Heute in den Feuilletons

Diese innere Differenz

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
16.11.2010. In der FAZ erhebt Dieter Schlesak schwere Vorwürfe gegen seinen einstigen Freund Oskar Pastior, der ihn und andere für die Securitate offenbar intensiv bespitzelte. In der Welt spricht die Arabistin Angelika Neuwirth über den mediterranen Synkretismus des Koran. Die SZ fragt: Sind wir wirklich die Menschheit oder eine Pilzkrankheit auf Mutter Erde? Mashable erzählt, wie sich die Redakteure von Newsweek.com gegen die Fusion von Newsweek und The Daily Beast wehren. Das Netz diskutiert über das neue E-Mail-Programm von Facebook.

Welt, 16.11.2010

Die Arabistin Angelika Neuwirth erklärt im Interview, warum der Koran nicht nur arabische, sondern generell mediterrane Wurzeln hat. "Das ist ein Wagnis, aber wir erkennen immer deutlicher: da war viel mehr kulturelle Auseinandersetzung, als wir annahmen. Dem kann man im Koran nachspüren. Von Allah heißt es, 'Er zeugte nicht und ist nicht gezeugt'. Ein direkter Bezug auf das Glaubenbekenntnis von Nicäa, wo es von Jesus heißt, er sei 'gezeugt, nicht erschaffen'. Auch das 'Schma Jisrael' hallt nach."

Weitere Artikel: Eine Meldung informiert uns, dass der Louvre noch Privatspender sucht (Webseite), um Cranachs "Drei Grazien" erwerben zu können. Elmar Krekeler versteht gar nicht, warum schwedische Männer so einen guten Ruf in Bezug auf Frauen haben, zieht sich doch seit vierzig Jahren "eine Spur des Frauenhasses" durch ihre Kriminalromane. Und Jürgen Hillesheim, Leiter der Brecht-Forschungsstätte Augsburg, berichtet von zwei bisher unbekannten Briefen Brechts an seine Frau Helene Weigel, die ihn als "Meister des taktischen Spiels" zeigen (man könnte auch sagen: wie er sich ins Theater am Schiffbauerdamm mobbte).

Besprochen werden eine CD von Neil Diamond, Salvador Dalis Disneyfilm "Destino" auf DVD und die Aufführungen von Mozarts "La finta giardiniera" und Händels "Alcina" in Wien.

Spiegel Online, 16.11.2010

TechCrunch annoncierte es schon vor Tagen. Facebook will einen E-Mail-Killer auf den Markt bringen, um Google endgültig auszustechen und das Netz in toto zu übernehmen. Mark Zuckerberg stellte das ambitionierte Programm gestern vor, Christian Stöcker berichtet in Spiegel Online: "Die klassische E-Mail, das Facebook-interne Postsystem, Instant Messaging (elektronische Kurzmitteilungen), SMS und weitere Dienste anderer Anbieter sollen in einer universellen Schnittstelle zusammengefasst werden."
Stichwörter: Facebook, Google, Zuckerberg, Mark

FR, 16.11.2010

Claus Leggewie blickt auf die konfliktschürende und friedensstiftende Rolle von Religionen in der Weltgeschichte zurück, schätzt, dass sich beides in allen Glaubensrichtungen ungefähr die Waage hält, und meint: "Deswegen muss auch der Westen über den Schatten seiner Kultur springen und damit verbundene Hegemonieansprüche aufgeben."

Weiteres: Jürgen Otten stellt sehr freundlich den Dramatiker Oliver Kluck vor, der gerade den Kleist-Förderpreis erhalten hat: "Allen Figuren Klucks haftet diese innere Differenz an, im Grunde sind sie die personifizierte Antinomie. Statt der Gesellschaft zu widersprechen, die sie (wie der Autor meint: bewusst) deformiert, widersprechen sie sich selbst." Brigitte Preisler berichtet vom Open Mike Wettbewerb in Berlin. Besprochen werden Christof Nels Inszenierung der "Elektra" an der Genfer Oper und zwei Bücher über die jüdische Siedlung Sosua in der Karibik.

NZZ, 16.11.2010

Joachim Güntner resümiert die jüngsten Artikel über die neue Wut der Bürger und kommt zu dem Schluss: "Nicht dem Wutanfall, der Depression gehört die Zukunft." Brigitte Kramer blickt anlässlich einer Ausstellung auf Istanbuls Stadtentwicklung zurück. Uwe Justus Wenzel schreibt zum Tod des Naturwissenschaftlichen Multitalents Ernst von Glasersfeld.

Besprochen werden die Ausstellung "Gesamtkunstwerk Expressionismus" auf der Mathildenhöhe in Darmstadt, Konzerte bei den Tagen für Neue Musik in Zürich, Lars Gustafssons und Agneta Blomqvists Handbuch fürs Leben "Alles, was man braucht" sowie Hansjörg Schertenleibs Roman "Cowboysommer".

Auf der Medienseite berichtet Carola Hoffmeister von neuen Gedenkformen im Internet, digitalen Friedhöfen wie den Seiten stayalive.com oder clickandremember.com: "Facebook für Tote".

TAZ, 16.11.2010

Die taz war heute morgen nicht online, darum ohne Links.

Robert Ackermann informiert, dass der Regisseur Tarek Ehlail nach "Chaostage - We are Punks" nun einen weiteren Film über ein linkes Thema dreht, den FC Sankt Pauli. Andreas Wirthensohn liest Altersgedichte von Ernst Halter, Harald Hartung und Rolf Haufs. Renate Klett porträtiert den Choreografen Tchekpo Dan Agbetou, der den afrikanischen Tanz in Deutschland einbürgert.

Aus den Blogs, 16.11.2010

Newsweek soll bekanntlich mit dem Blog The Daily Beast fusionieren. Auf der Strecke bleibt Newsweek.com, dessen erbitterte Redakteure nun ein Blog gegründet haben, berichtet Lauren Indvik, die Gründungserklärung lesend, in Mashable: "It's a passionate cry for the preservation of the award-winning enterprise, which has managed, as it points out, to attract numerous awards and an audience much greater than that of its print counterpart despite constant changes in leadership and a small staff of 18. It?s also bitter, calling itself the 'ugly stepchild to its print grandparents, who were too busy burning money to notice.'"

FAZ, 16.11.2010

Als vor kurzem die Spitzeltätigkeit Oskar Pastiors ("IM Stein Otto") für die Securitate bekannt wurde, hofften alle Freunde, es werde vielleicht keine inkriminierenden Spitzelberichte geben. Diese Hoffnung macht der bestürzte rumäniendeutsche Autor Dieter Schlesak, einst ein Freund des Dichters, nach Einsicht in die Akten zunichte. Pastior hat ihn observiert und als Anhänger westlicher Dekadenzliteratur denunziert. Viel schlimmer noch: Ihn trifft auch eine Mitschuld am Selbstmord des Dichters Georg Hoprich im Jahr 1969: "'Stein Otto' ist auch nach der Entlassung Hoprichs aus der Haft immer wieder nach Hermannstadt gefahren, um Hoprich zu treffen und Berichte zu schreiben. Nicht nur er, sondern viele Agenten und Offiziere beobachteten Hoprich rund um die Uhr. Dieser wurde dadurch, dass so die Gefängnistraumata stets wieder hochkamen, ebenso wie die Angst, erneut eingesperrt zu werden, so fertiggemacht, dass er sich 1969 umbrachte."

Weitere Artikel: Beim diesjährigen Open-Mike-Wettbewerb blieben, wie Wolfgang Schneider konstatiert, die Literaturwissenschafts- und Philosophiestudierenden (unter den anonym ausgewählten Vortragenden!) fast unter sich. Gewonnen hat dann Jan Snela mit seiner Erzählung "Milchgesicht", die, freut sich Schneider, tatsächlich "die witzigste" der ganzen Veranstaltung war. In der Glosse glaubt Regina Mönch, dass beim Kampf gegen die kriminellen Familienclans der Mhallamiye-Kurden und Libanesen in Berlin weitere Konzepte wohl kaum helfen werden. Mit kritischen Augen, weniger, was den Bau als den Ort und den Auftraggeber angeht, begutachtet Magdalena Kröner den von Norman Foster entworfenen Neubau (Bild) für die Galerie Sperone Westwater in New York. Paul Ingendaay meldet, dass die Romane von Mario Vargas Llosa sich seit dem Nobelpreis in Spanien zehnmal besser verkaufen als zuvor. Auf der Medienseite würdigt Nina Rehfeld die amerikanische Zombie-Fernsehserie "The Walking Dead".

Besprochen werden eine von Adrian Noble inszenierte und von Marc Minkowskis Musiciens du Louvre gespielte Aufführung von Händels Oper "Alcina" an der Wiener Staatsoper (Dirk Schümer will es fast nicht glauben: Barock an der Staatsoper? Und dann noch ein Riesenerfolg beim Publikum! Da kann er den neuen Intendanten Dominique Meyer gar nicht genug loben), Christoph Marthalers und Anna Viebrocks Musical-Variante "Meine faire Dame" in Basel, ein Konzert in München, bei dem sich gleich vier Solisten (plus Orchester) jeweils an Beethovens Violinkonzert versuchten, Klaus Weises "Hedda Gabler"-Inszenierung in Bonn, eine Ausstellung mit Werken der Bildhauer August Gaul und Fritz Klimsch im Museum Giersch in Frankfurt und Bücher, darunter Harald Martensteins Roman "Gefühlte Nähe" (mehr dazu in der Bücherschau ab 14 Uhr).

SZ, 16.11.2010

Ist die Menschheit wirklich die Menschheit?, fragt sich Alex Rühle angesichts von Luftbildern des Deutschen Fernerkundungsdatenzentrums (DFD), die die Ausbreitung der Megastädte farbig hervorheben. Oder ist sie "Die Ausbreitung einer Pilzkrankheit? Ein Hirntumor, der sich rasend schnell an Neuronenbahnen entlangfrisst? Eine Gigathrombose? Oder die Explosion einer Druckerpatrone? Hätten andere, zukunftsfrohere Zeiten lichtere Assoziationen zu diesen Aufnahmen gehabt?!"

Weitere Artikel: Andrian Kreye warnt im Aufmacher vor den zur Zeit grassierenden "Kulturkämpfen" um Islam, Internet oder PID, die den Politikern nur als "willkommene Störmanöver" dienten, um wirklich harte Themen wie "die Erosion des Mittelstandes und die zunehmende Frustration des Bildungsbürgertums" zu verdrängen. Catrin Lorch begutachtet eine Installation Daniel Burens in der Synagoge Stommeln. Alexander Kissler besuchte eine Tagung über "Totengedenken und Memorialkultur im Vereinsfußball" in Irsee. Jean-Michel Berg verfolgte den 18. Open Mike-Wettbewerb der Berliner Literaturwerkstatt. Volker Breidecker gratuliert Chinua Achebe zum Achtzigsten. Janek Schmidt informiert über islamistische Videos im Netz. Und Jonathan Fischer wagte sich in die verrufensten Clubs von New Orleans, um über neueste Trendenzen des "Sissy Bounce" informieren - einer Hiphop-Spielart, bei der Transvestiten stottern statt rappen und ebenso schnell mit dem Hintern wackeln, Star der Szene ist Sissy Nobby. Hier eine Probe ihres Könnens:



Besprochen werden Händels "Alcina" unter Marc Minkowski an der Wiener Staatsoper und Robert Schumanns Bühnenmusik zu "Manfred" in Berlin.