Heute in den Feuilletons

Es ist ein Recht am Inhalt

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
17.11.2010. Oskar Pastior hat Schuld auf sich geladen, meint die Welt nach Dieter Schlesaks Enthüllungen über die Securitate-Berichte des Dichters. Die NZZ ist dagegen vorsichtiger und zitiert den Germanisten Stefan Sienerth: "Man soll keine Dinge in die Welt setzen, die nicht eindeutig belegt sind." Sienerth spricht auch in der FAZ über den Fall. Die Welt bringt außerdem die Verteidigungsrede des iranischen Regisseurs Jafar Panahi. In der FR findet Hans Mommsen nichts Neues an der Studie zum Auswärtigen Amt. Christoph Lemmer erzählt in seinem Blog von einem eindrucksvollen Protest gegen die drohende Steinigung Sakineh Ashtianis.

Welt, 17.11.2010

Die Welt bringt die Verteidigungsrede des iranischen Regisseurs Jafar Panahi ("Offside"), dem in der vorigen Woche in Teheran aufgrund nicht näher genannter Anschuldigungen der Prozess gemacht wurde. Im März war er verhaftet worden und erst nach weltweiten Protesten gegen Kaution freigelassen: "Mein Fall ist das Musterbeispiel einer Bestrafung, die verhängt werden soll, ehe ein Verbrechen begangen wird... Weder begreife ich den Vorwurf der Obszönität, der den Klassikern der Filmgeschichte gemacht wird, noch kann ich verstehen, welches Verbrechens ich mich schuldig gemacht haben soll. Wenn diese Vorwürfe zutreffen, stellen Sie nicht nur uns vor Gericht, sondern das gesamte gesellschaftlich bewusste, humanistische und künstlerische Kino des Iran, ein Kino, das weder über Gut und Böse urteilt noch sich der Macht oder dem Geld unterwirft, sondern ein wahrhaftiges und wirklichkeitsgetreues Bild unserer Gesellschaft zu zeichnen versucht."

Elmar Krekeler kommentiert sehr bitter, was der Dichter Dieter Schlesak über Oskar Pastiors Dienste für die Securitate gestern in der FAZ berichtete: "So mag, wie Schlesak noch im September schrieb, tragisch gewesen sein, was Pastior dazu brachte, zu unterschreiben, und verständlich, dass er es tat. Was er danach als 'Stein Otto' zusammentrug, wird nicht seinen Rang als Lyriker gefährden. Aber es ist - das zeichnet sich ab - nicht tragisch, nicht verständlich, sondern bleibt banale, erbärmliche Spitzeltätigkeit. Schuld."

Weiteres: In einem Gespräch unterhalten sich die Architekten Arno Brandlhuber, Jörg Ebers und Friedrich von Borries über das neue Bauen in Berlin ohne Zwang zu Blockfassade. Richard Kämmerlings berichtet von der Aktion des Konzerns Intel, vier Bestsellerautoren die Zukunft der Halbleiter ausmalen zu lassen.

TAZ, 17.11.2010

Auch wenn er Milosevic und Karadzic verteidigte - Peter Handke war nie ein politischer Autor, meint Ulrich Rüdenauer nach Lektüre von Malte Herwigs Biografie des Dichters: "Gegen die Wirklichkeit, die er im wahrsten Sinne des Wortes begeht, setzt er die poetische Sprache, die Fantasie, etwas Anderes. Dieses Andere, das ist die Literatur - eine Form, die keine Parolen nachplappern und keine Ziele verfolgen will."

Besprochen wird die neueste Harry-Potter-Verfilmung.

Auf der Meinungsseite rät Ilija Trojanow, im Supermarkt der Religionen auch mal zum benachbarten Angebot zu greifen.

Und Tom.

FR, 17.11.2010

Etwas mehr Zeit als die geförderten drei Jahre hätte Hans Mommsen der Historikerkommission für ihre Studie über "Das Amt" gewünscht, dann wäre vielleicht etwas Neues herausgekommen. So bringt ihm zumindest der erste Teil über die Mitwirkung des Auswärtigen Amtes am Holocaust "keine neuen Einsichten, die über das Material in der seinerzeit von Hans Rothfels geleiteten Edition der 'Akten zur deutschen auswärtigen Politik' - die den Herausgebern bei der Schilderung der Nachkriegsgeschichte des Amtes nicht einmal eine Fußnote wert war - entscheidend hinausgingen. Auch gegenüber der bereits vorliegenden umfangreichen Sekundärliteratur - so der Darstellung Christopher Brownings über 'Die 'Endlösung' und das Auswärtige Amt' - ergeben sich keine neuen Einsichten."

Weitere Artikel: Im Interview erklärt Ingrid Kolb, warum sie weder Alice Schwarzer mag (benimmt sich "wie ein alter Macker" und hat alle Glaubwürdigkeit verloren, seit sie für die Bild-Zeitung schreibt) noch Kristina Schröder (mit ihrer "ausgesprochen lahmarschigen Haltung" Frauenfragen gegenüber). Ebenfalls im Interview ärgert sich Julian Schnabel, der mit "Miral" gerade einen autobiografischen Roman seiner Lebensgefährtin über ein palästinensisches Waisenkind verfilmt hat, über Kritiken, die ihm Einseitigkeit vorwerfen: "Aber ich sehe meine Aufgabe nun einmal darin, die Geschichte dieser einen Person zu erzählen. Ich kann nicht die gesamte israelische Geschichte darstellen." Daniel Kothenschulte kann in seiner Kritik den Vorwurf der Einseitigkeit nicht teilen: "Betont ausgewogen vermittelt Schnabels Film stets beide Perspektiven, stellt israelischen Folterpolizisten die mafiösen Strukturen innerhalb der palästinensischen Befreiungsorganisation gegenüber." Und auch künstlerisch findet er den Film gelungen. Hans Jürgen Linke fasst die Vorwürfe zusammen, die Dieter Schlesak gestern in der FAZ gegen Oskar Pastior erhoben hat.

Auf der Medienseite schreibt Daniel Bouhs, dass Vodafone schon zum Weihnachtsgeschäft im mobilen Netz die zwei Klassengesellschaft einführen will.

Besprochen werden Händels Oper "Alcine" an der Wiener Staatsoper und die Ausstellung "abstrakt Abstrakt" im Frankfurter Kunstverein.

Aus den Blogs, 17.11.2010

Christoph Lemmer erzählt auf seinem Blog Bitterlemmer von seinem eindrucksvollen Protest gegen die drohende Steinigung von Sakineh Ashtiani im Iran - er projizierte einen Film auf eine Leinwand vor der iranischen Botschaft in Berlin, umgeben von einem schütteren Häufchen von Demonstranten. Die Berliner Polizei war misstrauisch: "Das Werfen von Licht auf eine Fassade aus Protest gegen das Totwerfen mit Steinen finde ich dagegen vergleichsweise tolerabel. Ich finde es sogar tolerabler als das Schottern von Gleisen, was merkwürdigerweise gesellschaftlich akzeptierter zu sein scheint. Beklemmend finde ich außerdem, dass die Inhaftierung von Ashtianis Sohn, ihrem Anwalt und den beiden Berliner Journalisten so gespenstisch im Halbverschweigen hängt. Über das Schicksal von Sohn und Anwalt ist offenbar nichts bekannt. Es gibt kein Lebenszeichen von ihnen. Was die beiden Journalisten betrifft: Deren Namen nennt bisher niemand öffentlich."
Stichwörter: Iran, Licht, Sohn

NZZ, 17.11.2010

Mona Sarkis beschreibt, wie viel Profit sich aus der gerade wieder stattfindenden Hadsch in Mekka schlagen lässt: "Auf Teilen des 230.000 Quadratmeter umfassenden Berges Omar bauen derzeit die Saudi Bin Laden Group und das vom libanesischen Premier Saad al-Hariri geführte Unternehmen Saudi Oger unter anderem 40 Meter breite, auf die Kaaba ausgerichtete Fußgängerwege, 37 Wolkenkratzer mit bis zu 41 Stockwerken für 36.000 Bewohner und 150.000 Pilger, eine 82.000 Quadratmeter große Gebetsstätte für 60.000 Pilger sowie Shopping-Malls voller Starbucks- und Pizza-Hut-Filialen."

Verstörend findet Joachim Güntner die Vorwürfe, die der Dichter Dieter Schlesak gestern in der FAZ gegenüber Oskar Pastior erhoben hat. Demnach habe Pastior Schlesak, aber auch den Dichter Georg Hoprich bei der Securitate denunziert. Aber Güntner warnt vor schnellen Urtielen: "Für Stefan Sienerth, der die Akten genauer kennt als Dieter Schlesak, ist das keineswegs ausgemacht. 'Man soll keine Dinge in die Welt setzen, die nicht eindeutig belegt sind', kommentiert er den Fall Hoprich. Schlesak könne sich nur auf Auskünfte berufen, die ihm ein weiterer rumäniendeutscher Schriftsteller, Hans Bergel, im Gespräch gegeben habe. Zwar habe Bergel über die Causa Hoprich publiziert, jedoch nichts Stichhaltiges gegen Pastior vorgetragen."

Weiteres: Peter Hagmann macht sich weiterhin für die spektakuläre Salle Modulable in Luzern stark, auch wenn die privaten Donatoren nun ihr Schenkungsversprechen zurückgezogen haben. Insgesamt geht es auf zwei Seiten es um die mit dem Projekt verbundenen Fragen. Besprochen werden Klaus Martin Girardets Studie über Konstantin den Großen und Annika Scheffels Roman "Ben" (mehr ab 14 Uhr in unserer Bücherschau des Tages).

SZ, 17.11.2010

Im Aufmacher erzählt Willi Winkler unter Rückgriff auf einen Artikel der New York Times alte Geschichten über alte Nazis (darunter Klaus Barbie), die von den USA im Kalten Krieg gegen die Sowjetunion recyclet wurden. Christopher Schmidt verweist auf Julian Barnes' großen London Review-Artikel über Lydia Davis' neue "Bovary"-Übersetzung (mehr in unserer Magazinrundschschau, hier ein Auszug aus der Übersetzung). Kathrin Lauer schickt einen Hintergrundbericht aus Rumänien, wo man sich trotz Herta Müllers Kritik nicht so recht mit der Vergangenheit auseinandersetzen zu wollen scheint. Ira Mazzoni resümiert eine Tagung zur Exilforschung in München. Thomas Kirchner porträtiert Martin Bosma, den Redenschreiber Geert Wilders', dessen dessen "antiliberale und antiislamische" Einstellungen für ihn klare Beweggründe haben ("Ein Blick in Bosmas Büro, und die Fronten sind geklärt. Neben einer riesigen israelischen Flagge und der New Yorker Skyline (mit den Twin Towers) hängen Bilder von Ronald Reagan, Alexander Solschenizyn, Menachem Begin, Mosche Dajan - und Wladimir Jabotinsky, einem der radikalsten Zionisten"). Lothar Müller gratuliert Jean Starobinski zum Neunzigsten. Auf der Medienseite wird berichtet, dass sich Alfred Neven DuMont von seinem Sohn Konstantin distanziert.

Besprochen werden Lisa Cholodenkos Filmkomödie "The Kids Are All Right" (mehr hier), das von Xin Peng Wang choreografierte Handlungsballett "h.a.m.l.e.t - die Geburt des Zorns" über den Amokläufer von Winnenden in Dortmund, und Mozarts 'Finta giardiniera' unter Regisseur David Alden und Dirigent Rene Jacobs in Wien

Die Seiten 2 und 3 sind der Sensation gewidmet, dass Facebook ein integriertes Kommunikationssystem errichten will, das Chat, E-Mail und SMS einschließt. Auf Seite 3 schreiben Andrian Kreye, Alex Rühle und Christopher Schrader über den Kampf der "Giganten in Jeanshosen" namens Brin und Page und Jobs und Zuckerberg.

FAZ, 17.11.2010

Im Interview auf der Medienseite sieht Hubert Burda Hoffnung für den Zeitschriftenmarkt, beklagt die Google zu verdankende Fixierung auf die Währung Cost-per-Click im Internet und erklärt noch einmal, dass das von den Verlegern vehement geforderte Leistungsschutzrecht nicht mehr aufzuhalten sein wird: "Das wird kommen. Wir können nicht Inhalte herstellen, von denen andere am stärksten profitieren. Das sieht auch die Bundesregierung so, und ich wünsche mir, dass auch der Bundesverband der Deutschen Industrie das verstehen wird. Die Verleger brauchen das Leistungsschutzrecht. Es ist ein Recht am Inhalt, ähnlich dem von Patenten."

Weitere Artikel: Auf die Frage, ob Oskar Pastior nach Dieter Schlesaks Informationen über dessen ausgedehnten Spitzelberichte neu bewertet werden muss, antwortet der Direktor des Instituts für deutsche Kultur und Geschichte Südosteuropas Stefan Sienerth, der ohne konkrete Einzelfallkenntnisse auf den Fall Pastior als erster hingewiesen hatte: "Der Mensch Pastior schon, der Dichter nicht." Christian Geyer deutet die Versuche der CDU, ihr christliches Profil unter anderem mit dem PID-Verbot zu schärfen, als demokratietheoretisch zulässigen Aufruf, religiöse Motive in die politische Debatte zu bringen, in der sie dann vor säkularem Horizont diskutiert werden können. Jan Brachmann hat sich mit dem Intendanten der Berliner Philharmoniker Martin Hoffmann zum Gespräch getroffen und erfährt unter anderem, dass sowohl das Marketing als auch die zeitgenössische Musik verstärkt eine wichtige Rolle spielen sollen. Als "maßlos" kritisiert Andreas Kilb die Kürzungsabsichten des Außenministeriums beim ohnehin immer unterfinanzierten Berliner Haus der Kulturen der Welt. In französischen Zeitschriften liest Jürg Altwegg Sport-Artikel, unter anderem über den Fußball als Einwanderungskultur. Hannes Hintermeier gratuliert der Pumuckl-Autorin Ellis Kaut zum Neunzigsten. Michael Göring schreibt zum überraschenden Tod der Hamburger Mäzenatin Birte Toepfer.

Besprochen werden Adrian Marthalers Inszenierung von Rossinis "Guillaume Tell" an der Oper in Zürich, die Ausstellung "Laszlo Moholy-Nagy - Kunst des Lichts" im Berliner Martin-Gropius-Bau, eine Ausstellung über die Schriftstellerin Irene Nemirovsky im Memorial de la Shoah in Paris, der erste Teil des letzten Teils der Harry-Potter-Saga, und Bücher, darunter Rolf Schneiders neuer Roman "Marienbrücke" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).