Zusammenhang standen, die nun aber zeitgleich in Erfüllung gehen: So wollte sie in ihrem Leben unbedingt einmal mit Elton John als tragisches Liebespaar duettieren, einmal die Sprache der Klingonen verwenden und außerdem noch schnell die Stimme ihres Sohnes konservieren, bevor bei ihm der Testosteronkick einsetzt." Hier kann man das Album probehören.

Weitere Artikel: Anlässlich des Re-Releases des 1978'er Albums "Some Girls" der Rolling Stones erzählt Willi Winkler mit feuchten Augen unter anderem davon, wie er seinerzeit beim Konzert in Los Angeles vor der Bühne stand und Mick Jaggers Rippen zählte. Das neue, gerade von der Kreativindustrie schwer angegriffene Grundsatzpapier der Grünen zeugt Tobias Kniebe zufolge von der "Hilflosigkeit, mit der die Politik der Netzwelt immer noch gegenübersteht". Kurz und bündig spricht Tanjev Schultz mit Rechtswissenschaftler Oliver Lepsius, der KT zu Guttenberg öffentlich einen "Betrüger" genannt hatte, und fasst außerdem einen auf einer Tagung in Bayreuth gehaltenen Vortrag von Peter Sloterdijk über den Status des Plagiats in unserer Kultur zusammen. Jens Bisky empfiehlt die Lektüre der neuen Ausgabe der Zeitschrift für Ideengeschichte zum Thema "Saupreußen". Volker Breidecker gratuliert dem Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch zum 70. Geburtstag.

Besprochen werden die Inszenierung von "Verrücktes Blut" am Staatstheater Braunschweig und Julia Francks neuer Roman "Rücken an Rücken" (mehr in unserer Bücherschau ab 14 Uhr).

Immer diese Wutbürger: Anlässlich der Volksabstimmung betreffs Stuttgart 21 empfiehlt ein gallig angenervter Gerhard Matzig in der SZ am Wochenende den Verantwortlichen aller anderen anstehenden Großbauprojekte, etwa im bayerischen Inntal, einen Blick nach Österreich, wo von Anfang an Mediatoren zum Einsatz kommen. Rudolph Chimelli fasst die Geschichte der Militärregierungen im arabischen Raum zusammen. Porträtiert wird die Pianistin Helene Grimaud, Johannes Wilms unterhält sich mit dem Bildhauer Georg Baselitz, dem derzeit in Paris eine Ausstellung gewidmet ist.