Heute in den Feuilletons

Heute in den Feuilletons

Die kommentierte Kulturpresseschau. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.06.2006. Die SZ fragt mit Nike Wagner: Braucht Bayreuth wirklich Subventionen? Die NZZ wünscht der Lesekultur in Südafrika alles Gute. Die Welt berichtet, dass die Niederlande eine jüdische Kunstsammlung im Wert von einer Milliarde Euro restituieren müssen. In der FR gratuliert Ulla Unseld-Berkewicz dem Theatermann und -autor Ivan Nagel zum 75. Die Berliner Zeitung beklagt den filmgeschichtlichen Analphabetismus der deutschen Jugend, die FAZ die Unterjüngtheit Deutschlands an und für sich.

TAZ, 28.06.2006

Auf der Medienseite berichtet Alfred Hackensberger über eine Neuerung in arabischen Medien: Nach den Nachrichtensendern haben sich in der arabischen Welt nun auch Popmusikkanäle etabliert, die für ihr Zielpublikum - etwa 300 Millionen Muslime, die im Mittleren Osten und Nordafrika leben - rund um die Uhr Videoclips zeigen. Ihr Erfolgsrezept: westliches Konzept, orientalische Inhalte. So beinhalte "die Inszenierung der Videos immer arabische Elemente, sei es nur Bauchtanz oder einen Plot arabischer Provenienz. Die Ästhetik erinnert sehr oft an Rapvideos mit Luxusambiente im Hotel, einer Villa, am Strand, dazu Statussymbolen von teuren Autos bis Uhren. Die Texte sind in der Regel so einfach, dass sie überall verstanden werden, obwohl es oft von Land zu Land verschiedene Dialekte gibt. Vorreiter für einen allgemein verständlichen Code waren und sind die stets präsenten ägyptischen Filme, die als panarabische Sprachschule fungieren."

Auf den Kulturseiten stellt Michael Nungesser die private Kunstsammlung Daros vor, die als Aktiengesellschaft organisiert ist und neben Werken aus dem abstrakten Expressionismus, der Pop und Minimal Art inzwischen gezielt auch rund 1.000 Arbeiten lateinamerikanischer Kunst aus den letzten zwanzig Jahren gesammelt hat; derzeit ist in Zürich von Daros-Latinamerica die Ausstellung "Seducoes" mit dem Schwerpunkt Brasilien zu sehen.

Besprochen werden Werner Herzogs Dokumentarfilm "Grizzly Man", der in Deutschland nur auf DVD zu sehen ist, und Amartya Sens Buch "Identity and Violence" (eine Zusammenfassung seiner Thesen finden Sie in einem Aufsatz, den Sen in The New Republic veröffentlichte, mehr zur Buchkritik in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr)

Schließlich Tom.

Welt, 28.06.2006

Godfrey Barker und Gerhard Charles Rump berichten von einem Gerichtsurteil in den Niederlanden, dass die Restitution der Kunstsammlung Koenigs verfügte. Zur Sammlung gehören Werke von Leonardo, Raffael, Dürer, Cranach, Holbein, Rubens, van Dyck, Rembrandt, Watteau, Fragonard und Cezanne, die heute zum Teil im Museum Boijmans Van Beuningen in Rotterdam hängen. "Das Gericht verweigert der niederländischen Regierung den Status als Eigentümer von durch die Nazis abgepresster Kunst, und es wies ihr die Rolle als Vermittler bei der Rückführung an die rechtmäßigen Eigentümer zu, wobei explizit aufgetragen wurde, die Befriedigung der Ansprüche unkompliziert zu gestalten. Das Gericht wies auch den Minister für Erziehung und Kultur an, die Restitution innerhalb von drei Monaten durchzuführen und die Gerichtskosten von Christine Koenigs zu übernehmen." Der Wert der Sammlung wird auf insgesamt eine Milliarde Euro geschätzt. Ein Teil liegt allerdings in Russland.

Weitere Artikel: Uwe Schmitt stellt die Kolumnistin Ann Coulter vor, die für die Rechte sei, "was Michael Moore für Amerikas Linke ist". Hendrik Werner ist nicht überrascht, dass ein in der Florentiner Riccardi-Bibliothek aufgefundenes Textkonvolut über die Liebe nun Boccacchio zugeschrieben worden ist. Im Streit um die Rede des Papstes in Auschwitz antwortet Konrad Adam auf den letzten Text von Daniel Goldhagen (mehr über den Streit hier, hier, hier und hier). Thomas Brussig ärgert sich in seiner WM-Kolumne über den russischen Schiedsrichter Iwanow im Spiel Portugal gegen die Niederlande. Peter Zander gratuliert Mel Brooks zum Achtzigsten. Nach dem Tod Brunos ortet Matthias Heine noch mehr Problembären. Einer AFP-Meldung entnehmen wir, dass der staatliche türkische Fernsehsender TRT vor wenigen Tagen einen Lizenzvertrag für Zeichentrickserien und -filme von Walt Disney unterzeichnet hat. Nur "Winnie Puuh" wurde ausgeschlossen, weil sein Freund ein Ferkel ist.

Im Magazin spricht Anna Netrebko im Interview über Liebesszenen, die russische Seele und Gewichtsprobleme.

Besprochen werden eine Aufführung von Mozarts Oper "Finta semplice" im Bockenheimer Depot in Frankfurt und die Ausstellung "Die Eroberung der Straße" in der Frankfurter Schirn.

FAZ, 28.06.2006

Michael Lentz schimpft in seiner WM-Kolumne: "Die beschissenst spielende Mannschaft der WM kommt weiter!" Und "ausgerechnet der gefönte Oberschüler Totti, die spuckende Nuckelpinne", den er dann mit einer Dante-Variation in die Hölle expediert.

Im Aufmacher tritt Christian Geyer für die Idee des Familiensplittings, statt des bisherigen Ehegattensplittings ein. Patrick Bahners lauschte einer Anhörung des Bundestags über die Zukunft des Goethe-Instituts, bei der auch Redakteure dieser Zeitung ihr Fachwissen einbringen konnten. In der Leitglosse kommentiert "hd" ein Interview der Richard-Wagner-Urenkelin Nike Wagner, die in einem Cicero-Artikel mal wieder die Festivalpolitik des in Bayreuth regierenden Familienzweigs kritisierte. Der Demograf Herwig Birg korrigiert auf einer Seite einige Missverständnisse über die demografische Entwicklung des "unterjüngten" Deutschland und warnt davor, die Augen vor der tatsächlich dramatischen Lage zu verschließen. Michael Althen gratuliert dem Komiker Mel Brooks zum Achtzigsten. Jordan Mejias fragt sich, was die Melinda-und-Bill-Gates-Stiftung nach der Schenkung von Warren Buffett mit all dem Geld anfangen sollen - insgesamt muss die Stiftung nun drei Milliarden Dollar jährlich ausgeben. Regina Mönch meldet, dass die Berliner Hoover-Schule, die Deutsch als Pausenhofsprache einführte, den Nationalpreis der Nationalstiftung erhalten wird.

Auf der Medienseite berichtet Michael Hanfeld über Druck der baden-württembergischen Regierung auf Stuttgarter Journalisten, die die Quellen einer missliebigen Recherche preisgeben sollen. Und Felix Johannes Krömer untersucht allen Ernstes die Frage, warum Männermagazine nicht über Familie diskutieren.

Auf der letzten Seite erzählt Lisa Zeitz die Geschichte des Gemäldes "Landhaus an einem Fluss" des niederländischen Barockmalers Jan van der Heyden, das im Städel hing und nun an die Nachkommen der jüdischen Familie, der es ursprünglich gehörte, zurückgegeben wurde. Lorenz Jäger kommentiert einen Brief der RAF an die Führer Nordkoreas aus dem Jahr 1971, den Wolfgang Kraushaar in der jüngsten Ausgabe der Zeitschrift Mittelweg 36 präsentiert. Und Martin Thoemmes porträtiert den ehemaligen SPD-Star Björn Engholm, der sich jetzt als Impresario betätigt.

Besprochen werden Jafar Panahis Fußballfilm "Offside" über die Geschlechter-Apartheid in iranischen Fußballstadien, Calixto Bieitos "Wozzeck"-Inszenierung in Hannover und das Opernprojekt "Unterwegs", das die koreanische Komponistin Younghi Pagh-Paan gemeinsam mit Studierenden in Bremen entwickelte, und ein Konzert der Strokes in Köln.

FR, 28.06.2006

Suhrkamp-Chefin Ulla Unseld-Berkewicz gratuliert im Aufmacher dem ungarischen Theaterwissenschaftler, Kritiker und Intendanten Ivan Nagel (mehr) zum 75. Geburtstag; während dessen Leitung des Deutschen Schauspielhauses in Hamburg war Berkewicz dort Schauspielerin und Übersetzerin. Sie würdigt Nagel ("Außenseiter, Einzelgänger, Reizfigur, jüdisch und schwul und frei") als unverzichtbar und dankt ihm, dass "er vor über 50 Jahren in dieses Land gekommen und dass er hier geblieben ist. Durch seine reiche Gegenwart erkennt man, dass Deutschland sich gegen sich selbst verging, dass es sich selber fehlt durch den Verlust an jüdischem Geist, und man nimmt wahr, dass Ivan Nagel mit seiner schönen Einzelnheit mehr als nur einer den Geist verkörpert, an dem es uns seither gebricht."

Weitere Artikel: Harry Nutt resümiert eine Veranstaltung, auf der sieben Experten im Unterausschuss für Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik des deutschen Bundestages ihre Statements zur Lage des Goethe-Instituts abgaben. Nutts Resümee: "Goethes Zukunft wird nicht in diesem bisweilen arg unkonzentriert wirkenden Unterausschuss, sondern im Haushaltsausschuss ausgespielt". Und in Times mager denkt Peter Michalzik über deutsche Tugenden nach.

Besprochen werden die Ausstellung zu Rembrandts Landschaften im Kasseler Schloss Wilhelmshöhe, eine Inszenierung der Strauss-Oper "Ariadne auf Naxos" im Staatstheater Kassel, eine Präsentation von WM-Bildbänden in der Deutschen Bibliothek und Bücher, darunter Luigi Pirandellos früher Roman "Einer nach dem anderen" und der Text-Bildband "Der Tod" von Günter Herburger (siehe hierzu unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

NZZ, 28.06.2006

Almuth Schellpeper berichtet von der südafrikanischen Buchmesse Cape Town Book Fair: "In Südafrika existiert noch keine sehr ausgeprägte Lesekultur. Einer der Gründe dafür liegt in der mangelhaften Bildung eines großen Teils der Bevölkerung - eine Altlast aus der Zeit der Apartheid. Der schwarzen Bevölkerung wurde damals nur sehr begrenzt Zugang zu Information und Bildung gewährt; dementsprechend bedienten die Verleger hauptsächlich die weiße Leserschaft, während die spezifischen Bedürfnisse eines großen schwarzen Marktes weitgehend unberücksichtigt blieben." Der Sunday Times Literary Award ging übrigens an Andrew Brown für seinen Roman "Coldsleep Lullaby".

Zum 75. Geburtstag des Theaterwissenschaftlers und Intendanten Ivan Nagel druckt die Zeitung (nicht online) einen kurzen Auszug aus dessen Erinnerungen an den Schauspieler Louis Jouvet: "Jouvet war der grausamste Schauspieler, den ich kennen gelernt habe. Er (als Lehrer, Regisseur ein Gütiger) monumentalisierte Dummheit zum Fluch des Menschengeschlechts: die Dummheit der Gewinner und der Verlierer, der Metzger und der Niedergemetzelten. Spielte er Moliere, hörte man Knochen splittern."

Besprochen werden eine Ausstellung über den Jugendstil im Musee des Beaux-Arts in La Chaux-de-Fonds und Bücher, darunter Robert O. Paxtons Studie "Anatomie des Faschismus", Milos Vec' Abhandlung "Recht und Normierung in der Industriellen Revolution" und Ursula Krechels Gedichtband "Mittelwärts" (mehr in unserer Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).

Berliner Zeitung, 28.06.2006

Mit Schrecken stellt Ralf Schenk fest, dass immer mehr Menschen immer weniger Ahnung von Filmgeschichte haben: Bei jungen Zuschauern gelten schon "Sonnenallee" oder "Good Bye, Lenin!" als Kinoklassiker, stöhnt Schenk. Noch schlimmer findet er die Ergebnisse einer Umfrage, die die Zeitschrift Cinema zu den hundert besten Filmen aller Zeiten unter 22.239 Lesern durchgeführt hat: "Dass auf dem ersten Platz 'Herr der Ringe' landete, mag mit der Jugendlichkeit des Lesepublikums zu tun haben; einen Film wie 'Fluch der Karibik' auf den dritten Platz zu hieven, lässt an der Qualifikation der Zuschauer zweifeln. Im übrigen kennt die Rangliste fast nur Hollywood; der erste nichtamerikanische Film, Sergio Leones 'Spiel mir das Lied vom Tod', landet abgeschlagen auf Platz 24. Deutsches Kino sucht man hier ebenso vergebens wie japanisches, lateinamerikanisches oder indisches, russisches oder polnisches. Kein Stummfilm, ja fast überhaupt kein Film, der älter ist als dreißig Jahre."

SZ, 28.06.2006

Wolfgang Schreiber berichtet über einen Beitrag von Nike Wagner für die Juli-Ausgabe der Zeitschrift Cicero. Die Urenkelin des Komponisten, Leiterin des Kunstfests Weimar, stellt eine "für das Bayreuther System unbotmäßige Frage" nach der Berechtigung der hohen Subventionen für die Festspiele . Diese, so Wagner, seien "jahrein, jahraus beschäftigt mit der Reproduktion der eigenen Mythe" und "erstarrt ab den siebziger Jahren in Routine und Modernismus". Ihre Schlussfolgerung, eine Textpassage, der Schreiber "einige Sprengkraft" zuschreibt, lautet: "Einzusehen ist jedenfalls schwerlich, dass dieses über Jahre hinaus überbuchte und risikofrei arbeitende Haus weiterhin Millionen öffentlicher Gelder erhält, anstatt seine Kartenpreise zeitbedingt hinaufzuschrauben und die öffentlichen Gelder für bedürftige kulturelle Institutionen, Festivals und Städte freizumachen."

Weitere Artikel: Johan Schloemann beschreibt die üppige Neugestaltung der Ny Carlsberg Glyptotek in Kopenhagen anlässlich ihres 100jährigen Bestehens. Siggi Weidemann meldet die Zerstörung eines Gemäldes von Bartholomeus van der Helst im Amsterdamer Rijksmuseums. Außerdem berichtet Weidemann über eine Forderung des niederländischen Parlaments nach freiem Eintritt in alle staatlichen Kunstsammlungen. Stefan Koldehoff meldet den Ankauf von 55 seit über 70 Jahren verschollenen Van-Gogh-Briefen durch das Van-Gogh-Museum in Amsterdam. Und ein Bericht informiert uns über eine Anhörung im Bundestag zur Zukunft der Goethe-Institute: Die Sachverständigen vermissten "eine kulturell definierte Zweckbestimmung". Fritz Göttler gratuliert Mel Brooks zum Achtzigsten.

Besprochen werden Jafar Panahis Film "Offside" über weibliche Fußballfans im Iran, die nicht ins Stadion dürfen, die Ausstellung "Dresden 8000 - Eine archäologische Zeitreise" im Dresdner Landesmuseum für Vorgeschichte, das Wiener Auftaktkonzert der ersten Europatournee nach acht Jahren von Billy Joel, ein Konzertabend mit Lang Lang und Susanne Mälkki bei den Münchner Philharmonikern und Bücher, darunter Julien Greens früher Erzählband "Fremdling auf Erden" und eine Studie über Gottfried Benn als Zeitzeugen 1929 - 1949 (siehe unsere Bücherschau des Tages ab 14 Uhr).